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Kapitel 3

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„Wo ist er?“

Dantra schauderte. Das Messer an seiner Kehle war Angst einflößend, ja, schon fast Panik heraufbeschwörend. Diese Stimme aber, so bedrängend und unmittelbar, war weitaus schlimmer als die scharfe, todbringende Klinge. So dicht hinter ihm nahm sie ihm jede Hoffnung auf Flucht oder Rettung durch Akinna. Was sollte sie tun? Durch ihn hindurch schießen? Selbst eine Elbin war zu so etwas nicht fähig. Und er selbst? Den Angreifer mit seiner magischen Kraft nach hinten zu schleudern, käme einem Selbstmord gleich. Unweigerlich würde das Messer den angesetzten Schnitt vollziehen. Er konnte vielleicht zeitgleich etwas Kraft auf die Klinge wirken lassen. Aber wie viel?

„Nun sag schon, Miststück“, fuhr die raue Stimme fort und erst jetzt bemerkte Dantra, dass er diese gar nicht kannte. „Wo ist Inius?“, brüllte sie Akinna an.

Während seine Gefährtin versuchte, die Situation richtig einzuschätzen, hatte Dantra Schwierigkeiten, das Geschehen in seinem Kopf zu ordnen. Der Mann musste aus dem hohlen Baum gekommen sein. Anders hätte er sich nicht, von Akinna unbemerkt, an ihn heranschleichen können. Aber im Baum selbst lag Inius gefesselt und selbst bei dem dürftigen Licht dort drin gut sichtbar. Also, was sollte das alles hier?

„Verflucht“, brüllte der Zerrock Dantra ins Ohr, dass es ihn schmerzte. „Rede endlich oder sein Blut wird dich für dein Schweigen strafen. Wo ist der Verräter? Wo ist ...“ Die letzten Worte versanken in einem Röcheln und dem verzweifelten Versuch, die Lunge mit Luft anstatt mit Blut zu füllen.

Danach ging alles zu schnell für Dantra. Er hörte ein Rascheln aus dem Baum schräg über ihm und erhaschte noch einen kurzen Blick auf einen weiteren Zerrock, ausgerüstet mit Pfeil und Bogen. Auch hinter Akinna raschelte etwas. Zeitgleich löste sich der feste Griff an Dantras Kragen und die Messer haltende Hand fiel schlaff von ihm ab. In diesem Moment wurde er nach vorn gestoßen und fiel unsanft zu Boden. Noch im Fallen hörte er das ihm so unangenehm vertraute Geräusch, wenn Bogensehnen sich entspannten und Pfeilspitzen summend die Luft auf ihrem Weg zu töten teilten.

Flach auf dem Boden liegend, drehte er sich um. Akinna stand direkt über ihm. Kampfbereit und die Lage beherrschend. Der dumpfe Aufprall keine drei Schritt neben ihm ließ den Bogenschützen, den er kurz zuvor oben im Baum gesehen hatte, wieder auftauchen. Wie eine vom Himmel geschossene Wachtel lag er da. Seltsam gekrümmt, blutend, tot. Fast derselbe Anblick bot sich Dantra, als er an Akinna vorbeischaute. Sie hatte einen weiteren Zerrock, wohl töricht genug, Akinna mit dem Schwert anzugreifen, niedergestreckt, bevor er sie auch nur annähernd hätte attackieren können.

Dantra sah über seine Füße hinweg zu dem Zerrock, der ihn zuvor mit einem wahrscheinlich bis zur Perfektion gelernten Schnitt entlang der Kehle bedroht hatte. Er stand noch. Seine Uniform war jedoch durchtränkt mit seinem eigenen Blut, das ihm schwallweise aus dem Hals suppte, und ein Pfeil, der den Federn nach aus seinen eigenen Reihen abgeschossen worden war, steckte in seiner Brust. Wie ein bis zur Naht gefüllter Getreidesack fiel er zu Boden, als der Griff, der ihm gerade noch Halt gegeben hatte, sich löste.

Hinter ihm stand Inius. In seiner rechten Hand hielt er ein blutverschmiertes Messer. Sein Blick haftete auf Akinna. Sie hatte bereits einen neuen Pfeil aufgelegt, gespannt und zielte auf ihn. Ganz langsam legte er den linken Zeigefinger auf den Mund, um ihr zu verdeutlichen, dass sie die aufgekommene Stille wahren möge. Danach zeigte er auf sein Ohr und tat so, als würde er angestrengt lauschen.

Was für Dantra bloße Stille war und für Inius sicher auch nicht mehr, reichte für Akinna, um ihr Ziel ausfindig zu machen. Sie drehte sich ein Stück Richtung Dron und überließ den Rest der Arbeit ihrem Pfeil. Als dieser in eine kleine Fichtenansammlung, die gute drei Baumlängen von ihnen entfernt stand, eintauchte, vermittelte ein kurzes, leises Stöhnen die Gewissheit, dass gerade ein weiterer Mensch sein Leben ließ. Noch bevor das Knacken und Rascheln des fallenden Körpers verhallt war, traf Inius’ Blick erneut den drohenden Akinnas. Und wieder starrte er auf eine auf ihn gerichtete Pfeilspitze. Er ließ das rot triefende Messer fallen und hielt beide Hände offen vor sich. Nur ein Zucken Akinnas trennte ihn davon, ein weiterer Toter in einer Zerrockuniform zu sein. Diese Gewissheit ließ seiner gespielten Selbstsicherheit keine Chance. Er hatte Angst.

„Ich habe euch nicht verraten“, erklärte Inius fast flüsternd. „Ich habe euch gerettet.“ Seine gekrümmte, unterwürfige Körperhaltung entspannte sich etwas, als er ihr sein selbstloses Handeln darlegte. Was allerdings nur von kurzer Dauer war, denn Akinnas Antwort barg nicht viel Anerkennung.

„Wir waren zu keinem Zeitpunkt in Gefahr!“, raunte sie ihm zu. „Erst dein Eingreifen hat dieses Blutbad verursacht.“ Dantra, der sich wieder aufgerappelt hatte, räusperte sich. „Willst du etwas sagen?“, fuhr sie ihn an, ohne dafür den Blick von Inius zu nehmen.

„Na ja“, begann er seine Darlegung, „ich weiß auch nicht so recht, was ich davon halten soll, dass er sich“, Dantra deutete mit einem Kopfnicken auf den für einen Zerrock ungewohnt hilflos aussehenden Inius, „von seinen Fesseln befreit hat. Aber in zwei Dingen bin ich mir sicher. Mich hat er wirklich gerettet und die Zerrocks hättest du ohnehin nicht leben lassen.“

„Was diese verfluchten Zerrocks angeht, hast du wohl recht“, pflichtete sie ihm mürrisch bei. „Aber dein Leben hat er nicht gerettet. Ich habe in deinen Augen gesehen, dass du dir schon einen Plan zurechtgelegt hattest, wie du dich mithilfe deiner“, Akinna stockte kurz und ließ beim Beenden des Satzes ganz bewusst das Wort magisch weg, „besonderen Kraft befreien kannst.“

Das gab Dantra Hoffnung. Wenn es keine Chance mehr gäbe, Inius mit dem einen oder anderen Argument vor dem Tode zu retten, hätte Akinna sicher keine Bedenken, offen über seine magischen Kräfte zu reden.

„Aber er hätte doch gar nicht aus dem Baum kommen müssen“, versuchte Dantra, sie zu überzeugen. „Er hätte auch in seinem Versteck warten können, bis sie uns oder wir sie umgebracht hätten. Wie es auch immer ausgegangen wäre, weder sie noch wir wären hiergeblieben. Er hätte sich also nur ruhig verhalten müssen und wäre ohne Risiko aus dieser bedrohlichen Lage herausgekommen.“

Für einen Moment sagte niemand etwas. Doch Dantra meinte, erkennen zu können, dass Akinna kaum merklich, aber dennoch etwas Spannung vom Bogen nahm.

„Woher wusstest du, dass es noch einen weiteren Zerrock gab, der uns beobachtete?“, fragte sie Inius streng.

