Читать книгу Drachengabe - Diesig - Torsten W. Burisch - Страница 13
Kapitel 4
ОглавлениеEin Kind, ein Mädchen mit langen, glatten blonden Haaren und einem engelsgleichen Gesicht, verziert mit zwei großen ozeanblauen Augen, stand vor ihnen. Es war gekleidet in ein schlichtes weißes Rüschenkleid. Mit einem unschuldigen, fast schon um Vergebung bittenden Blick sah die Kleine sie an. Mit einem zögerlichen, herzzerreißenden Lächeln schien sie um Anerkennung oder zumindest um ein liebes Wort zu bitten. Aber weder Dantra noch Akinna konnte etwas sagen. Die Mensch gewordene Unschuld stand in einem so unbegreiflichen Gegensatz zu diesem blutrünstigen Ort, dass sie nichts anderes als staunen konnten.
Das Mädchen hockte sich hin, legte den nun eindeutig zu erkennenden Dolch vor sich auf den Boden und stupste ihn an, sodass er sich wie ein Kreisel um sich selbst drehte. Leise, aber dennoch gut zu verstehen, begann die Kleine zu singen, wobei die Melodie Dantra an ein Lied erinnerte, das seine jüngeren Mitschülerinnen immer angestimmt hatten, wenn sie im Innenhof der Klosteranlage Seilspringen spielten.
„Der Dolch, er dreht sich immer rum,
er ist so schlau und gar nicht dumm.
Steht er erst still, dann wissen wir,
wer durch mich seinen Tod gleich findet ... hier.“
Dantra glaubte, sich verhört zu haben. Sein Blick in Akinnas Gesicht, deren Augen noch immer auf dem Mädchen hafteten, brachte ihm jedoch auch keine Gewissheit.
Inzwischen verlor der Dolch an Schwung, sodass die Klinge, die schwerer als der Griff zu sein schien, sich auf den Steinboden absenkte und kratzend zum Stillstand kam. Die Spitze zeigte links an Dantra vorbei.
Das Mädchen sah langsam auf und schaute in die gewiesene Richtung. Mit enttäuschter Stimme sagte es klagend: „Ach, Rimorob, dich hab ich doch schon getötet.“
Dantra sah links hinter sich und zuckte zusammen. Dort stand einer der schwarzen Soldaten, keinen Schritt weit von ihm entfernt. Er hatte seine Augen wieder geschlossen und sah aus wie eine lebensgroße Tonfigur.
„Na gut“, flötete das Mädchen nun wieder freudig gestimmt. „Dann drehen wir noch mal.“ Wieder gab die Kleine dem Dolch Schwung und sang das Lied.
Das gab Dantra die Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, dass er sich gerade eben nicht verhört hatte. Als das Kratzen der Klinge abermals den letzten Rest an Drehung abfing, zeigte die Spitze auf Akinna.
„Eijeijei“, sagte das Mädchen freudestrahlend. „Wir haben einen Gewinner.“ Es stand langsam auf, ohne dabei den Blick von Akinna zu nehmen. Mit jeder Handbreit, die es sich weiter aufrichtete, verdunkelte sich sein Gesicht. Nicht der Gesichtsausdruck. Nein, der blieb freundlich. Aber das Licht, das von der Kleinen auszugehen schien, wich, als hätte sich ein dunkle Wolke vor die Sonne geschoben, deren Schatten nun auf dem blassen Gesicht des Mädchens ruhte.
„Dein Tod ist nun nicht mehr weit,
doch tröste dich, dienst doch mir
bis in alle Ewigkeit!“
Mit diesen Worten verengten sich die Augen der Kleinen zu hasserfüllten Schlitzen.
Dantra wollte etwas sagen, sie für ihre Boshaftigkeit tadeln und zur Rede stellen. Doch ein vertrautes Summen ließ ihn stocken. Akinna hatte einen Pfeil abgeschossen. Wobei es eigentlich nicht das Geräusch gewesen war, das ihn innehalten ließ. Denn noch bevor das Summen wieder verstummte, hatte der Pfeil auf seinem Weg zum Ziel, das zweifelsohne die Stirn des Mädchens war, ebenfalls innegehalten. Nicht mehr als zwei Fingerbreit von der nun fast schon hellgrauen Haut des Mädchens entfernt schwebte er in der Luft. Als würde er an unsichtbaren Fäden hängen, verharrte das Geschoss absolut bewegungslos.
Das Mädchen legte seinen Kopf in den Nacken und streckte die Arme zu einer alles beherrschenden Geste aus. „Dies ist mein Reich“, sagte es mit einer Stimme, in der kein Funken von Zartheit mehr lag. Sie hörte sich jetzt viel dunkler, kratziger und vor allem älter an. „Ich bin Mortuus. Ich bin eine Magierhexe der schwarzen Seele aus dem Fürstenhaus Clamor Manes. Und dies ist mein Reich.“ Die langen goldblonden Haare färbten sich vom Ansatz bis zu den Spitzen rabenschwarz. „Dies ist nicht die Welt der grünen Bäume und blauen Seen. Dies ist der Ort der ewigen Dunkelheit. Dies ist die Welt, wie ich sie erschaffen habe. Dies ist mein Reich.“
Mit einem zwischen Akinna und Dantra hin- und herwandernden Blick wuchs das Mädchen zu einer erwachsenen Frau heran. „Ich befehlige die Totengarde, die tödlichste aller Armeen. Jedes noch so kleine, totlebende Getier in diesem Wald ist mir hörig. Denn dies ist mein Reich.“
Selbst das unschuldige samtweiße Kleid der Hexe verwandelte sich in ein bedrohlich wirkendes schwarzes Ledergewand, das sich über ihren Körper spannte und zu den Armen und Beinen hin in einem bordeauxroten Stoff auslief.
