Читать книгу Die Ministerpräsidentin - Tore Tungodden - Страница 7

4. kapitel

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Dieser seltsame Schultag war zu Ende, und wie meistens trottete ich allein vom Schulhof und machte mich auf den Heimweg. Ich war gerade um die erste Ecke gebogen, als mir von der anderen Straßenseite her ein wildfremder Mann zuwinkte.

»Hallo, Hannah! Weiter so«, sagte der Mann.

Ehe ich mir die Sache genauer überlegen konnte, tätschelte eine ältere Dame meinen Arm.

»Auf meine Unterstützung kannst du zählen«, sagte sie. »Und jetzt kommt es darauf an.« Ich war total verwirrt. Wie meinte sie das wohl? Und warum schienen mich alle plötzlich zu kennen?

So ging es den ganzen Heimweg über weiter. Die Leute winkten und lächelten. Einige sprachen mich an und sagten, ich hätte völlig recht mit dem, was ich zu den Parteivorsitzenden gesagt hatte. Also hatten mich doch einige Leute im Fernsehen gesehen, und offenbar hatte ihnen gefallen, was sie gesehen hatten.

Als ich schon fast zu Hause war, sah ich mich auf der anderen Straßenseite. Da hing ein riesiges Bild von meinem Gesicht, wo sonst riesige Reklameplakate aufgehängt waren. Unten auf dem Plakat stand:

»Wählt die Stimme der Zukunft – unserem Land zuliebe.«

Als Papa einige Stunden darauf von der Arbeit kam, schäumte er geradezu über.

»Dreht die Nachrichten an«, brüllte er. »Dreht die Nachrichten an!«

Wir schalteten den Fernseher ein, aber es war fünf Uhr nachmittags, und da kamen natürlich keine Nachrichten.

»Papa, es gibt jetzt keine Nachrichten«, sagte ich. »Die kommen erst in zwei ...«

Weiter kam ich nicht, denn plötzlich wurde die Sendung unterbrochen, und ein Ansager füllte den ganzen Bildschirm aus:

»Wir unterbrechen unser reguläres Programm für eine Sondersendung zur bevorstehenden Wahl. Bekanntlich hat die Partei Stimme der Zukunft die zehn Jahre alte Hannah Fredriksen als Spitzenkandidatin aufgestellt. Die meisten Wahlexperten halten das für einen Witz. Vor allem, da Kinder unter achtzehn weder aktives noch passives Wahlrecht besitzen. Aber jetzt hat sich herausgestellt, dass ein Teil der Bevölkerung anderer Ansicht ist. Meinungsumfragen bestätigen, dass viele, die gestern Abend die Diskussion der Parteivorsitzenden gesehen haben, Hannah Fredriksen für eine geeignete Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin halten. Wir riskieren also eine Wahl, bei der die vom Volk gewünschte Kandidatin nicht gewählt werden kann. Unser Reporter Stein Andersen hat deshalb den Ministerpräsidenten gefragt, ob unter diesen Umständen nicht das Grundgesetz geändert werden müsste.«

Nun wurde die Staatskanzlei gezeigt, und Stängel interviewte einen überaus ernsten Ministerpräsidenten.

»Herr Ministerpräsident, wie reagieren Sie auf die Nachricht, dass viele gern die zehn Jahre alte Hannah Fredriksen als Ministerpräsidentin sähen?«

»Es ist vor allem ein wichtiges Signal für uns Erwachsene, Kinder und Jugendliche ernstzunehmen«, sagte der Ministerpräsident, dem es schwerfiel, gerade in die Kamera zu schauen.

»Aber bedeutet das nicht, dass auch ein Kind dieses Amt erringen können müsste?«

»Na, ein Kind kann doch nicht für das ganze Land verantwortlich sein«, murmelte der Ministerpräsident.

»Aber wenn die Bevölkerung das so will?«

»Es ist schwer vorstellbar, dass das wirklich ein allgemeiner Wunsch ist.«

Der Ministerpräsident schien am ganzen Körper Schmerzen zu haben.