„Das ist ein Suchtrupp. Er besteht immer aus vier Mann. Einem Anführer, zwei Suchern und einem Beobachter. Letzterer ist nur dafür zuständig, Bericht zu erstatten, wenn etwas schiefgegangen ist. Er befindet sich nicht nur während eines Hinterhalts in sicherer Entfernung, sondern stets, solange die Mission dauert. Aber mir war klar, um hier etwas von den Geschehnissen sehen zu können, musste er nahe genug herankommen, sodass du ihn hören kannst, wenn er sich auch nur einen Hauch bewegt.“

„Wieso haben sie dich nicht in dem Baum gefunden?“, fuhr sie mit ihrem Verhör fort.

„Ich habe sie kommen gehört und bin in den gleichen Ast gekrochen, in dem ich mich schon versteckt hatte, als ihr gestern kamt.“

„Und sie haben dich nicht gefunden? Sie haben nicht in den Ästen nachgesehen?“

„Nun, das hätten sie sicher noch. Aber ihr habt sie mit eurem Erscheinen abgelenkt.“

Akinnas Blick verriet ihre Gedanken. Sie schätzte den Wahrheitsgehalt seiner Worte ab. Doch sichtliche Zufriedenheit folgte nicht. „Wie haben sie dieses Versteck überhaupt finden können?“

„Die Frage ist nicht, wie sie es finden konnten, sondern warum sie so lange gebraucht haben, bis sie hier waren.“ Ein Hauch Stolz auf die Fähigkeiten seiner Zunft gesellte sich zu seiner nach einem Ausweg suchenden Miene. „Es gibt Karten, auf denen Verstecke wie dieses verzeichnet sind. Nur weil in ihnen keine Fledermäuse leben, heißt es nicht, dass diese sie nicht schon längst ausgespäht und als möglichen Unterschlupf für Gesuchte dem nächsten Orator gemeldet haben.“

„Du meinst, Zerrocktrupps wie dieser durchsuchen sämtliche Verstecke in der Gegend?“ Dantras geschockte Stimme verdeutlichte seine Sorge.

„Ich denke schon“, antwortete Inius ihm.

„Dann müssen wir hier weg“, drängte Dantra Akinna. „Und zwar so schnell wie möglich.“

Diese jedoch ließ sich in Bezug auf ihr Misstrauen gegenüber Inius nicht beirren. „Noch eine letzte Frage, bevor ich mich entscheide, was mit dir geschieht“, sagte sie mit einem solch drohenden Unterton, dass den beiden anderen klar war, was sie bisher gehört hatte, konnte sie noch nicht überzeugen, Inius am Leben zu lassen. „Wie konntest du dich von den Fesseln befreien?“

Inius sah von ihr zu Dantra, der ihn nicht weniger fragend ansah, und wieder zurück. Es schien, als hätte Akinna die einzige Frage gestellt, die er nicht beantworten konnte. Sie spannte ihren Bogen bereits wieder voll durch, als er sich mit Bedacht umdrehte und seine Hände so auf dem Rücken übereinanderlegte, wie Akinna es von ihm am Morgen verlangt hatte, um ihn zu fesseln. Kaum sichtbar rieb er die eine Hand an der anderen. Danach drehte er sich wieder um und hielt Akinna seinen rechten Arm hin. An seinem Zeigefinger trug er einen wuchtig wirkenden Ring. Das Emblem der Zerrocks war darauf abgebildet, ein in einer Rüstung steckender Mann, der Feuer spie. Unter dem Wappen lugte eine kleine, sichelförmige Klinge hervor.

„Du weißt schon eine Menge über uns Zerrocks“, sagte er lobend zu Akinna, „aber doch bei Weitem nicht alles. Wenn du mich am Leben lässt, könnte ich dir sicher noch das eine oder andere Nützliche verraten.“ Erwartungsvoll sah er sie an. Doch sie zögerte weiterhin.

„Was willst du denn noch hören, um dich endlich milde stimmen zu lassen?“, fuhr Dantra sie scharf an.

Zu seiner Verwunderung drehte sie ihren Kopf zu ihm und sah ihm in die Augen, allerdings ohne etwas zu sagen. Dabei drehte sich ihr Oberkörper so weit mit, dass sie nun knapp an Inius vorbeizielte. Mit einem schnellen Schritt hätte er sie vielleicht entwaffnen können, aber er tat es nicht.

„Vertrauen muss man sich verdienen“, sagte Akinna schließlich. „Worte gehen einem leicht über die Lippen. Ob sie nun der Wahrheit entsprechen oder nicht. Taten hingegen verraten einem mehr über geplante Absichten. Wenn er“, mit einer kurzen Kopfbewegung deutete sie auf Inius, ohne ihn anzusehen, „uns schaden wollte, hätte er diese gerade gebotene Chance, mich zu überwältigen, nicht verstreichen lassen. Vor allem, weil er nicht wissen konnte, dass dies eine Prüfung war. Es hätte genauso gut sein können, dass ich dir nur mein Bedauern darüber ausdrücken wollte, dass ich ihn töten müsse. Dennoch tat er es nicht.“ Mit dem letzten Satz schaute Akinna Inius wieder bohrend an, verharrte kurz und senkte dann den Pfeil. „Das bedeutet aber nicht, dass ich dir ab jetzt vorbehaltlos vertraue, verstanden?“

Inius nickte. „Verstanden.“

Dantra atmete erleichtert auf. „Und jetzt?“, fragte er in die Runde. „Wer weiß, ob nicht schon der nächste Trupp hierher unterwegs ist.“

„Das denke ich nicht“, entgegnete ihm Inius. „Aber wir sollten zusehen, dass wir die Leichen verschwinden lassen.“

„Warum? Das kostet nur Zeit und die haben wir nicht. Wir müssen zusehen, dass wir weiterkommen.“ Akinnas Einwand klang mehr nach einem Befehl und weniger nach einem Argument für eine Diskussion.

„Jeder Suchtrupp bekommt ein bestimmtes Gebiet zum Kontrollieren zugeteilt. Daher wird hier so schnell kein zweiter Trupp auftauchen“, erklärte Inius Dantra und wandte sich dann Akinnas Einwand zu. „Jedoch gibt es einen Drachen, der aus extremer Höhe bestimmte Menschen, ob tot oder verletzt, finden kann. Dieser überfliegt regelmäßig das gesamte Suchgebiet. Wenn wir die Leichen also verschwinden lassen, haben wir gute Chancen, nochmals hier übernachten zu können. Außer natürlich du kennst ein Versteck, das man in kürzester Zeit erreichen kann, denn es dauert nicht mehr lang und die Dämmerung bricht herein.“

„Aber gerade die knappe Zeit lässt es nicht zu, dass wir vier Gräber ausheben“, entgegnete ihm Akinna vorwurfsvoll.

„Ich weiß, dass das knapp wird, aber ich denke, eine andere Möglichkeit, als es zu versuchen, bleibt uns nicht.“

„Ich habe vielleicht eine Idee“, warf Dantra nachdenklich ein. Akinna und Inius sahen ihn überrascht an, was ihn ein wenig ärgerte, denn sie verliehen ihm so das Gefühl, als wäre er ein kleines Kind, das sie unter keinen Umständen aus dieser prekären Lage zu befreien vermochte. „Wir könnten sie dort hineinwerfen“, sagte Dantra schließlich und deutete auf die schwarze Waldwand. „Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich denke, die Kreaturen, die dort drin leben, nehmen sich unseres Problems an.“

„Woher weißt du, was für Kreaturen in dem schwarzen Baumwald leben?“, fragte Inius skeptisch.

„Ich war schon einmal darin und habe schmerzliche Erfahrungen mit ihnen gemacht.“

„Du warst da drin und bist wieder herausgekommen?“ Der Ton, in dem Inius die Frage stellte, erinnerte Dantra stark Akinna, wenn sie ihm wieder einmal nicht glaubte.

Diese jedoch schlug nun, zu seiner Verwunderung, einen ganz anderen an. „Willst du ihm unterstellen, dass er lügt?“, fauchte sie Inius an.

