Читать книгу Die Ministerpräsidentin - Tore Tungodden - Страница 5

2. kapitel

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Wenn du zu Hause vor dem Fernseher sitzt, sieht das, was in einem Fernsehstudio passiert, fast ganz normal aus. Der Moderator ist meistens schön angezogen. Die Wände haben tolle Farben, aber ansonsten könnte es fast bei dir zu Hause sein.

Die meisten Leute, die im Fernsehen auftreten, sehen auch aus, als wären sie da zu Hause. Sie wissen genau, was sie sagen wollen und wann sie das sagen sollen. Hast du schon mal im Fernsehen Leute dermaßen stottern gehört, dass sie sich nicht trauen, etwas zu sagen? Und dass sie vielleicht ihre Mutter oder ihren besten Freund anrufen müssen, um sich Rat zu holen? Hab ich mir gedacht. Es kommt auch nicht oft vor, dass die Frau vom Wetterbericht erzählt, dass sie keine Ahnung hat, wie morgen das Wetter sein wird, oder dass die Ansagerin die Nachrichten ankündigt, während sie doch eigentlich sagen sollte: »Willkommen zur Kinderstunde«. Wenn du aber selbst da sitzt, ist das ganz anders, das kann ich dir sagen!

An den letzten Tagen vor der Fernsehsendung hatte Papa viel mit denen geredet, die die Partei Stimme der Zukunft gegründet hatten. Sie sagten, ich solle einfach ich selbst sein. Ich fand das ein bisschen komisch, denn wie konnten sie so was sagen, wo sie mich doch gar nicht kannten? Aber Papa sagte, er habe ihnen genau erzählt, wie ich bin, und deshalb hätte ich keinen Grund zur Sorge. Die Parteileute meinten außerdem, dass Kinder selbst am besten Bescheid wüssten. Deshalb wollten sie ja auch ein Kind als Ministerpräsidenten oder Ministerpräsidentin haben.

»Aber ich hab doch noch nie so eine Diskussion von Parteivorsitzenden gesehen«, sagte ich.

»Davor brauchst du keine Angst zu haben«, sagte Papa und lächelte. »Das ist einfach nur eine Fernsehsendung, die kurz vor der Wahl ausgestrahlt wird. Die Vorsitzenden aller Parteien treffen sich, um über die wichtigsten Themen zu sprechen, bevor die Leute entscheiden, wem sie ihre Stimme geben wollen.«

»Und ich soll also die Vorsitzende von der Stimme der Zukunft sein?«

»Chop-stop. Das sollst du. Meine Tochter soll den Fernsehzuschauern erzählen, warum sie die Stimme der Zukunft wählen sollen.«

Am Tag vor der Sendung gingen Papa und ich neue Kleider für mich kaufen.

»Jetzt, wo das ganze Land dich sehen wird, kannst du dir aussuchen, was dir am besten gefällt.«

Es fiel mir gar nicht schwer, mich zu entscheiden. Ich suchte mir eine tolle glitzernde Hose mit Silbersternen auf dem linken Oberschenkel und eine schwarze Bluse mit einer großen rosa Blume aus. Damit war ich perfekt angezogen!

Dachte ich, bis ich ins Fernsehgebäude kam.

Im Zimmer vor dem Studio wartete der Moderator Stängel. Weil er so hieß, hatte ich mir einen Quatschkopf im T-Shirt vorgestellt, aber Stängel trug einen eleganten dunklen Anzug und einen Schlips. Um ihn herum standen die Parteivorsitzenden, die an der Diskussion teilnehmen sollten. Auch sie waren elegant angezogen, im Kleid oder Anzug. Nirgendwo waren Silbersterne oder rosa Blumen zu sehen.

Wir wurden nebeneinander an einen langen Tisch gesetzt, auf den alle Fernsehkameras gerichtet waren. Ich musste ganz links sitzen. Vielleicht würden die Kameras mich nicht einfangen, wenn ich mich auf meinem Stuhl ganz klein machte? Vielleicht würden sie einfach über meinen Kopf fegen, und dann würde niemand mitkriegen, dass ich im Fernsehen war? Aber das sollte ein Traum bleiben. Die Sendung fing an, und Stängel – oder Stein Andersen, er hatte auch einen richtigen Namen – hieß alle willkommen.