„Niemand kommt hierher und bestiehlt mich in dem Irrglauben, ich sei nicht wachsam genug, um es zu bemerken. Nicht hier, nicht in meinem Reich.“ Auch wenn von dem süßen, kindlichen Aussehen nun nichts mehr übrig war, so musste man ihr trotz des irre wirkenden Gesichtsausdrucks eine betörende Schönheit zugestehen. „Und so ist auch euer Lebensweg hier und jetzt zu Ende. Selbst eurem Schatten bringe ich den Tod.“
Wie auf Befehl stand einer ihrer Handlanger neben ihr. Die Hexe hielt ihre Handfläche nach oben und sofort begann eine kerzengroße Flamme, auf dieser zu zucken. Das aufflackernde Licht ließ den Schatten des Mannes auf den schmutzigen Steinboden fallen. Allerdings nur die Arme, Beine und den Körper. Der Kopf fehlte.
Währenddessen waren zwei Männer der Totengarde unbemerkt von hinten an Dantra und Akinna herangetreten und packten sie so fest an den Armen, dass sie das Gefühl hatten, zwischen zwei Baumstämmen eingekeilt zu sein. Ganz egal, wie sehr sie sich gegen ihre Häscher wehrten, sie schafften es nicht, dass diese auch nur den kleinsten Finger rühren mussten. Nicht einmal ein Zucken war zu spüren. Selbst das verzweifelte Nach-hinten-Treten blieb ähnlich erfolglos wie anfangs das Attackieren mit dem Schwert. Es fühlte sich erneut so an, als würde man den Rauch eines Feuers auseinanderfächeln.
„Und nun, meine Liebe“, sagte die Magierhexe unheilvoll, aber nicht ohne die unbändige Vorfreude in ihren Augen zu verhehlen, zu Akinna, „wirst du sterben und auf ewig meiner Totengarde angehören.“ Der Elbenpfeil, der sich während Mortuus’ kompletter Verwandlung nicht von seinem Platz, zwei Fingerbreit vor der Stirn der Magierhexe, fortbewegt hatte, begann sich langsam zu drehen, bis er mit der Spitze direkt auf Akinna zeigte. Dann kam er langsam auf sie zu. „Ich könnte ihn natürlich genauso schnell fliegen lassen, wie du es gerade getan hast“, erklärte Mortuus mit boshafter Stimme, „aber es ist viel interessanter, wenn ein Pfeil sich ganz langsam in das Opfer hineinbohrt. Du weißt, was ich meine.“ Sie grinste schäbig. „Dieses In-die-Haut-Drücken, bis sie endlich reißt, das Eintauchen ins herausquellende Blut und das Knacken der Knochen, wenn die Spitze sich in dein ach so hübsches Köpfchen versenkt.“
Dantra zerrte an seinen toten Fesseln und schrie: „Lass sie in Ruhe, du verfluchter Dämon! Sie hat dir nichts getan!“
„Ach, schweig still!“, befahl die Magierhexe ihm abwertend und sogleich wurde Dantra von einer dritten Hand, dessen dazugehörigen Körper er nicht sehen konnte, der Mund zugehalten. „Der Tod eines Menschen ist bei Weitem nicht so unterhaltsam wie der eines Elben. Also verdirb mir nicht diesen herrlichen Moment meines Schaffens. Du hast gleich noch genug Zeit, um vergeblich zu winseln.“
Hass, Wut, all diese kraftbringenden Gefühlszustände brachten ihn nicht weiter. Und mit seiner magischen Kraft konnte er Akinna auch nicht helfen. Wenn schon die Männer der Totengarde aus Rauch zu sein schienen und damit seiner Kraft problemlos entgegenwirkten, würde Mortuus wohl nur lautstark über seinen kläglichen Versuch, sie auf diese Art zu töten, lachen.
Akinna rang nach Luft. Der Pfeil war nur noch eine Armlänge von ihrem Kopf entfernt. Das Gefühl der Angst, welches sie in diesem Ausmaß bisher erst einmal in ihrem Leben gespürt hatte, schien sie zu übermannen. Ihre Waffen waren hier wirkungslos. Ihre angeborene Unverwundbarkeit würde aufgrund des von Elben gefertigten Pfeils wirkungslos bleiben. Sie war absolut machtlos, hilflos und die Aussicht auf das, was nach ihrem Tod folgen würde, ließ sie schaudern.
„Komm schon, denk nach“, befahl sich Dantra schweigend selbst. „Es muss eine Möglichkeit geben, Akinna zu helfen. Es gibt immer eine Möglichkeit, denk nach.“ Für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, in der Zeit zurückgereist zu sein und wieder auf der Lichtung, an den Baumstumpf gefesselt, den Banditen gegenüberzustehen. Jedoch war seine aktuelle Situation noch aussichtsloser. Er konnte nicht einmal mehr schreien.
Akinnas Beine wurden weich. Der Pfeil war nun schon bis auf eine Handbreit an sie herangekommen. All ihre sonst so hilfreichen scharfen Sinne bereiteten ihr nun die größten Qualen. Denn sie hörte nichts, was ihr bevorstehendes Schicksal noch abwenden könnte. Sie sah nichts, was ihr Hoffnung auf Rettung gab. Und sie roch nichts außer Moder und Tod.