„Nein, natürlich nicht“, versuchte er, sie zu beruhigen. „Ich habe nur noch nie davon gehört, dass jemand dort reinging und heil wieder herauskam. Aber dennoch steht es mir natürlich nicht zu, an seinem Wort zu zweifeln.“ Und an Dantra gewandt sagte er: „Entschuldige, bitte.“

„Schon gut“, meinte Dantra und winkte beschwichtigend ab. „Es ist ja auch schwer zu glauben und ohne fremde Hilfe wäre ich sicher ebenfalls gestorben. Aber was meint ihr zu meinem Vorschlag? Sollen wir es versuchen?“

„Wenn es funktioniert, erhöht es unsere Chancen, im Verborgenen zu bleiben, ganz erheblich“, beurteilte Akinna seinen Einfall. „Also lasst es uns ausprobieren.“

Inius nahm den ihm am nächsten liegenden toten Zerrock bei den Armen, während sich Dantra die Beine griff. Sie schleppten den schweren, leblosen Körper zum schwarzen Baumwald und warfen ihn hinein, wobei sie sehr darauf bedacht waren, nicht selbst in den dunklen Schatten zu geraten. Sie spähten ins Trübe, wo sie allerdings nur noch schemenhaft die Leiche des Zerrocks erkennen konnten.

Doch das erhoffte Resultat blieb aus. Nichts tat sich. Nicht einen kleinen schwarzen Vogel schien es zu kümmern, dass sie den Mann dort hineingeworfen hatten. Nichts passierte, was darauf hindeutete, dass der Leichnam in Kürze verschwinden würde.

„Ich befürchte, sie fressen nur lebende Menschen“, sagte Dantra enttäuscht zu Akinna, als sie zurückkamen.

„Aber vielleicht haben wir Glück und der Drache kann sie trotzdem nicht finden, wenn sie dort drin liegen“, überlegte Akinna laut.

„Mag sein“, pflichtete Inius ihr bei. „Aber er wittert in jedem Fall das Blut hier.“ Er deutete auf die rot getränkte Erde, auf der der Anführer des Suchtrupps mit seinem Gesicht lag, aus dessen durchschnittener Kehle immer noch Blut quoll.

„Ich kümmere mich darum“, sagte Akinna, „nehmt erst die anderen. Sie haben aus ihren Pfeilwunden fast kein Blut verloren. Und das bisschen, was herauskam, hat genau wie bei dem, den ihr gerade weggebracht habt, die Kleidung aufgesaugt.“

Dantra und Inius hievten den nächsten Mann hoch und trugen auch ihn zum schwarzen Baumwald hinüber. Bevor sie ihn hineinwarfen, legten sie ihn, um Kräfte zu sammeln, erst noch einmal ab. Während Inius unter leisem Stöhnen seinen Rücken durchdrückte, versuchte Dantra, im Schatten etwas zu erkennen.

„Sind wir nicht an derselben Stelle, an der wir gerade den anderen entsorgt haben?“

„Exakt an derselben Stelle“, bestätigte ihm Inius.

„Nun, dann hat es wohl doch funktioniert.“ Dantras Erleichterung war nicht zu überhören.

„Stimmt“, pflichtete ihm Inius bei, nachdem auch er angestrengt das Dunkel mit seinen Augen abgesucht hatte und nichts mehr von der Leiche zu sehen war.

Sie warfen den zweiten Mann hinein und warteten erneut ab. Aber wieder passierte nichts.

„Ziemlich scheu, die Viecher, was?“, stellte Inius fest.

„Nun, den Eindruck hätte ich auch gerne gehabt, als ich seinerzeit dort drin war. Aber bei mir hatten sie nicht so viele Hemmungen, sich zu zeigen. Ganz im Gegenteil.“

„Es klappt doch“, verkündete Dantra Akinna stolz. „Die erste Leiche ist bereits verschwunden.“

„Das macht deine gute Idee zu einer sehr guten Idee“, lobte sie ihn. Sie tat das zwar nur beiläufig, da sie mit dem Verbinden der tödlichen Verletzung des Zerrocks beschäftigt war, aber dennoch freute es Dantra außerordentlich und machte ihn stolz. Sein daraus resultierendes breites Grinsen in Richtung Inius, der diesem mit einem spöttischen „Na, hast du von Mutti ein Lob bekommen?“-Blick begegnete, war ihm genauso außerordentlich peinlich. Und das verhasste Gefühl der aufsteigenden Schamesröte ließ den gerade erlebten Triumph zusammenschrumpfen.

Mit gesenktem Kopf schlurfte er Inius hinterher bis zu der Stelle, wo Akinnas Pfeil dem Beobachter den Tod gebracht hatte. Von hier aus bis zum schwarzen Baumwald war es zwar auch nicht viel weiter zu laufen, jedoch wurde sich Dantra seiner schwindenden Kräfte mit jedem Schritt, den er die Last bewegen musste, mehr gewahr. Am Ziel legten sie den Zerrock wieder zuerst ab und dieses Mal musste auch Dantra seinen schmerzenden Rücken durchdrücken und seinen Lungenrufen nach mehr Luft nachkommen.

Ein leises Knacken lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu dem Leichnam. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern hatte Akinna aus diesem hier den Pfeil noch nicht herausgezogen. Inius hielt diesen nun knapp unterhalb der Spitze in der Hand. Er sah sich die in seinen Händen liegende, verrostet aussehende und mit Blut überzogene Metallspitze genauer an.

„Ich denke, den nehme ich mal lieber“, sagte Dantra leise, aber sehr bestimmt.

Inius sah ihn zögernd an. Es schien ihm nicht zu behagen, dass ihm ein gerade mal heranwachsender Mann, der ihm zudem seiner Ansicht nach in allem unterlegen war, einen Befehl erteilte, so freundlich dieser auch formuliert war. „Ich kann ihr den Pfeil doch selbst zurückgeben“, sagte er seinerseits freundlich. Wobei seine Augen Dantra allerdings schon fast anschrien: „Wag es nicht, mir zu widersprechen!“

Es breitete sich eine kurze Stille zwischen ihnen aus, in der beide den nächsten, richtigen Schritt bedachten.

Dann sagte Dantra, und man hörte in seiner Stimme, dass er das Wissen in sich trug, dem Zerrock zwar so ziemlich in allem unterlegen zu sein, ihn aber dennoch jederzeit besiegen zu können: „Jetzt sofort!“ Dabei hielt er ihm die ausgestreckte Hand entgegen.

Inius’ Gesicht sprach Bände. Er würde noch lange brauchen, um ohne unterdrückten Zorn dem Wort eines anderen Folge leisten zu können, der keine Zerrockuniform mit einem höheren Rangabzeichen als seinem eigenen trug. So legte er widerwillig den Pfeil in Dantras Hand, der diese Handlung nur mit einem „Gute Entscheidung“ kommentierte und zu Akinna hinübersah.

Sie stand noch immer an der Stelle, an der sich der letzte Tote befand, und wie vermutet hatte sie bereits einen Pfeil aufgelegt und zielte damit auf Inius. „Sie kann das Knacken des Herausziehens über gute drei Elbenlängen hören“, sagte er zu dem erbleichten Mann, der seinerseits ebenfalls zu Akinna hinübersah. „Du weißt doch sicher, was eine Elbenlänge ist, oder?“, setzte Dantra nach, nur um sicherzugehen, dass der ehemals ranghohe Zerrock, der ihm gegenüberstand, begriff, dass es sehr wohl Dinge gab, über die Dantra besser Bescheid wusste als er.

Und um dem Ganzen noch einen würdigen Abschluss zu verleihen, bemerkte Dantra, nachdem sie die Leiche ihrem Bestimmungsort zugeführt hatten: „Das einzig Gute daran, wenn du dich gerade anders entschieden hättest“, er setzte wieder ein breites Grinsen auf, dieses Mal aus Überlegenheit, „wäre gewesen, dass ich dich nicht so weit hätte schleppen müssen, um deinen toten Körper verschwinden zu lassen.“

Kurz darauf war auch der letzte Tote im schwarzen Baumwald entsorgt. Akinna hatte sämtliches Blut mit Erde abgedeckt und diese festgestampft. Nun saßen die drei, wie schon am Abend vorher, im Inneren des hohlen Baumes um das schwache Licht des Lumenkristalls herum.