»Bald wird in unserem Land gewählt, meine Damen und Herren.«

Wenn Stängel in die Fernsehkameras redete, hörte er sich an wie eine Schlange, die versucht, freundlich zu klingen, ehe sie zuschnappt und ihr Gift verspritzt. Es war also keine besonders angenehme Stimme, sie war eher einschmeichelnd, so wie Erwachsene gern mit Kindern sprechen, wenn sie versuchen, nett zu sein.

»In einigen Tagen wird Ihre Stimme entscheiden, wer in den kommenden vier Jahren das Land regiert. Und die Wahl in diesem Jahr hat eine kleine Überraschung zu bieten. Oder eher eine riesige Überraschung, müssen wir wohl sagen. Die Partei Stimme der Zukunft hat die zehn Jahre alte Hannah Fredriksen als Spitzenkandidatin aufgestellt. Höhö, ja, Sie haben richtig gehört.«

Stängel grinste in die Kameras.

»Es gibt dabei allerdings ein paar kleine Haken. Hannah ist zu klein, um zu wählen, zu klein, um eine richtige Arbeit zu haben, und sie müsste eigentlich schon im Bett liegen. Höhö.«

Ich merkte, dass meine Wangen heiß wurden.

»Aber da ich das nicht zu entscheiden habe«, sagte Stängel jetzt, »fangen wir also lieber mit der Diskussion an und fragen zuerst die Anwesenden, was sie von dieser aufsehenerregenden Entscheidung halten.«

Danach fragte er die Parteivorsitzenden der Reihe nach nach ihrer Ansicht. Das Seltsame war, dass sie alle keine Lust hatten, in irgendeiner Hinsicht anderer Meinung zu sein. Als Erster antwortete der Ministerpräsident. »Das ist eine sehr interessante Frage«, sagte er und lächelte mich an, als ob er soeben einen verschimmelten Käse im Kühlschrank gefunden hätte. »Wir leben in einer demokratischen Gesellschaft, wo alle mitbestimmen dürfen. Ich kann also zunächst einmal keinen Grund dafür anführen, warum die Stimme der Zukunft und Anna, Verzeihung, Hanne, zur Wahl nicht zugelassen werden sollten. Eine ganz andere Frage ist natürlich, ob ich das für eine gute Idee halte.«

Ein anderer Mann sagte, er habe gelesen, dass in den USA eine Grünpflanze zu einer Wahl angetreten sei, und dann müsse es doch gestattet sein, dass hierzulande kleine Mädchen das machten. Als jemand lachte, war ihm das peinlich, und er erklärte, er wolle natürlich Mädchen nicht mit Pflanzen vergleichen, sondern nur sagen, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gebe als gemeinhin angenommen. Und da lachten die Leute wieder.

Ein Mann mit Ziegenbart und verschlafener Stimme fand es vor allem wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Rednertribüne im Parlament so hoch war, dass mich niemand sehen würde, wenn ich da eine Rede hielte. Ein anderer, der ziemlich traurig aussah, hielt es für ein »konstitutionelles Problem«, das jahrzehntelang reifen müsse, ehe das Grundgesetz geändert werden könne.

Eine Frau, die laut und schnell redete, hielt Kinder für unseren wichtigsten Rohstoff. Und gerade deshalb müssten Hannah und alle anderen Kinder so lange wie möglich Kinder sein dürfen. Ich fand das ein bisschen komisch, schließlich kann doch kein Mensch einem Kind verbieten, ein Kind zu sein.

Jedenfalls wollte niemand ganz offen sagen, dass es blödsinnig wäre, Kinder bestimmen zu lassen. Ich hatte aber trotzdem das Gefühl, dass alle diese Idee ebenso sinnvoll fanden wie den Vorschlag, mit Geldscheinen ein Kaminfeuer anzuzünden.

Aber irgendwann schienen die Politiker es dann sattzuhaben, über Kinder zu reden. Stattdessen diskutierten sie über andere politische Fragen, Arbeitsplätze, Straßen, Benzinpreise, Steuerniveau, Krieg und Frieden. Sie unterbrachen sich gegenseitig, schrien sich an und benahmen sich so, wie wir das in meiner Klasse in der Schule nie und nimmer gedurft hätten.