Dantras verzweifelte Suche nach einer rettenden Idee wich seinen Selbstvorwürfen. Hätte er Akinna doch nur davon abgehalten, hier hereinzugehen, sie beschworen und bekniet, eine andere Lösung zu finden, um an den Dolch zu kommen. Oder sie wenigstens so lange hingehalten, bis sie mit Nomos reden konnte. Er hätte sie sicher davon abbringen können, ihr Leben bei diesem hoffnungslosen Unterfangen aufs Spiel zu setzen.
Akinnas Herz raste wie noch nie. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Übelkeit stieg in ihr auf. Der Pfeil war nun schon so nah, dass sie die Spitze nicht mehr sehen konnte. Sie war eine Elbin und hatte Todesangst. Das passte eigentlich nicht zusammen. Aber hier und jetzt würde sie der Tod ereilen. Und es spielte keine Rolle mehr, ob ihr Elbenmut sie nun verließ, um sie menschlich zitternd zurückzulassen.
„Hätte ich diese verdammte Magierhexe doch nur nicht beschimpft“, bereute Dantra. „Vielleicht hätte ich sie davon überzeugen können, dass es ihr mehr nützt, uns am Leben zu lassen. Oder ich hätte sie wenigstens überreden können, mich als Erstes zu töten. Vielleicht wäre Akinna dann in einem unbedachten Moment die Flucht gelungen. Oder hätte ich doch wenigstens nach Inius rufen können. Vielleicht wäre er uns zu Hilfe gekommen. Obwohl, was hätte er schon tun können? Auch wenn er seine Waffen gefunden hätte, so wäre sein Schwert ebenso machtlos gegenüber dieser Höllenbrut gewesen. Er hätte höchstens den Pfeil niederschlagen können ... Der Pfeil!“
Die kalte Spitze drückte bereits gegen Akinnas Haut, als Dantra das Geschoss mit einer Salve seiner magischen Kraft in das dahinterliegende Dunkel schleuderte. Es hinterließ einen dünnen roten Strich auf Akinnas Stirn. Wie hatte er nur so lange nach einer Lösung suchen können, obwohl sie doch direkt vor ihm lag? Dantra war fassungslos über seine Dummheit. Er ärgerte sich unbändig, dass er erst jetzt begriffen hatte, dass der Pfeil das einzig Reale in diesem bizarren, bösen Spiel der Magierhexe war und damit auch das Einzige, was für seine magische Kraft als Angriffspunkt infrage kam.
Mortuus wutverzerrtes Gesicht, mit dem sie Dantra ansah, ließ sein bevorstehendes Ende erschreckend näher rücken. „Du“, krächzte sie und streckte ihre Hand nach ihm aus, als wollte sie ihn am Hals packen, um ihm die Kehle zuzudrücken. Dabei wuchsen ihre Fingernägel rasend schnell zu messerscharfen Klingen heran. Aber noch bevor sie die zwei fehlenden Schritte auf ihn zumachte, schien sich ihre Boshaftigkeit in Verwunderung aufzulösen. Ihre Augen begannen, nervös zu zucken. Es sah aus, als hätte sich ihr ein Gedanke aufgedrängt, der bis jetzt hinter dem Nebel der Vergangenheit verborgen geblieben war und sich nun durch Dantras Verhalten in seiner ganzen Wichtigkeit zeigte.
Die blutgierigen Krallen zogen sich zurück. „Warum wolltet ihr den Dolch stehlen?“, fragte sie mit wachsendem Interesse Akinna.
Diese jedoch schwieg. Die unmittelbare Bedrohung durch den Pfeil war abgewendet und sogleich hatte ihr Elbenstolz die gerade noch erdrückend schwere Angst wieder verdrängt.
„Willst du mir nicht antworten?“, lächelte Mortuus sie an, während sie ihre Hand ausstreckte und den Pfeil, der nun aus der Dunkelheit zurückgesaust kam, ohne hinzuschauen, kurz hinter der Spitze auffing.
Akinna war nicht gewillt, ihrer Peinigerin Rede und Antwort zu stehen. Aber einfach nur zu schweigen, war sicher auch keine gute Idee. „Du bringst uns doch sowieso um. Wieso sollte ich dir dann von unseren Absichten erzählen?“, erwiderte sie trotzig, wobei das leichte Zittern in ihrer Stimme den Rest ihrer Todesangst verriet und fehl am Platz wirkte.
Mortuus hob eine ihrer schmalen Augenbrauen. „Vielleicht lasse ich euch ja, wenn mir das, was ich höre, gefällt, am Leben.“ Als symbolische Unterstreichung ihrer Worte schob sie den Elbenpfeil zurück in Akinnas Köcher.
Akinnas Hoffnung, ihrem Todesurteil zu entkommen, konnte ihren Stolz nicht besiegen. Sie schwieg.
„Findest du nicht, dass sie etwas arrogant rüberkommt?“, fragte Mortuus Dantra, als würden sie bei einer Tasse Tee über die Nachbarschaft herziehen.
Er schämte sich, Akinnas bewundernswerten elbischen Stolz je mit Arroganz verwechselt zu haben. Aber eine Antwort von ihm war ohnehin nicht erwünscht, denn noch immer wurde ihm von hinten der Mund zugehalten.
„Schweig ruhig, meine Liebe“, sagte die Hexe an Akinna gewandt verständnisvoll. „Ich brauche sowieso mehr als nur deine momentanen Gedanken. Ich brauche deine Erinnerung. Dein ganzes bisheriges Leben.“ Sie trat ganz dicht an die Elbin heran, drehte ihren Kopf so, dass ihr Ohr direkt vor Akinnas Mund lag, und tippte dann mit ihrem Zeigefinger auf Akinnas Kinn. Sofort öffnete die Elbin ihren Mund und begann zu flüstern. An ihrem entsetzten Gesicht erkannte Dantra, dass sie nicht freiwillig redete und nicht einmal selbst verstand, was sie da eigentlich sagte.