»Aber würden Sie als Ministerpräsident die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Bevölkerung nicht selbst entscheiden darf?«

Stängel grinste den Ministerpräsidenten hämisch an, und der schien sich zu wünschen, plötzlich unsichtbar zu sein. Aber dann änderte sich sein Gesichtsausdruck. Offenbar war ihm ein sehr kluger Gedanke gekommen, der ihn aus dieser schrecklichen Klemme retten konnte.

»Das kann ich nicht allein entscheiden«, sagte er. »Das ist eine Frage für das Parlament. Ich habe deshalb beschlossen, morgen früh das Parlament zu einer Sondersitzung zusammenzurufen. Wenn eine Mehrheit der Abgeordneten dafür ist, dass auch Kinder die Regierung leiten dürfen, wird die Stimme der Zukunft an der Wahl teilnehmen können.«

Die Kamera zeigte jetzt wieder Stängel in Großaufnahme.

»Nach dieser sensationellen Ankündigung schalten wir zurück ins Studio«, sagte er.

Der Nachrichtensprecher fasste mit überaus ernster Stimme zusammen: »Die Mitteilung des Ministerpräsidenten bedeutet, dass wir vor einem historischen Augenblick stehen. Das hier könnte der erste Schritt zur Wahl einer Minderjährigen zur Ministerpräsidentin sein. Wir werden die Ereignisse der nächsten Tage mit Spannung verfolgen und Sie gegebenenfalls mit Sondersendungen dazu informieren.«

Papa schaltete den Fernseher aus. Plötzlich merkte ich, dass mein Mund weit offen stand. Das tat er sicher schon lange. Ich hatte nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was da gesagt worden war, aber ich hatte doch begriffen, dass es total unglaublich war. Tausend Millionen Fragen wirbelten durch meinen Kopf. Ich hoffte wirklich, dass Papa einige davon beantworten konnte.

»Was meinen sie mit Grundgesetz, Papa?«, fragte ich.

»Chop stop«, sagte Papa, dann nahm er Anlauf und machte eine elegante Bauchlandung mitten auf dem Sofa.

»Die Constitution für das Königreych Norwegen«, rief er. »Das ist das Gesetz, das alles hier im Land bestimmt und das jetzt geändert werden wird. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass du bald zur Ministerpräsidentin gewählt werden kannst.«

Mama, die die Sendung ebenfalls gesehen hatte, sah sehr viel ernster aus.

»Ich glaube nicht, dass das so einfach ist, mein Lieber«, sagte sie und sah Papa an. »Vergiss nicht, wer im Parlament sitzt. Ich glaube nicht, dass die Lust auf so eine Änderung haben. Deshalb ist der Ministerpräsident doch zu dieser Abstimmung bereit. Er weiß, dass sie die Änderung ablehnen werden. Der Ministerpräsident ist raffinierter, als wir glauben.«

Das hatte ich ja gewusst. Mama redet weniger als Papa, denkt aber mehr. Natürlich hatte sie recht. Das waren doch die Leute, denen ich bei der Diskussion der Parteivorsitzenden begegnet war, und es war einfach unmöglich, dass die das Gesetz so ändern würden, dass Kinder bestimmen dürften. Und vielleicht war das im Grunde auch besser so, denn ich fand die Angelegenheit inzwischen ganz schön unheimlich.

Das Telefon klingelte. Es war Fred.

»Hast du eben die Sondersendung gesehen, Hannah? Fette Kiste, was? Das kommt schon in Ordnung.«

»Das glaube ich nicht. Mama sagt, das Parlament wird nein sagen, und da hat sie sicher recht.«

»Aber ich habe einen ganz unglaublich einfachen und genialen Plan«, brüllte Fred.

»Tausend Dank, aber ich glaube nicht, dass das hilft.«

»He-he, warte nur ab, Hannah. Das wird megafett!«

»Aber wie sieht dein Plan denn aus, Fred? Hallo, Fred?«

Ich blieb noch lange mit dem Hörer in der Hand stehen, dabei hatte Fred schon längst aufgelegt. Er hatte sicher keine Zeit zu verlieren, wenn er seinen Plan in die Tat umsetzen wollte.