Mir war das egal, denn sie schienen mich komplett vergessen zu haben. Außerdem verstand ich höchstens die Hälfte von dem, was sie sagten. Ich hatte zum Beispiel keine Ahnung, was Wörter wie prioritieren, effektivisieren oder marginalisieren bedeuten. Es hörte sich fast an, als ob es etwas mit Essen zu tun hätte, aber sicher war ich da nicht, und deshalb saß ich mäuschenstill da und hoffte, dass die Sendung bald zu Ende sein würde.

Aber Stängel hatte mich offenbar nicht vergessen. Plötzlich drehte er sich zur Kamera um und sagte: »Wir haben jetzt die unterschiedlichen Meinungen unserer etablierten Politikerinnen und Politiker gehört, aber ich glaube, meine Damen und Herren, dass nun auch unsere jüngste Teilnehmerin zu Wort kommen sollte. Was glaubst du, Hannah, was würdest du verändern, wenn du die Möglichkeit hättest, zu bestimmen?«

Er stellte diese Frage so, als ob es lächerlich wäre zu glauben, ich könnte irgendetwas zustande bringen, das schwieriger wäre als mir die Schnürsenkel zuzubinden.

Während die Parteivorsitzenden diskutierten, hatte ich mir glücklicherweise überlegt, was ich sagen wollte, wenn ich doch noch irgendetwas gefragt würde. Mein Kopf war eigentlich ein schwarzes Loch, aber dann fiel mir ein, was ein Lehrer mal in einer Stunde gesagt hatte, nämlich, dass es wichtiger ist, von anderen zu lernen als von sich selbst.

Ich holte tief Luft und versuchte, das erste Wort für meinen ersten Satz zu finden. Meine Stimme kam mir vor wie die einer kleinen Maus, die versucht, einem Elefanten etwas zu erklären.

»Alle Kinder können von Erwachsenen viel lernen«, sagte ich. »Das Problem ist, dass Erwachsene aufhören zu lernen, wenn sie erwachsen sind, denn dann glauben sie, alles zu wissen. Ihr schafft es auch so gut wie nie, voneinander zu lernen, weil ihr immer meint, alles am besten zu wissen. Aber es muss doch möglich sein, voneinander zu lernen.«

Danach sagte niemand mehr etwas. Ich versuchte, mich umzublicken, aber die grellen Scheinwerfer sorgten dafür, dass ich gar nichts sehen konnte. Dann räusperte Stängel sich, bedankte sich bei den Zuschauern und wünschte ihnen eine schöne Wahl.

Die Parteivorsitzenden sagten mir nach der Sendung allesamt nicht auf Wiedersehen und bedankten sich auch nicht für mein Kommen, aber das war mir nur recht.

Stängel war in ein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten vertieft und schien sich auch nicht mehr für mich zu interessieren. Ich hatte dasselbe Gefühl wie an dem Tag, an dem wir in unser neues Haus eingezogen waren. Als Erstes lief ich auf die Straße, um jemanden zum Spielen zu finden. Viele hatten den Möbelwagen gesehen und wollten jetzt wissen, wie ich hieß und woher ich kam, aber als sie das erfahren hatten, gingen sie einfach wieder, ohne zu fragen, ob ich mitkommen wolle.

Ich bekam von Papa eine Limo und einen Kuss, als ich aus dem Studio kam, und als wir nach Hause fuhren, sagte er, ich hätte das ganz toll gemacht. Aber ich kenne doch Papa. Wenn ich ganz toll gewesen wäre, wäre er wie ein Jojo auf und ab gehüpft. Ich hatte mich sicher blamiert.

Es war schrecklich unheimlich gewesen, aber auch ein bisschen spannend. Es war so, wie auf Skiern einen ganz steilen Hang hinunterzufahren. Wenn man erst einmal losgelegt hat, weiß man, dass es unmöglich ist kehrtzumachen.

Aber jetzt war es vorbei. Am nächsten Tag musste ich in die Schule gehen, und da würde alles wie immer sein. Oder schlimmer. Bestimmt hatten einige die Sendung gesehen und mitgekriegt, dass ich so gut wie nichts gesagt hatte. Das hier war zweifellos mal wieder eine von Papas nicht ganz so großartigen Ideen. Gar nicht schlecht gedacht, vielleicht, aber eben nicht machbar. Ich hatte nichts Besonderes zu sagen. Ich war nicht alt genug, um Ministerpräsidentin zu werden. Und ich war nicht einmal sicher, ob ich das überhaupt wollte.

Die Ministerpräsidentin

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