In dem Gesicht der Magierhexe hingegen, welches nun Dantra zugewandt war, konnte er sehen, dass sie sich nicht nur auf das Gehörte konzentrierte, vielmehr sah es sogar aus, als wäre sie in eine Art Trancezustand oder in eine geistige Abwesenheit verfallen. Was dann geschah, übertraf alles, was Dantra je an Magie gesehen hatte. Sogar alles, was er je von Magie gehört hatte. Mortuus’ Gesicht veränderte sich stetig, während ihr Kopf und ihre Haare unverändert blieben. Es spiegelte die Gesichter jener Menschen in der Reihenfolge wider, in der Akinna ungewollt von ihnen berichtete. Jedes Gesicht verweilte nicht länger auf dem der Hexe, als die Flamme einer Kerze zuckt, wenn sie sich am Ende des Dochtes befindet.
Dass es sich dabei um Menschen aus Akinnas Vergangenheit handeln musste, war Dantra in dem Moment klar, als er ein wunderschönes Gesicht mit eindeutigen Elbenzügen darin sah. Zu seinem Bedauern hatte er das erste Antlitz verpasst. Schockiert über Akinnas unfreiwilligen Informationsfluss wurde ihm erst bewusst, dass sich das Gesicht Mortuus’ veränderte, als es, nur von Dantras Unterbewusstsein wahrgenommen, zum zweiten Mal eine andere Form annahm. Es kamen noch einige andere, die Dantra, mit Ausnahme von Nomos, nicht kannte. Erst als der Königssohn Uras auftauchte und kurz darauf er selbst, war Dantra sich sicher, dass sich die Gesichter nicht nur in der Reihenfolge ihrer Erwähnung zeigten, sondern dass die unfreiwillige Erzählung Akinnas mit ihrer Geburt begonnen hatte und sich bis zum heutigen Tag erstreckte.
Als wieder die graue, glatte Haut von Mortuus erschien, besann diese sich der Gegenwart. „So, so. Sehr interessant“, sagte sie sinnierend. Ihr umherschweifender Blick blieb schließlich an Dantra hängen. „Na, dann wollen wir doch mal hören, was du zu sagen hast.“
Die Hand, die ihm gerade noch den Mund zugehalten hatte, verschwand. Die Magierhexe stellte sich nun so vor ihm auf, wie sie es schon bei Akinna getan hatte, und drehte sich dabei mit dem Gesicht zur Elbin. Zu Dantras Erschrecken sah diese aber immer noch schockiert über ihre Machtlosigkeit stur nach vorn.
Dantra schaffte nur noch ein „Akin...“, bis er den Finger der Magierhexe auf seinem Kinn spürte. Sofort begann sein Mund ohne sein Zutun mit dem Flüstern von Worten, die er selbst nicht verstand, und erzählte von seiner Vergangenheit. Es waren nur wirre Laute, die aus ihm herauskamen, und keine durchdacht klingenden Sätze. Aber das war Dantra völlig egal. Er sah mit großer Erleichterung, dass Akinna wie gebannt auf das Gesicht von Mortuus starrte.
Als sein Mund sich wieder zum Schweigen schloss, durchquerte Mortuus nachdenklich den Raum. Am Ende angekommen, drehte sie sich wieder zu ihnen um und begutachtete sie noch einen Moment, bevor sie beide mit überschwänglicher Freundlichkeit dazu aufforderte, näher zu kommen.
Einige kurze Handbewegungen später brannte ein einladendes Feuer an der Stelle, wo sie vergebens nach dem Dolch gesucht hatten, zwei Stühle und ein kleiner Thron, dessen Anblick eher abschreckend als vertrauenerweckend war, erschienen aus dem Nichts. Die dunklen Gestalten, die Dantra und Akinna gerade noch fest im Griff gehabt hatten, verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Mortuus setzte sich auf den Thron, dessen Flanken und Vorderseite aus zerbrochenen Grabsteinen zusammengesetzt schienen. Hier und da konnte man sogar noch Teile von Namen oder die Zahlen von Daten erkennen.
Die Rückenlehne, die ihren Kopf um gute drei Fuß überragte, lief nach oben hin wie ein Trichter oder ein breiter Kragen auseinander. Sie war aus einem sehr glatten Stück Stein gearbeitet, auf dem in blutroter Schrift die Worte „Der Tod zu meinen Füßen kniet, seine Macht in meinen Händen liegt“ eingemeißelt waren. In dem Augenblick, als Mortuus Platz nahm, verschwammen die Buchstaben und ein schwer zu beschreibendes Symbol entstand an deren Stelle. Es war ein Halbkreis, aus dem einige in sich verknitterte Spitzen nach oben zeigten. Darunter waren zwei gekreuzte Pfeile und ein Schwert. Die Bedeutung war nicht gleich zu erkennen. Jedoch schien es, als würde das obere chaotisch wirkende Zeichen die Macht über die eindeutig als menschliche Waffen zu erkennenden unteren Symbole haben.
„Kommt doch. Habt keine Angst. Wenn ich euch was tun wollte, hätte ich es schon getan“, forderte die Magierhexe sie auf.