„Nun erklär mir das mit dem Drachen und dem Wittern des Blutes noch einmal ganz genau“, forderte Akinna Inius auf.

„Was soll ich da erklären?“, überlegte er laut vor sich hin.

„Na, alles!“ Akinnas Geduld war äußerst knapp bemessen. „Wie heißt der Drache? Ist das seine Gabe? Kann er sonst noch was? Woher weiß er, welches Blut zu wem gehört? Sag einfach alles, was dir dazu einfällt.“

„Nun lass ihn doch wenigstens mal überlegen“, forderte Dantra sie beschwichtigend auf, was Akinna aber nur mit einem Zungenschnalzen abtat.

Inius stockte einen Moment und sah von einem zum anderen, als wartete er darauf, dass sie sich weiterhin stritten. Als dies allerdings ausblieb, begann er mit seiner Erläuterung. „Sein Name ist Sagium. Und ja, es ist seine Gabe.“

Akinna griff in ihren Umhang und holte eine Pergamentrolle heraus, von der Dantra glaubte, auch wenn er sie damals wie heute nur von hinten sah, sie zu kennen. Ein kurzer Blick genügte und Akinnas Gesicht hellte sich auf. Vielleicht wirkte sogar noch etwas glückseliger als vor einigen Tagen, als sie auf die Balaena zwei gegangen waren und sie ihre alten, liebgewonnenen Freunde wiedergetroffen hatte. Hektisch zog sie ein sehr kleines Tintenfass aus einer anderen Falte ihres Umhangs und eine zwischen zwei Baumrinden eingebundene Schreibfeder. Eine Notiz später waren all die Sachen wieder verstaut und sie pustete vorsichtig das frisch Geschriebene trocken.

„Fahr fort“, befahl sie dem Zerrock, ohne ihn dabei anzusehen und auch ohne den kleinsten Rest des zuvor aufgekommenen Frohsinns.

„Soweit ich weiß, ist das alles, was er kann. Also, neben dem, was jeder Drache kann wie fliegen, Feuer spucken und jedes in Umbrarus vorkommende Lebewesen töten.“ Ein Rest Stolz auf seine Herren konnte und wollte er wohl nicht verbergen. Ganz so, als hätte er ihre unmenschliche Kampfkraft noch immer auf seiner Seite, ignorierte er Akinnas ungeduldige Blicke und setzte sich erst einmal in Ruhe bequemer hin, bevor er fortfuhr. „Von jedem Zerrock existiert eine Blutprobe in Form eines kleinen, blutgetränkten Stück Stoffes, welches in Steppenstockbaumblätter eingeschlagen im ewigen Eis aufbewahrt wird. Vor jedem ...“

„Was meinst du mit dem ewigen Eis? Wo werden diese Blutproben genau aufbewahrt?“, unterbrach ihn Akinna.

„Über solche geheimen Informationen verfügt ein normalsterblicher Zerrock nicht“, erwiderte er und sah Akinna mit entschuldigender Miene an.

„Nun“, entgegnete sie ihm und ihre Augen verengten sich dabei drohend, was nicht weniger einschüchternd wirkte als das Zähnefletschen eines Kampfhundes, „aber wir beide wissen doch wohl, dass du kein normalsterblicher Zerrock bist, oder?“

„Warst“, warf Dantra ein.

„Was?“ Akinna sah ihn leicht genervt an.

„Du meinst, dass er kein normalsterblicher Zerrock war. Er ist nun keiner mehr.“

Mit einem Knurren wandte sie sich wieder von ihm ab und schaute Inius fordernd an. Als dieser merkte, dass Akinna ihm auch dieses Mal nicht den Gefallen tat, auf Dantras Einwand hin ein Wortgefecht entstehen zu lassen, welches von ihm und seinem Verhör abgelenkt hätte, nahm er resigniert den Faden wieder auf.

„Es ist eine in den Berg geschlagene Kammer. Sie hat ungefähr die Tiefe von drei aneinandergereihten Flussfrachtschiffen und liegt oberhalb der Schneegrenze des Parvusgebirges.“

„Nur ein Berg ist hoch genug, dass er im Calorviertel Schnee trägt. Es ist der Gipfel, der im äußersten Dron liegt. Der Cortina“, stellte Dantra laut denkend fest. Akinna und Inius sahen ihn verwundert an. „Was?“, schimpfte er los. „Ihr seid nicht die Einzigen, die etwas wissen. Vielleicht habe ich keine Ahnung von Elben und so. Oder von dem Leben als Zerrock, aber ich habe eine Schule von innen gesehen. Und auch wenn sie uns dort einiges nicht gelehrt haben, aus dem ich heute viel Nutzen ziehen könnte, so war dennoch das eine oder andere Brauchbare dabei.“

Ein zustimmendes Kopfnicken von Inius und ein überrascht klingendes „Sieh an!“ von Akinna ließen Dantras Empörung weitersteigen. Dennoch beließ er es bei einigen leisen, vor sich hin gemurmelten Flüchen, was Akinna dankbar annahm, da sie so wieder ihre volle Aufmerksamkeit auf Inius’ weitere Erklärungen richten konnte.

„Wo war ich?“, sagte dieser und runzelte die Stirn. „Ach ja. Bevor also eine Suche beginnt, von der man befürchten muss, sie könnte gefährlich werden, nimmt Sagium den Geruch der Blutproben aller an der Suche beteiligten Männer auf, um über sie zu wachen. Er kann dieses natürlich auch im Nachhinein tun. Sollte also ein Zerrock überraschend verschwinden, ist das Verfahren dasselbe. Er nimmt die Witterung auf und sucht die Umgebung des vermeintlichen Tatorts ab.“

„Damit kann er doch nicht viel mehr als ein Spürhund“, bemerkte Dantra.

„Wenn die falschen Ohren diesen Vergleich hören, könnte das deinen Tod bedeuten. Dessen bist du dir doch wohl bewusst, oder?“ Inius sah den Jungen skeptisch an, wobei sein belehrender Ton für Dantras Empfinden mehr als nur ein einfaches „Ja“ verdiente.

„Ich bin mir nicht nur dessen bewusst, ich bin auch davon überzeugt, dass es hier keine falschen Ohren gibt, die das hören könnten. Oder irre ich mich etwa damit?“

Wieder war es Inius’ Gesichtsausdruck, der die ehrlichste Antwort gab: „Selbst wenn ich kein Zerrock mehr bin und somit keinen Dienstgrad mehr habe, dem man den gebührenden Respekt entgegenzubringen hat, möchte ich mir dennoch nicht von einem Jungen, der nicht einmal halb so alt ist wie ich, dumme Gegenfragen anhören müssen.“ Sein Mund aber hielt sich zurück und äußerte stattdessen nur beschwichtigend: „Du hast natürlich recht. Hier gibt es nur Ohren von Gleichgesinnten.“

Nach einer kurzen Frustpause fing er sich wieder. Mit seinem in sich gekehrten, leicht überheblichen Blick beantwortete er Dantras eigentliche Frage. „Er kann sehr viel mehr als ein Spürhund. Er kann Hunderten von Blutspuren auf einmal folgen, und das aus einer Höhe, in der er von unten kaum zu erkennen ist.“

„Also, sehe ich das richtig? Wenn du blutest, wird er dich in kürzester Zeit finden?“, fragte Akinna.

„Das ist korrekt“, bestätigte er ihr. „Aber ich müsste schon ziemlich stark bluten. So stark, dass ich die Blutung nicht stoppen kann, um die Wunde schnellstmöglich fest zu verbinden.“

„Aber wenn er zufällig in der Nähe wäre, würde dir nicht einmal die Zeit zum Verbinden bleiben? Er würde dich sofort aufspüren?“, hakte Akinna nach.

„Das ist ebenfalls richtig.“ Die von Akinna aufgeführte Tatsache, wie schnell seine Flucht beendet sein konnte, ließ ihn nachdenklich werden.