Es war lustig, mit Fred zusammen zu sein. Er dachte sich immer große Pläne aus, und ihm gelangen die unglaublichsten Dinge. Einmal hat er in einer Stunde zweihundert Kronen verdient, er hat sich einfach auf den Marktplatz gestellt und Gedichte aus einem Buch vorgelesen, das seine Großmutter ihm geschenkt hatte. Viele Erwachsene waren hin und weg gewesen von dem Jungen, der mit ernster Stimme alte Gedichte vortrug. Sie gaben ihm Geld, und Fred lächelte und machte einen Diener und sagte: »Vielen Dank, jetzt kann ich mir noch ein Buch kaufen!«

Danach kauften wir alle Kaugummikugeln im ganzen Laden auf.

So war Fred. Er hatte immer schon einen Plan, ehe ich mir die Sache überhaupt überlegt hatte, und eine Lösung, ehe ich das Problem begriffen hatte. Jetzt hatte ich aber doch das Gefühl, dass nicht einmal Fred einen Plan ersinnen könnte, der mir jetzt weiterhelfen würde.

Wieder klingelte das Telefon. Ich dachte, es sei noch einmal Fred, aber dann fragte eine unbekannte Männerstimme nach Hannah Fredriksen. Der Mann nannte seinen Namen und erzählte, dass er aus der Nachrichtenredaktion von Norwegens größter Zeitung anrief. Und jetzt wollte er uns besuchen und mit mir sprechen.

»Also hör zu, Hannah«, sagte er und hörte sich an wie ein alter Bekannter. »Ich bringe Schokolade mit, und dann mache ich ein Bild, auf dem du die Schokolade vorzeigst, und die Überschrift könnte sein: ›Gratisschokolade für alle Kinder, wenn ich Ministerpräsidentin werde.‹ Das wäre doch toll, nicht?«

»Ich habe nie gesagt, dass Süßigkeiten gratis sein sollten«, sagte ich und legte auf.

Papa sprang vom Sofa auf. »Wer war das?«, rief er.

»Nur so ein Trottel«, sagte ich, aber schon klingelte das Telefon wieder.

»Ich geh ran«, sagte Papa. »Es ist wichtig, dass wir erreichbar sind, damit alle erfahren, wer du bist, Hannah.«

»Ich will nichts sagen.«

»Aber das musst du doch!«, sagte Papa verzweifelt.

»Nein, das muss sie nicht«, schaltete Mama sich ein. »Hannah ist groß genug, um allein zu entscheiden. Jedenfalls wenn sie Ministerpräsidentin werden soll.«

Papa seufzte und nahm den Hörer ab.

»Fredriksen«, sagte er, sehr streng für seine Verhältnisse.

Er wusste also, dass er einen Nachnamen hatte.

»Nein, sie ist jetzt nicht zu sprechen. Nein, sie möchte keinen Kommentar abgeben. Ja, wir wissen, dass Sie von Norwegens größter Zeitung anrufen. Ja, natürlich können Sie schreiben, was Sie wollen. Auf Wiederhören!«

»Norwegens größte Zeitung«, sagte Papa und lächelte traurig, als er aufgelegt hatte.

In diesem Moment tat er mir fast leid. Papa liebte Aufmerksamkeit und genoss es, mit aller Welt über alle Welt zu reden. Ich redete lieber mit Fred.

»Ich tauge nicht als Ministerpräsidentin, Papa«, sagte ich. »Das musst du doch einsehen. Ich bin zu klein und habe nichts zu sagen. Ich weiß ja nicht mal, was eine Ministerpräsidentin tun muss.«

Papa sah mich einige Sekunden lang an, und als er antwortete, wirkte er sehr ernst.

»Hannah, es ist unglaublich schwierig, so ein Amt auszufüllen, auch wenn man erwachsen ist. Es ist vielleicht der schwerste Beruf, den es überhaupt gibt. Es ist sicher nicht so dumm von dir zu glauben, dass du nicht alles weißt, wenn der Job so schwierig ist, meinst du nicht?«

Was Papa meinte, war wohl, dass es nicht so blöd ist, sich vorher klarzumachen, dass etwas schwierig sein kann. Wenn du nicht genau weißt, ob du das schaffen kannst, gibst du dir einfach besonders große Mühe. Ich vermutete aber trotzdem, dass er das vor allem gesagt hatte, weil er sich nicht überlegt hatte, wie schwierig es für ein Kind sein muss, eine gute Ministerpräsidentin zu werden.