Dantra und Akinna sahen einander fragend an. Doch keiner von ihnen hatte das, wonach der andere suchte. Keiner von beiden war sich sicher, was sie tun sollten. Akinnas Entschlossenheit, jede noch so kleine Chance, von hier wegzukommen, zu ergreifen, ließ sie beide das Angebot der Magierhexe annehmen. Denn ein erneuter Fluchtversuch war kein erfolgversprechender Plan, um dieses Ziel zu erreichen. Vielleicht hatte Mortuus ja wirklich etwas von ihnen gehört, das sie dazu bewegen konnte, sie aus ihrem Reich herauszulassen.
Von dem Feuer ging eine wohltuende Wärme aus. Diese beschränkte sich nicht nur auf das Äußere, sondern oder vor allem auf die inneren Empfindungen. Das Gefühl, alles Gute in einem würde sich zum Schlechten wandeln, glückliche Erinnerungen würden verblassen und damit die schlechten hervorheben, schien zu verschwinden. Es war genau jenes Gefühl, das Dantra gespürt hatte, als E’Cellbra ihn damals aus dem schwarzen Baumwald herausgeholt hatte, er auf dem warmen Waldboden seine Besinnung wiedergefunden und die Sonne ihn in beiden Augen geblendet hatte. Beide Augen?
„Wie ist das möglich?“ Dantra fasste sich an die eben noch durch Narben verunstaltete Stelle in seinem Gesicht. Die Haut war nun wieder glatt, das Auge unversehrt. Auch die Leiden in seinem Bein schienen wie alle anderen zuvor noch schmerzenden Stellen seines Körpers wie durch ein Wunder geheilt zu sein. Seinem fragenden Blick begegnete Akinna mit einer ebenso verwunderten, aber gleichzeitig erleichterten Miene. Er sah wieder aus, wie er es immer außerhalb dieses dunklen Ortes tat.
„Ich dachte mir, es würde dir gefallen, wenn ich dir die Verletzungen nehme“, sagte Mortuus in einem schon fast mütterlichen Ton.
„Ja, natürlich“, antwortete Dantra verblüfft. „Aber wie hast du das gemacht? Das ist ja schon fast keine Magie mehr. Das grenzt schon an“, Dantra suchte mit einem umherschweifenden Blick das richtige Wort, „ein Wunder“, sagte er schließlich und starrte Mortuus an, als wäre sie das Gegenteil von dem, was sie wirklich war ‒ eine Heilige.
Die Anerkennung, die Mortuus sichtlich gefiel, ließ diese noch etwas auf sich wirken, bevor sie schließlich mit ihrer Erklärung begann. „Was in diesem Wald, in meinem Reich geschieht, erfolgt nicht nur auf mein Geheiß. Es ist eher wie mein verlängerter Arm, die umgehende Umsetzung meines Willens. Kurz, egal, was geschieht oder wo es geschieht, es geschieht durch mich.“ Mortuus machte eine kleine Pause, um das Gesagte wirken zu lassen. Als Akinna und Dantra sie erneut fragend ansahen, fuhr sie fort. „Anders als bei euch Menschen, Elben oder überhaupt allen Lebewesen da draußen vor den Toren meines Reiches kann ich hier drin jede von mir gefällte Entscheidung wieder rückgängig machen. Also, wenn ich dir diese Verletzungen zufüge, so kann ich sie dir auch wieder nehmen. Ich könnte dir sogar die Erinnerung an das damals Geschehene nehmen, aber“, ihre Stimme glitt wieder etwas ins Bedrohliche, Mahnende ab, „manche Erfahrungen sind unbezahlbare Bereicherungen.“
Natürlich wussten beide, Akinna und Dantra, sofort, wie sie das meinte. Egal, wie freundlich sie gerade zu ihnen war, ihr Leben, solange sie sich im schwarzen Baumwald aufhielten, lag in den Händen von Mortuus.
„Allerdings möchte ich von meinen Möglichkeiten keinen Gebrauch machen, wenn es darum geht, das eben Erlebte rückgängig zu machen. Im Gegenteil. Ich möchte, dass ihr euch daran erinnert, um meine Aufrichtigkeit in dieser Sache zu erkennen, indem ich etwas mache, was ich nur vom Hörensagen kenne. Ich möchte mich bei euch für die Unannehmlichkeiten entschuldigen. Es tut mir leid.“
Die von ihr erwarteten erstaunten oder gar begeisterten Blicke der beiden blieben aus. Sie waren doch eher fragend und gefasst auf den nun sicher folgenden großen Paukenschlag, der das wackelige Gerüst, auf das sich ihr Bedauern gründete, zum Einsturz bringen würde.
Mortuus verdrehte genervt die Augen. „Also schön“, sagte sie in dem dazupassenden Ton. „Ich wusste gar nicht, dass eine ehrlich gemeinte Entschuldigung so anstrengend sein kann. Ich hätte die mit eurem Erscheinen veränderte Lage natürlich sofort erkennen müssen. Aber wisst ihr, wie lange schon niemand mehr hier drin war? Mich niemand mehr mit seinem qualvollen Tod unterhalten hat? Jetzt mal von dir abgesehen“, sagte sie mit Blick auf Dantra. „Aber das war was anderes. Ich hatte mir schon gedacht, dass du mit E’Cellbra an den Rand meines Reiches gekommen bist und dass es ihre Idee war, dich hier hereinzuschicken. Es war also eine Frage der Höflichkeit gegenüber dir beziehungsweise E’Cellbra, dich wieder lebend herauszulassen.“
„Das hört sich ja fast an, als würdest du E’Cellbra kennen“, sagte Dantra erstaunt.
„Natürlich“, erwiderte sie mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte Dantra sie gefragt, ob sie schon einmal ein Grillhähnchen gegessen hätte.