„Genug geredet“, durchbrach Akinna plötzlich die aufgekommene Ruhe wie ein Blitz die Dunkelheit. „Es ist Zeit zum Schlafen.“ Anstatt sich jedoch unter ihren Umhang zurückzuziehen, begab sie sich in die gleiche Sitzhaltung wie schon in der Nacht zuvor.

„Willst du wieder wach bleiben?“, fragte Dantra sie.

Sie antwortete ihm mit einem misstrauischen Blick zu Inius und einem kurz angebundenen „Ja“.

Die Morgendämmerung hatte die Nacht noch nicht ganz verdrängt, als Akinna Dantra und Inius weckte. „Macht euch abmarschbereit, wir haben einen langen Weg vor uns“, befahl sie barsch.

„Bei dir hört sich das so an, als wäre es etwas Besonderes. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir haben jeden verdammten Morgen einen langen Weg vor uns“, brummelte Dantra unter seiner Decke hervor.

Als er kurz darauf aus dem Baum kroch, hatte er das Gefühl zu baden, ohne im Wasser zu sein. Die Welt um ihn herum schien sich hinter einer dicken, nassen Wand verstecken zu wollen. Der Nebel war so dicht, dass er kaum zwei Schritte weit sehen konnte. „Wenn wir jetzt losgehen, werden wir uns verlaufen“, stellte er fest.

Inius stimmte ihm mit einem Kopfnicken und einem „Da hast du recht“ zu.

„Wenn wir jetzt losgehen“, widersprach ihnen Akinna, „haben wir gute Chancen, nicht von deinen Freunden“, sie sah Inius verächtlich an, „erwischt zu werden. Und wenn ihr bei mir bleibt, werdet ihr euch auch nicht verlaufen. Noch Fragen?“

„Ja, wohin gehen wir?“, wollte Inius wissen.

„Wir beide“, sie zeigte erst auf Dantra und dann auf sich selbst, „suchen etwas, von dem wir zu wissen glauben, wo es zu finden ist. Und da gehen wir jetzt hin.“

„Das hat meine Frage zwar nicht beantwortet, aber ich liege wohl mit der Vermutung richtig, dass das alles ist, was ich als Antwort von euch zu erwarten habe, oder?“ Er sah die beiden an und kommentierte ihr Schweigen mit einem „Das habe ich mir gedacht“.

Sie marschierten hintereinander her, wobei Akinna ihren kleinen Trupp anführte. In die Mitte hatte sie Inius zitiert und den Schluss bildete Dantra, dessen Gedanken sich nach Akinnas Erklärung mit ihrem heutigen Vorhaben, den schwarzen Baumwald zu überwinden, beschäftigten. Er war natürlich nicht gewillt, noch einmal dort hineinzugehen. Aber was, wenn das Versteck hinter der Schattengrenze lag? Sie mussten den Dolch finden, koste es, was es wolle. Dies war unabdingbar für die Erfüllung ihrer Mission. Ein unangenehmes Gefühl gesellte sich zu seinem Hunger und schaffte es sogar, diesen vollständig zu verdrängen. Er hatte eine Art Vorahnung, dass dieser Tag alles verändern würde, dass etwas Furchtbares passieren würde und dann nichts mehr so wäre wie vorher. Seine eigenen Gedanken machten ihm Angst. Und so versuchte er, diese unheilvollen Eingebungen beiseitezuschieben, was ihm jedoch nur spärlich gelang.

Sie waren schon einige Zeit unterwegs, als der Nebel anfing sich aufzulösen. Erst jetzt bemerkte Dantra, dass sie sich entlang der schwarzen Baumwaldgrenze bewegten, die im Culter entlanglief. Kurz darauf erreichten sie die Ruinenstadt Astivo. Die meisten der Gebäudereste waren von Moos und Gräsern überwuchert. Teilweise wuchsen ganze Bäume aus den fehlenden Dächern heraus. Da es hier seit vielen Jahren keine Menschen mehr gab, hatte die Natur die Oberhand gewonnen und die Reste einstigen Lebens mit ihrer bunten Vielfalt überzogen. Der Anblick zauberte Akinna ein Lächeln aufs Gesicht.

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass dir das gefällt“, sagte Dantra zu ihr und ließ einen tadelnden Unterton hören.

„Es ist ja nicht so, als wäre mir das Leid, das den Bewohnern einst widerfahren ist, egal. Aber sieh doch nur dieses Beispiel für die unbändige Kraft der Natur! Das ist doch faszinierend oder etwa nicht?“

Einen gewissen Eindruck hatte der Anblick auch bei Dantra hinterlassen. Dennoch ließ er ihre Frage unbeantwortet. Denn die, die gerade in ihm aufkeimte, war wesentlich wichtiger. „Wie sollen wir denn hier das richtige Gebäude finden?“

Sie gingen, balancierten oder kletterten über die Zeugnisse vergangener Zeiten, indem sie nach dem wenigen, was sie wussten, Ausschau hielten. Ein einst großes, massiv gebautes Haus mit einem kleinen Turm an der Lavaseite war ihr einziger Anhaltspunkt. Sie durchstreiften die ehemaligen Gassen des Ortes, wobei sie an einigen Stellen stehen blieben, um sich mit viel Fantasie die vor ihnen liegende Ruine als Ganzes vorzustellen. Doch fündig wurden sie nicht.

Es dauerte nicht lange und sie standen vor dem schwarzen Baumwald, der sich einmal quer durch den ganzen Ort zog. Das groteske Bild, das sich ihnen bot, verdeutlichte den Schrecken, der vom schwarzen Baumwald ausging. Es schien, als hätte er sich einfach, ungeachtet der zerstörten Häuser, den schnellsten Weg von Culter nach Lava gesucht. Einige der zerfallenen Häuser standen zum Teil im Wald und zum Teil davor. Wenn man durch einige der noch stehenden Türrahmen blickte, bekam man den Eindruck, als hätte jemand das Licht in der Mitte des Raumes gelöscht. Wenn der Wald nicht ein sicherer Weg in den Tod wäre, dann wäre dieser Anblick äußerst spektakulär. So jedoch vermittelte er den Eindruck, dass man selbst in seinen eigenen vier Wänden nicht sicher vor dem dunklen Schatten war.

Langsam und in die Finsternis spähend gingen sie am Waldrand entlang.

„Ich weiß ja nicht, was ihr sucht“, merkte Inius nach einigen Schritten an. „Aber wenn es dort drin sein sollte, ist es genauso, als würdet ihr es nicht finden. Niemand geht dort hinein und kommt lebend wieder raus.“

Akinna blieb stehen und funkelte ihn böse an.

„Ja, ja. Ich weiß. Du warst schon einmal dort drin und bist lebend wieder rausgekommen“, sagte er zu Dantra. „’tschuldigung, hatte ich kurz vergessen.“

Nichts, nicht ein Satz, nicht einmal ein Wort seiner Entschuldigung hörte sich aufrichtig und ehrlich an. Dantra wusste, dass Akinna Inius noch so sehr drohen konnte, er würde ihm niemals glauben, was er seinerzeit bei E’Cellbra dort drin erlebt hatte. Und ihm war auch klar, dass Akinnas Haltung Inius gegenüber nichts damit zu tun hatte, dass sie ihm bedingungslos glaubte. Sie wollte dem Zerrock nur nicht erlauben, ein schlechtes Wort über ihn zu sagen. Selbst wenn er behauptete, schon einmal auf einem Drachen geritten zu sein, würde Akinna darauf bestehen, dass Inius seinen Worten Glauben schenkte. Es war Zeit, sie von der Wahrheit zu überzeugen. Sie beide.

„Ich bin damals nur knapp dem Tod entkommen.“ Seine Stimme klang ungewohnt ernst und entschlossen. „Die Verletzungen, die ich mir zugezogen habe, sind noch immer gegenwärtig. Allerdings nur da drin.“ Er deutete auf den Schatten. „Ich habe mir bei meiner Flucht zwei Finger abgerissen.“ Er hielt die linke Hand hoch und sah seine beiden Begleiter mahnend an. Dann tauchte er seinen Arm ins Dunkel des Schattens.