Den restlichen Abend verbrachten wir vor dem Fernseher und sahen uns die Nachrichtensendungen an. Das Interview mit dem Ministerpräsidenten wurde noch einmal gebracht, aber diesmal hatten sie auch andere Politiker nach ihrer Meinung gefragt. Einige kannte ich von der Diskussion der Parteivorsitzenden her. Da hatten sie mich kaum eines Blickes gewürdigt und mich jedenfalls nicht begrüßt. Aber jetzt interessierten sie sich ungeheuer für Hannah Fredriksen. Plötzlich war ich offenbar der wichtigste Mensch auf der Welt oder jedenfalls im Land. Alle fanden, dass es »eine ungeheuer wichtige Angelegenheit« und von »historischer Bedeutung« war, ob ich Ministerpräsidentin werden könnte oder eben nicht.

Trotzdem war es seltsam, sie zu sehen. Sie benahmen sich genau wie Erwachsene, die dir anscheinend zuhören, wenn du redest. Aber wenn du ihnen in die Augen siehst, geht dir auf, dass sie in Gedanken weit weg sind.

Später an diesem Abend wurde ein Wahlforscher interviewt. Das ist jemand, der alles über Wahlen weiß, sagte Papa. Es war ein großer Mann, der sich immer wieder die Brille die Nase hochschob und sich große Mühe gab, laut und deutlich zu sprechen. Er konnte erzählen, dass ihm kein vergleichbarer Fall bekannt sei und dass es sich um eine Art Protest gegen die handeln müsse, die derzeit das Land regierten. Trotzdem glaube er nicht, dass das Parlament so verantwortungslos sein und zulassen würde, dass ein Kind über unsere Zukunft entschied.

Was ich nicht verstehen konnte, war, wie es möglich war, so viel über mich zu sagen, ohne mich zu kennen. Sie konnten doch nicht mehr über mich wissen, als wie ich hieß, wie alt ich war und wie ich aussah. Und das alles war wirklich nichts Besonderes. Ich habe braune halblange Haare. Meine Augen sind blaugrau, und ich habe am rechten Ohrläppchen ein kleines Muttermal, an dem man mich ganz leicht erkennen kann. Ansonsten bin ich normal groß und habe ein ganz normales Gesicht, auch wenn Papa behauptet, dass ich aussehe wie ein Engel. Er ist ja schließlich mein Vater.

Ich bin gar nicht schlecht in der Schule, aber doch nicht die Beste. Ich habe ein paar Freunde, aber nicht besonders viele, und nur einen besten Freund, der übrigens viel eher etwas Besonderes ist als ich. In meiner Freizeit mache ich so ungefähr das Gleiche wie alle Kinder in meinem Alter. Wenn ich keine Hausaufgaben machen muss, spiele ich am liebsten mit meinen Freunden oder lese ein spannendes Buch und schreibe vielleicht ein bisschen in meinem Tagebuch. Ich tanze Ballett und spiele auch Fußball. Aber wenn ich Ministerpräsidentin werden müsste, würde mir das alles nicht viel helfen. In der Schule haben wir immerhin gelernt, dass solche Ämter an Erwachsene gehen, die wissen, was sie wollen, und die das dann auch durchsetzen. Und da wäre es doch fast gefährlich, das Land von einer Zehnjährigen leiten zu lassen.

Papa schien sich da überhaupt keine Sorgen zu machen, aber er war ja noch nie besonders erwachsen gewesen, und ohne Mama wäre er bisher bestimmt nicht so gut zurechtgekommen. Es gab also keinen Grund, alles zu glauben, was er sagte.

Ich versuchte, Fred anzurufen, um seine Meinung einzuholen, aber es war zu spät, und niemand ging ans Telefon. Das war sicher auch besser so, denn ich wusste doch, was Fred sagen würde: »Das ist nicht gefährlich, Hannah. Das ist total fett! Verlass dich auf mich!«

Die Ministerpräsidentin

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