„Natürlich?“, meinte Dantra überrascht. „Woher?“
Sie sah ihn an, wie es Schwester Melk immer getan hatte, wenn sie nicht begreifen konnte, dass er sich die gestellte Frage nicht selbst beantwortete. Und genau wie sie es damals immer getan hatte, beantwortete Mortuus die Frage nun nicht selbst, sondern gab sie an einen anderen Schüler weiter. In diesem Fall war das natürlich Akinna. „Hast du bereits begriffen, was ich euch bisher erklärt habe? Und kannst du ihm somit seine Frage beantworten?“
Akinna fiel es schwer, ehrlich zu sein. Eigentlich hätte sie Nein sagen müssen, um Dantra besser dastehen zu lassen und der Magierhexe, die sie gerade noch hatte umbringen wollen, nicht recht in ihrer Annahme zu geben. Aber andererseits wollte sie die Unterrichtsprozedur so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„E’Cellbra war in ihrem Reich“, erklärte sie Dantra. „Und wer oder was auch immer hier hereinkommt, wird entweder getötet oder nach eingehender Befragung über sein bisheriges Leben mit einer kleinen Erinnerungslücke wieder herausgelassen.“
„Sehr schön“, freute sich Mortuus anerkennend, „das hast du wunderbar erklärt.“ Ihr überschwängliches Lob nervte Dantra und er verzog das Gesicht in gleicher Weise, wie er es schon früher in solch einer Situation getan hatte. „Da ich E’Cellbra für eine außergewöhnliche Hexe halte“, ergänzte Mortuus, „und ihre gewonnenen Erkenntnisse über mein Reich als sehr unterhaltsam empfinde, habe ich mich dazu entschlossen, sie nicht zu töten. Auch“, sie hob tadelnd ihren Finger, „wenn ihre Annahme, dass diese Tinktur, die zweifelsohne penetrant nach Flieder riecht, hier drin irgendetwas bewirken könnte, natürlich völliger Blödsinn ist.“
Akinna sah Dantra vorwurfsvoll an, was dieser jedoch nur mit einem seine Unschuld beteuernden Achselzucken beantwortete. Erst der Dolch des Vertrauens, der wie aus dem Nichts erneut in den Händen Mortuus’ lag, lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Geschehen.
„Lasst uns nun zum Tod ...“ Mortuus stockte und ihre Augen, schwarz und funkelnd wie dunkle Perlen, schweiften umher. Dann begann sie den Satz erneut. „Lasst uns nun zu eurer überaus bedeutsamen Berufung kommen. Ihr glaubt, ihr seid zwei der drei Auserwählten, die in der Wegsagung ihre Bestimmung finden.“ Akinnas verärgertes Knurren wegen ihres ungewollten Verrats aller von ihr sorgsam gehüteten Geheimnisse drang bis an Dantras Ohr. „Und für diesen Zweck wollt ihr den Dolch haben?“, fragte Mortuus, wohl wissend um die Antwort.
Akinna nickte stumm, während Dantra ein leises „Richtig“ hinzufügte.
„Nun“, Mortuus beugte sich nach vorn und hielt Akinna den Dolch wie bei einer feierlichen Übergabe auf ihren flach ausgestreckten Handflächen entgegen, „dann sollt ihr ihn haben.“
Akinna zögerte. Sie wartete auf das Aber. Doch erst in dem Moment, als sie tatsächlich zugreifen wollte, kam es.
„Aber nur“, begann Mortuus streng, „wenn ihr mir versprecht, nach der Erfüllung eurer Bestimmung hierher zurückzukommen beziehungsweise dorthin, wo dieses Waldstück dem großen Strom am nächsten ist, um mir Bericht zu erstatten. Und zwar so schnell es euch möglich ist.“
Dantra und Akinna sahen sich an. Wenn dieses Versprechen bedeutete, dass sie hier lebend rauskamen und sogar den Dolch mitnehmen konnten, stellte sich ihnen die Frage nach der Zustimmung gar nicht. Zumal die Magierhexe nach allem, was sie bisher gehört hatten, draußen in der Welt der Lebenden keine Magie anwenden konnte, die ihnen schadete, wenn sie nie wieder zu diesem finsteren Ort zurückkehren würden. Sie sahen also Mortuus an und nickten bereitwillig.
Deren Blick strahlte zwar Zufriedenheit aus, den Dolch jedoch zog sie wieder zurück. „Nehmt es mir nicht übel, aber ich würde diese Abmachung doch gerne traditionell mit einem Handschlag besiegeln.“
Dantra und Akinna sahen sich erneut an und waren schnell einer Meinung. An einem Handschlag sollte es nicht scheitern. Wieder nickten sie Mortuus zu. Diese legte den Dolch in ihren Schoß und reichte Akinna ihre linke sowie Dantra ihre rechte Hand. Als sie beide die ihnen dargebotene Hand ergriffen hatten, erklärte Mortuus: „So, nun nehmt ihr euch noch an die Hand.“
Sie taten wie ihnen aufgetragen und in dem Moment, in dem sie sich anfassten, spürten beide ein seltsames Ziehen. Es war wie ein unsichtbares Seil, das sie aneinander und an Mortuus festhielt, allerdings von innen.