Akinna ließ einen erschrockenen Ton hören und Inius sprang einen Schritt zurück. „Was ist das für eine Hexerei?“, brüllte er los.

„Das ist die Wahrheit, die du nicht glauben willst“, erklärte Dantra gelassen. Mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht schaute er auf die beiden Stumpen, die gerade eben noch seine Finger gewesen waren.

„Du freust dich über diesen grausamen Anblick?“, fragte Akinna ihn irritiert.

„Also, wenn du diesen Anblick schon grausam findest, solltest du lieber nicht in mein Gesicht schauen, wenn es dort drin ist“, erklärte Dantra ihr. „Ich freue mich lediglich über die Feststellung, dass die Verletzungen, die ich mir dort zugezogen habe, anscheinend hier draußen wieder verheilen.“

„Was meinst du?“

„Sieh doch.“ Er deutete mit der anderen Hand auf die Stelle, wo einst die Finger angewachsen waren. „Es ist keine blutende Wunde mehr. Es ist sogar schon ein bisschen Haut darübergewachsen.“ Die Begeisterung der anderen beiden blieb allerdings aus und so zog Dantra seine Hand wieder zurück ins Sonnenlicht. „Ach, und übrigens“, sagte er an Inius gewandt, „Hexen können nicht zaubern. Sie brauen dir zwar eine Brühe, dass du denkst, dir fallen die Finger ab. Aber zu so was“, er fuchtelte mit seiner nun wieder fünffingrigen Hand vor der Nase des Mannes herum, „ist eine Hexe nicht fähig.“

Inius wich angeekelt vor Dantras Hand zurück. „Solche Experimente mit dem schwarzen Baumwald zu machen, ist nicht gut“, sprach er mahnend.

„Gar nicht gut“, pflichtete Akinna ihm bei.

„Überhaupt nicht gut“, stimmte auch Dantra ein, allerdings meinte er etwas anderes. Akinna und Inius folgten seinem Blick, der einige Schritte weiter an einem kleinen, halb zerfallenen Turm inmitten des Schattens hängen geblieben war. „Das ist es.“

Sie standen nun direkt vor dem zweiflügeligen Eingangstor, von dem nur noch die Eisenbeschläge verrostet und krumm in den Angeln hingen. Im Vergleich zu den meisten anderen Häusern jedoch sah dieses relativ gut erhalten aus. Zwar hatte auch hier die Kraft der Natur ganze Arbeit geleistet, aber das Mauerwerk war noch weitestgehend erhalten.

„Das ist es“, wiederholte Dantra. „Das ist das Haus des Hofbaumeisters.“

Auch Akinna war überzeugt, dass ihre Suche beendet war. „Ich denke, da hast du recht“, stimmte sie ihm zu.

Sie gingen in die ehemalige Eingangshalle, von deren einstiger Pracht nun nicht mehr viel übrig war. Sie maß knapp drei Pferdelängen in der Breite wie auch in der Tiefe. Als sie sie durchquert hatten, passierten sie einen wuchtigen Rundbogen. Das Licht in dem sich vor ihnen öffnenden Raum endete bereits zwei Schritte weiter. Ab da begann die ewige Dunkelheit. Das machte es unmöglich, den Rest des Raumes bis zu seiner Rückwand einzusehen. Aber genau an dieser vermutete Akinna die Feuerstelle, in deren Mauerwerk nun schon seit fast 200 Jahren der Dolch des Vertrauens versteckt lag.

„Es können nur ein paar Schritte sein“, schlussfolgerte die Halbelbin optimistisch. „Ich werde es versuchen. Ich muss es versuchen.“

„Du willst da wirklich reingehen?“, fragte Inius ungläubig.

„Nun, im Gegensatz zu dir habe ich keine Wahl. Ich muss dort rein.“

„Ich weiß ja nicht, was du zu finden gedenkst, aber etwas anderes als der Tod wird es nicht sein. Auch wenn Dantra schon einmal dort drin war, bin ich überzeugt, dass er das Glück hatte, welches Tausenden vor ihm fehlte. Die Wahrscheinlichkeit ist daher äußerst gering, dass nun auch dir dieses Glück hold ist und dich der Dämonenschatten allen Widrigkeiten zum Trotz wieder freigibt. Überleg es dir lieber noch einmal.“ Es schien tatsächlich ehrliche Sorge in seiner Ermahnung zu liegen. Dennoch tat Akinna sie mit einer abwertenden Handbewegung ab.

„Er hat recht“, bekräftigte Dantra. „Ich werde reingehen. Du bist zu wichtig, denn du bist auf jeden Fall einer der drei. Bei mir gibt es noch immer Restzweifel. Also bin ich eher entbehrlich.“

Akinna sah ihn erst bewundernd an, was Dantra seinem Mut zuschrieb, bevor ihre Gesichtszüge wieder die gewohnte Skepsis zur Schau trugen. „Netter Versuch“, sagte sie schließlich, „aber der einzige Entbehrliche hier ist der Feigling neben uns.“

Inius begriff natürlich sofort, dass er gemeint war. Aber anstatt sich entsprechend zu rechtfertigen, erklärte er nur: „Ja, hier und jetzt bin ich ein Feigling. Wenn mir hundert brüllende Feinde bis an die Zähne bewaffnet entgegenstürmen, ziehe ich mein Schwert und kämpfe bis zum Tod. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Das hat was mit dunkler Magie zu tun. Mit Übermenschlichem. Und es ist sicher mit unvorstellbaren Qualen verbunden. Seht ihr da vorn die Eiche?“ Er deutete auf einen unterarmdicken Baum vor dem Haus. „Dort werde ich warten. Macht also, was ihr wollt. Ich bin raus aus diesem Unfug.“ Er drehte sich um und ging.

Noch bevor er den Baum erreicht hatte, sagte Akinna zu Dantra: „Wenn jemand dort reingehen kann, ohne zu sterben, dann ist das ein Elb.“

„Humbug“, tadelte Dantra sie und fummelte in seiner Jacke herum. „Ich habe Erfahrung mit der Dunkelheit. Ich habe eine magische Kraft und“, er zog ein kleines Jutesäckchen aus dem Innenfutter, „ich habe das hier!“

Akinna sah ihn erstaunt an. „Was ist das?“

„Das ist Fliederpulver. Ich habe es von E’Cellbra bekommen. Sie sagte damals, falls ich noch einmal in den dunklen Wald hineingehen müsse, weil ich verfolgt würde oder so, sollte ich es mit Wasser vermischen und mir auf die Kleidung reiben. Ich hätte nie gedacht, dass ich es wirklich mal brauche. Daher hatte ich bis eben völlig vergessen, dass ich es dabeihabe“, fügte er entschuldigend hinzu.

„Meinst du, es reicht für uns beide?“, fragte Akinna und roch an dem Inhalt.

„Ich denke schon. Es war ja ursprünglich für Tami und mich gedacht. Also wird es wohl genug sein. Meinst du, wir sollten zusammen reingehen?“

„Vier Augen sehen mehr und vier Hände kämpfen besser. Ich denke, es wäre das Beste.“

„Na gut“, pflichtete er ihr bei. „Aber das mit den vier Augen werden wir erst noch sehen. Gut möglich, dass es nur drei sind.“

Mitleid umhüllte ihren Blick. „Wie auch immer“, sagte sie. „Lass uns anfangen.“

Dantra kratzte den Dreck aus einem zerbrochenen Tonkrug, den er in einer der Ecken gefunden hatte und dessen Boden noch heil war. Danach kippte er etwas Wasser aus seinem Trinkschlauch hinein, öffnete den Beutel und schüttete den Inhalt ins Gefäß. Nachdem er die Flüssigkeit mit einem kleinen Stock verrührt hatte, sagte er: „Ich denke, das war es. Jetzt müssen wir das Zeug nur noch auf unsere Kleidung kriegen.“

Akinna trat mit einem kleinen Mistelzweig an ihn heran. „Damit müsste es gehen“, meinte sie, tauchte die Blätter in die Tinktur und ließ diese mit schwingenden Handbewegungen auf Dantras Kleidung niederregnen. Erst vorn, dann auf dem Rücken. Anschließend übernahm Dantra den Zweig und tat selbiges bei ihr.