„Nicht, dass ich euch nicht glauben würde“, sprach die Magierhexe, „aber eine kleine Sicherheit möchte ich mir dennoch lieber verschaffen. Nennt es einfach ein freundschaftliches Band zwischen uns.“ Ein Vertrauen schaffendes Lächeln ihrerseits blieb wirkungslos. „Wie dem auch sei. Ich werde in jedem Fall erfahren, wie eure Mission ausgegangen ist. Aber ich möchte es so schnell wie möglich erfahren und es kann mir keiner so schnell Bericht erstatten wie die, deren Sieg es zu berichten gilt. Solltet ihr also für den Fall, dass ihr erfolgreich seid, erst noch die eine oder andere Siegesfeier planen, bevor ihr mir die Nachricht überbringt, wäre das ein eindeutiger Vertrauensbruch. Und das würde ich sofort, sobald ihr mein Reich betretet, wissen.“ Sie las in ihren Augen, dass sie begriffen hatten, was sie ihnen gerade freundlich, aber bestimmt erklärt hatte. „Und nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihr in eurer Siegeseuphorie glaubt, gar nicht mehr zu mir zurückkommen zu müssen“, ihre Miene, ihr Ton, ihre ganze Körperhaltung nahm erneut den bekannten bedrohlichen Ausdruck an, „werdet ihr auch außerhalb meiner Machtgrenzen meine Rache auf euch ziehen. In Form von ... Verwesung!“
Dantra wie auch Akinna stockte der Atem. Die Hände der Magierhexe wurden in kürzester Zeit alt, hager und faltig. Ohne eine Möglichkeit, Mortuus loszulassen, mussten sie mit ansehen, wie ihre Hände so schnell alterten, als würde man sie über offenes Feuer halten. Sich dessen wohl bewusst, dass dies nur ein böser Zauber war, etwas, das die Hexe jederzeit rückgängig machen konnte, überfiel die beiden Gefährten dennoch panisches Entsetzen. Wenngleich Mortuus mit ihrer Art, ihnen den Ernst der Lage begreiflich zu machen, bereits sichtlichen Erfolg hatte, ließ sie es sich nicht nehmen, dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen. Denn nun faulten die Hände der Hexe wie die eines Toten. Das Fleisch wurde suppig, weich und roch nach Kadaver. Ihre Knochen schimmerten immer deutlicher hindurch und die ersten Maden, die sich windend durch die Fäulnis schlängelten, erschienen. Der Ekel vor dem, was sie sahen, vor dem, was sie in ihren Händen hielten, wurde nur noch durch die Furcht übertroffen, genau dasselbe an ihren eigenen Gliedern beobachten zu müssen.
„Habt ihr verstanden, wie es euch ergehen wird, wenn ihr eurem Versprechen den Rücken kehrt?“, zischte Mortuus durch ihre Zähne. „Oder muss ich noch deutlicher werden?“
Dantra und Akinna schüttelten mit weit aufgerissenen Augen ihre Köpfe, wobei Dantra diese Geste noch mit einem zittrigen „Wir haben verstanden, ganz bestimmt! Wir haben es verstanden!“ verdeutlichte.
„So denn.“ Die Hexe ließ die beiden los und im selben Augenblick waren ihre Hände wieder in ihrem natürlichen Zustand.
Als wollten sie sich von deren Unversehrtheit überzeugen, ertasteten Dantra und Akinna ihre jeweils zurückgewonnene Hand mit der anderen.
Schweigend und beiläufig, als würde sie Akinna ein Taschentuch reichen, übergab die Magierhexe ihr den Dolch. „Ich habe beschlossen, euch bei der Erfüllung eures Versprechens und bei der Erfüllung eurer Bestimmung zu helfen.“ Die Art, wie Mortuus mit den beiden Gefährten redete, hätte nicht facettenreicher sein können. Nach freundschaftlich, belehrend und drohend war es jetzt jene, die fast alle, die auf einem Thron saßen, an den Tag legten: aus Hochmut Güte walten lassend. Dantra und Akinna bezogen die soeben gemachte Aussage auf das großzügige Überlassen des Dolches. Doch was Mortuus meinte, war etwas ganz anderes.
„Die Grenzen meines Reiches verlaufen nicht ganz so ...“ Ihr Blick verlor sich kurz nachdenklich irgendwo im Dunkel. „... sagen wir geradlinig, wie ihr glaubt. Während es auf eurer Karte so aussieht, als wären meine Ländereien wie dunkle Flecken über das ganze Land verteilt, handelt es sich in Wirklichkeit um ein in sich geschlossenes Prachtreich.“ Ein entzücktes Lächeln, welches so gar nicht zu diesem vom Tod regierten Land passen wollte, begleitete ihre Selbstverherrlichung.
„Dantra!“ Erschrocken zuckte er zusammen. Alles, was sie bisher gesagt, erklärt oder angemahnt hatte, in allem war eine undefinierbare Kälte gelegen. Egal, wie sehr sie sich auch darum bemüht hatte, Vertrauen zu schaffen, diese Kälte war nicht zu übertünchen. Sie hielt ihre Worte so fest umschlossen wie die Totenstarre eine Leiche. Aber jetzt, in dem Moment, als die Hexe zum ersten Mal seinen Namen aussprach, sicher in dem Bemühen, freundlich zu klingen, hatte er das Gefühl, er würde zu Eis gefrieren.
Der Schock, dass sie ihn unendlichen Qualen aussetzen konnte nur mit der Erwähnung seines Namens, zerrte an seinen Wahrnehmungen. Wie durch das prasselnde Nass eines Wasserfalls hörte er undeutliche, flüsternde Rufe, während sein Blick nach Halt suchte. Erst ein leichter Schlag auf seinen Arm holte ihn zurück aus seiner Angstdämmerung.
„Was?“ Er hatte das Gefühl, als wäre er durch einen Strudel aus dieser beängstigenden Lage herausgesogen worden, und nachdem er ihn ordentlich durchgeschüttelt hatte, war er wieder zurück in diese unbehagliche Situation gespuckt worden.