Nun standen sie da. Kampfbereit und zögernd. Akinna hatte die Waffen, die sie Inius abgenommen hatte, hinter einigen Sträuchern verschwinden lassen, um nicht so viel Ballast mit sich zu tragen. Dantra hatte es ihr gleichgetan, das schwere Schwert Comals vom Rücken genommen und es zusammen mit seiner Ausrüstung zu den anderen Waffen gelegt. Er hielt nun sein Elbenschwert in der Hand, sie schussbereit ihren Bogen.

„Wie fühlt es sich an, wenn man dort drin ist?“, fragte Akinna, ohne ihren Blick vom Schatten abzuwenden.

„Kalt“, erwiderte Dantra. „Von innen heraus eisig kalt.“

Akinna spannte die Sehne ihres Bogens so weit, dass sie die eiserne Metallspitze mit den bogenhaltenden Fingern berührte. Sogleich begann sie, glänzend zu leuchten, wie es auch Dantras Schwert immer tat, wenn sie es in die Hand nahm. Langsam schob sie die wie mit Diamantenstaub überzogene Spitze ins Dunkel des schwarzen Baumwalds. Der Glanz erstarb. Es war, als würde er aufgesaugt und niedergerungen werden wie ein verletzter Käfer von einer ausgehungerten Ameisenkolonie.

Sie nahm den Bogen runter und holte den Lumenkristall aus ihrem Umhang. Sie rieb ihn zwischen ihren Händen und legte ihn auf ein Stück Baumrinde. Als er aufleuchtete, schob sie ihn, wie vorher schon die Pfeilspitze, ganz langsam ins Dunkel. Auch dieses Leuchten erlosch so schnell, wie der Schall eines Angstschreis verhallte. Sie zog den Kristall zurück und musste mit Bedauern feststellen, dass die Hälfte, die in den Schatten getaucht war, nicht wieder aufleuchtete.

Auch nicht, nachdem sie den Stein erneut zwischen ihren Händen gerieben hatte. Ihr Bedauern schlug in Angst um. Aber nur kurz. Danach entbrannte die Wut. Sie hasste es, wenn sie die unnützen Gefühle der Menschen, zu denen die Angst gehörte, überkamen. Und sie war stinksauer, dass der Schatten ihren Kristall zerstört hatte.

„Jetzt reicht es mir“, entfuhr es Akinna zornig. „Wir gehen da hinein. Und auf wen oder was wir auch immer stoßen, wir treten ihm mächtig in den Arsch.“

„Goracks.“

„Bitte?“

„Goracks. Wir treffen dort drin auf Goracks. Und sosehr ich es mag, wenn du deine gute Kinderstube mal vergisst und stattdessen sagst, was du denkst, um denen in den Arsch zu treten, sind es zu viele.“

Sie stutzte. „Mir egal, ich gehe jetzt da rein und hole den Dolch.“

Dantra blieb keine Zeit, um noch einmal über ihr Vorhaben nachzudenken, denn Akinna hatte die Grenze zum dunklen Baumwald mit einem Schritt passiert und im Gegensatz zu ihm, als er das erste Mal hineinging, kam sie auch nicht vom Schrecken der Beklemmung getrieben sofort wieder heraus.

Der moderige Geruch, das unbehagliche Gefühl und vor allem der Eindruck, das wenige Schlechte in ihm wie sein Jähzorn oder der Hass auf einige Menschen würde alles Gute niederrennen, waren wieder da. Alles war da und erinnerte ihn unwillkürlich an seinen Todeskampf. Sein aussichtsloser Widerstand gegen die unmenschliche Qualen bringenden Goracks.

Er fasste sich an sein schmerzendes Auge. Unter seinen Fingern spürte er eine breite und tiefe Narbe, die sich über sein halbes Gesicht zog. Dass er mit einem Auge nichts sehen konnte, bemerkte er kaum, da es in der Finsternis ohnehin kaum etwas zu sehen gab. Sein ganzer Körper schrie vor Schmerzen auf. Überall, wo sie ihn seinerzeit gebissen hatten, war er nun von Narben übersät. Aber dort, wo sie sich bereits tiefer hineingenagt hatten, waren die Verletzungen nicht mehr heilbar. So wie seine Finger nicht nachwuchsen, so war es auch bei diesen Wunden. Und sie waren es, die ihm nun die meisten Probleme bereiteten. Mit dem linken Bein konnte er kaum auftreten und sein rechter Arm war ohne jedes Gefühl, sodass ihm sein Schwert aus der Hand fiel. Dantra hob es mit der linken Hand auf und versuchte, es mit den verbliebenen drei Fingern, so gut es ging, zu halten.

Als er wieder nach vorn sah, stand Akinna vor ihm. Sie hatte sich vorgenommen, seinen Verletzungen, wie schwer der Anblick auch immer sein mochte, keine Bedeutung zukommen zu lassen. Dieses Vorhaben war allerdings gar nicht so leicht.

Nachdem sie mehr als einmal schlucken hatte müssen, fragte sie besorgt: „Willst du nicht doch lieber draußen warten?“

„Auch wenn ich mich fühle wie ausgekotzt“, erwiderte er trotzig, „fürs Arschtreten reicht es allemal.“ Er versuchte sich dabei so aufrecht wie möglich hinzustellen und einen schmerzfreien Gesichtsausdruck aufzusetzen. Ihr Blick allerdings blieb mitleidig. „Nichts kann mich dazu bringen, dich in dieser Hölle alleine zu lassen“, fügte er mit fester Stimme hinzu.

Sie nickte kurz und eine Spur Dankbarkeit ließ ein Lächeln über ihr Gesicht huschen.

Bis sie das andere Ende des Raumes erreicht hatten, ließ sich kein Gorack blicken. Nicht lange und sie hatten die ehemalige Feuerstelle gefunden. Akinna tastete die Rückwand ab. Kurz darauf hörte Dantra, der in der Dunkelheit versuchte, die Umgebung im Auge zu behalten, das dumpfe Kratzen von aufeinanderreibenden Steinflächen.

„Hier ist es“, sagte Akinna mit erleichterter Zuversicht, die aber sogleich weichen sollte. Denn das Durchsuchen des Verstecks blieb erfolglos. Es war leer. „Verdammter Mist!“, fluchte sie. „Hier ist rein gar nichts drin!“

„Und jetzt?“, fragte Dantra.

„Das Versteck war verschlossen“, erklärte sie und suchte dabei mit den Augen den Boden vor sich ab. „Es ist also unwahrscheinlich, dass der Dolch aus irgendeinem Grund herausgefallen ist und nun hier herumliegt.“

„Lass uns erst einmal wieder von diesem Gedanken fesselnden Ort verschwinden, bevor wir weitere Überlegungen anstellen“, drängelte Dantra.

Sie gingen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nach wenigen Schritten erkannten sie schon den hellen Schleier des ersehnten Sonnenlichts. Allerdings nur teilweise. Es schien, als würde an einigen Stellen etwas Dunkles das schwache Licht aufhalten. Sie sahen sich kurz fragend an und gingen dann kampfbereit weiter. Das lichtbrechende Dunkel formte sich zu Schatten und mit jedem weiteren Schritt formten sich die Schatten zu Gestalten, bis aus diesen schließlich Soldaten wurden. Gekleidet in schwarze Rüstungen und bis an die Zähne bewaffnet. Selbst ihre Haut war von einem ungesund wirkenden Grau überzogen. Sie standen einfach nur da. Regungslos und mit geschlossenen Augen. Es mussten mindestens sechs sein. Genau konnte man es nicht bestimmen. Sie waren zwar, weil wie an einer Schnur aufgereiht, leicht zu zählen, doch ließ das fehlende Licht die eventuell weiter links und rechts stehenden im Trüben.

„Sind das Goracks?“, fragte Akinna flüsternd.

„Nein, nicht wirklich“, gab Dantra als Antwort und ließ ein besorgtes Schlucken hören. Er versuchte, etwas von dem Fliedergeruch, den er verströmte, zu ihnen hinüberzufächeln. Die erhoffte Reaktion blieb aber aus. „Vielleicht können wir heimlich zwischen ihnen hindurchhuschen“, schlug er schließlich vor.

Akinna nickte und im selben Moment öffneten die schwarzen Gestalten ihre Augen, die kaum weniger grau waren als die Lider, die sie gerade noch bedeckt hatten. Ohne einen weiteren Moment des Zögerns griffen sie an. Dantra wich einem Schwerthieb aus und ließ seine eigene Waffe nach vorne schnellen. Er sah, wie er seinem Gegenüber seine Schwertspitze zwischen die Rippen stieß, aber spüren konnte er nichts. Keinen Widerstand. Kein Verkanten der Klinge an den harten Knochen. Nichts. Er hatte das Gefühl, in den Rauch eines stark qualmenden Feuers gestochen zu haben. Aber das Erschreckendste daran war, dass der Angreifer anscheinend auch nicht mehr gespürt hatte. Kein von Schmerzen verursachtes Zurückweichen. Kein wimmernder Aufschrei. Nicht einmal ein Zucken. Unbeeindruckt davon, dass das Schwert in ihm steckte, schlug er erneut mit dem seinen auf Dantra ein. Ein weiterer Schritt zurück rettete diesen vor dem tödlichen Hieb.

Er sah kurz zu Akinna, die sich ebenfalls auf dem Rückzug befand und ununterbrochen Pfeile abschoss, die allerdings wirkungslos durch ihre Ziele hindurchflogen und irgendwo im schwachen Licht dahinter verschwanden.

„Lauf!“, schrie sie.

Dantra drehte sich um und rannte. Aber wo sollte er hin? Er konnte doch kaum etwas sehen. Nach wenigen Schritten war er wieder an der Rückwand mit der vor langer Zeit verglühten Feuerstelle.

„Da lang!“, rief Akinna und schob ihn vor sich her.

In der linken Ecke des Raumes schien eine Tür zu sein. Nachdem sie hindurchgehuscht waren, liefen sie einen kurzen, halbrunden Gang entlang, um durch eine weitere Tür ins Freie zu gelangen. Die Freude darüber währte nicht lange, waren sie doch stattdessen noch tiefer in den Wald hineingeraten.

„Dein Fliedergeruch scheint bei diesen Dämonen nicht zu funktionieren“, stellte Akinna enttäuscht fest.

„Sie scheinen Probleme mit ihrem Geruchssinn zu haben“, gab Dantra achselzuckend zurück. „Was machen wir jetzt?“

„Wir bewegen uns parallel zur Waldgrenze“, erklärte Akinna ihr Vorhaben, „um dann etwas weiter unten einzulenken, damit wir wieder aus dem Wald herauskommen.“

Sie rannten einen kleinen Pfad entlang, der von Haus zu Haus zu führen schien. Bereits nach dem nächsten Gebäude verließen sie ihn und bewegten sich nun erneut auf die Grenze zu. Jedoch nahmen sie schon nach wenigen Schritten die dunklen Umrisse wahr, die auch hier ein Weiterkommen unmöglich machten.

„Verflucht“, schimpfte Akinna.

Sie drehten sich wieder um und mussten mit Entsetzen feststellen, dass sich einige der dunklen Kämpfer hinter ihnen aufgestellt hatten. Ein Fenster in dem Gebäude, an dem sie gerade vorbeigelaufen waren, schien ihr einziger Ausweg zu sein. So schnell es ging, kletterten sie hindurch und durchschritten den Raum. Die Wand, auf die sie trafen, wies keinerlei Möglichkeiten zur weiteren Flucht auf. Dennoch tasteten sie hektisch die kalten Steine ab, wobei sie mehr nach hinten starrten als nach vorn aus Angst vor einem tödlichen Hieb aus der Dunkelheit.

Dantras Herz raste. Die Panik wuchs. Die Erinnerung an das, was die Goracks mit ihm gemacht hatten, ließ ihn fast wahnsinnig werden. Wenn diese kleinen, unscheinbaren Viecher ihm schon solche Schmerzen zufügen konnten, wie groß würden dann erst die Leiden und Qualen werden, wenn diese schwarzen Gestalten ihn in ihre toten Finger bekämen?

„Was jetzt?“, schrie er mit panischer, hoher Stimme Akinna an. Noch bevor sie antworten konnte, trat er in ein Loch im Boden und stürzte.

Akinna schenkte seiner bei diesem Sturz zugezogenen Prellung am Knie keine weitere Beachtung. Stattdessen untersuchte sie die vermeintliche Stolperfalle. „Es muss eine alte Speisekammer sein“, stellte sie fest. Nach einem suchenden Blick durch den Raum zog sie Dantra zu sich. „Ich kann keinen von ihnen sehen. Vielleicht haben sie uns aus den Augen verloren. Wir sollten hier runterklettern und uns verstecken.“ Die Hoffnung, so ihren Häschern zu entkommen, war gering, aber vor der unüberwindbaren Wand stehen zu bleiben, schien noch aussichtsloser.

Sie waren kaum unten, als sie das Kratzen eines Schwertes an der Öffnung hinter ihnen hörten. Wer diese Wesen auch immer waren, sie wussten genau, wo sie Dantra und Akinna finden konnten. Es schien, als hätten sie geahnt, dass die beiden dort hineinklettern würden, als hätten sie es sogar gewollt. Die Kammer, in der sie nun gefangen schienen wie Ratten in einer Falle, war nach hinten eingestürzt, denn lose Erde häufte sich hier auf. Akinna schlussfolgerte, dass ein Teil der Kammer außerhalb des Hauses liegen musste, sonst wäre es keine Erde, sondern Gestein, das sich hier auftürmen würde.

Sie kroch an die höchstgelegene Stelle und fing an, nach oben zu graben, während Dantra die Öffnung zum Haus im Auge behielt. „Ich bin durch“, flüsterte sie schließlich und hielt Dantra von oben die Hand hin, um ihn herauszuziehen.

Obwohl er gerade noch niemanden hinter sich gesehen hatte, packte ihn nun etwas am Fußgelenk und zog ihn zurück. Der Schrecken, der ihn durchfuhr, ließ ihn nahezu in eine Schockstarre verfallen, wenn Akinna ihn nicht von oben angeschrien hätte, sich zusammenzureißen. Panisch riss er sich aus der Umklammerung los und stürzte so schnell nach oben, dass er Akinna dabei umriss. Auf der Erde sitzend, nach Luft schnappend und mit weit aufgerissenen Augen in Richtung Erdloch starrend, fragte er schon fast wimmernd: „Wohin jetzt?“

Sie befanden sich zwischen zwei Gebäuden und wieder waren beide Wege, die von dort wegführten, von ihren Verfolgern versperrt.

Akinna zog ihn auf die Beine. „Da lang.“

Erneut blieb ihnen wieder nur eine Tür zur Flucht. Aber kaum waren sie hindurch, bemerkten sie, dass sie wieder im Haus des Baumeisters gelandet waren. Allerdings mit einem erheblichen Unterschied. Vor dem Kamin stand eine weitere Gestalt mit dem Rücken zu ihnen, allerdings wesentlich kleiner als diejenigen, die hinter ihnen her waren. Und vor allem heller. Aber nicht einfach nur heller. Von ihr schien ein Licht auszugehen, als wäre sie selbst eine Lichtquelle. Der Anblick war so grotesk, so unwirklich, so unendlich fehl an diesem beklemmenden Platz, dass sie beide ihre Verfolger und die damit drohende Gefahr völlig vergaßen und nur noch gebannt auf die kleine Gestalt starrten. Sie sahen zu, wie sie mit ihrer schmalen Hand in das von Akinna bereits durchsuchte und anschließend unverschlossen gelassene Versteck griff. Zu ihrem Erstaunen zog sie etwas golden Glänzendes heraus. Dann stellte sie sich wieder aufrecht hin und drehte sich langsam zu ihnen um.

Drachengabe - Diesig

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