„Jetzt gib sie ihr schon“, forderte Akinna ihn auf.
„Was? Was soll ich ihr geben?“
„Deine Karte“, erklärte Mortuus wieder bemüht freundlich. „Ich fragte, ob du mir einmal deine Karte geben könntest.“
„Ach so.“ Dantra sammelte sich und kramte die Karte aus seiner Innentasche. „Hier, bitte.“
„Willst du sie mir nicht öffnen?“ Selbst ihr Lächeln schien Dantra nun wie eine Aufforderung, den Freitod zu wählen.
„Natürlich“, stammelte er und öffnete das Siegel.
Mortuus nahm sie ihm ab und faltete sie auseinander. „Seht“, sie hielt ihnen den Plan entgegen, „das ist mein Reich. Das ist Sonork.“
Wo vorher Umbrarus abgebildet gewesen war, mit all seinen Bergen, Flüssen und Wäldern, war nun nur noch ein großer schwarzer Fleck zu sehen, durchzogen von dicken und dünnen Linien. Die Legende oben rechts in der Ecke bestand nur noch aus zwei Erklärungen. Die dicken Linien bedeuteten Grenzen. Die dünnen kennzeichneten Wege. Die Rose, die sonst unten rechts im Kompass zu sehen war, war nun durch das skurrile Zeichen ersetzt, das auf der Rückenlehne des Throns schillerte. Einzig das Zaubererwappen, das sich links oben befand, war unverändert geblieben. Der Rest der Karte, wo vorher Inseln im Blau des Meeres eingezeichnet gewesen waren, schien nun durchsichtig zu sein, als könne man die Papyrusrolle zwar noch wie gewohnt halten, aber nicht mehr sehen. Die erschienenen Abbildungen sahen aus, als würden sie frei in der Luft hängen.
„Die dicken roten Linien verdeutlichen die Aufteilung Sonorks. Das bedeutet, wo in eurer Welt eine nicht einsehbare, große Entfernung zwischen zwei schwarzen Baumwäldern liegt, ist es hier nur ein Schritt über eine rote Linie.“
„Das bedeutet also“, Akinnas zweifelnder Blick war auf die Karte gerichtet, „man überwindet eine Entfernung von einem Tagesmarsch oder mehr mit nur einem Schritt?“
„Ganz genau“, lobte Mortuus sie.
„Das ist zwar sehr interessant“, sagte Dantra fasziniert, „aber wie kann uns das bei der Erfüllung unseres Versprechens helfen?“
„Nun“, Mortuus gab Dantra die Karte zurück und setzte sich vor Stolz strotzend aufrecht hin, „ihr könnt mein Reich jederzeit nutzen, um größere Entfernungen zu überwinden. Denn die roten Linien gibt es nicht nur, um die Grenzen von Umbrarus zu verdeutlichen, man kann dort auch Sonork verlassen.“
„Wie?“, fragten Dantra und Akinna wie aus einem Munde.
„Die roten Linien beschreiben eine Art im Boden eingelassene Flüssigkeit. Wenn man Sonork verlassen will, muss man etwas von dieser Flüssigkeit irgendwo auf die Haut auftragen. Da man hierfür einen Finger hineintauchen muss, bietet es sich natürlich an, diese Stelle des Körpers gleich für den Übertritt in eure Welt zu benutzen. Schon der nächster Schritt führt euch zurück.“
„Aber“, Dantra überlegte noch kurz, bevor er seine Bedenken darlegte, „als ich damals nach E’Cellbras Aufforderung in deinem Reich war, habe ich keine Linie gesehen. Ich konnte schon das Sonnenlicht erkennen, als ich auf die Grenze zuging. Und auch hier, als wir hinausgehen wollten, konnte man schon das Tageslicht erkennen. Aber müsste es nicht eigentlich dunkel bleiben, bis man den Finger in das Rot gehalten hat und danach den nächsten Schritt macht?“
„Das hast du gut beobachtet“, lobte Mortuus nun auch ihn. „Aber das liegt daran, dass es sich damals bei E’Cellbra, ebenso wie jetzt, um die endgültige Außengrenze handelte. Mein Reich ist noch nicht ...“ Sie stockte kurz und sah sie überlegend an. „Mein Reich“, fuhr sie schließlich fort, „ist nicht unendlich. Und natürlich kann man an seinen Außengrenzen das Sonnenlicht erkennen, von dem es umschlossen ist.“ Obwohl Dantra noch über ihre Erklärung nachdachte, nahm sie den Faden an der Stelle auf, an der er vom Betreten ihres Reiches auf E’Cellbras Geheiß hin gesprochen hatte. „Bist du dir sicher, dass du damals keine rote Linie gesehen hast?“
„Sonnenlicht“, antwortete Dantra selbstbewusst. „Ich habe ganz sicher das Sonnenlicht gesehen.“
„Zuerst sicherlich“, stimmte Mortuus ihm zu. „Aber als du die Flucht nach links Richtung Fons angetreten bist, war da nicht irgendwo etwas Rotes?“
Die Suche im letzten Winkel seiner Erinnerung ließ ihn schließlich zustimmend nicken. „Ja. Da war etwas.“
„Hättest du schon damals das Wissen gehabt, über das du heute verfügst, wäre dir die Flucht von alleine gelungen.“
„Aber als wir wieder aus dem Wald heraus waren, hat mir E’Cellbra nichts von einer roten Linie gesagt. Sie muss sie doch auch gesehen haben.“
„Ich denke, das hat sie. Aber nach dem, was ich in deiner Erinnerung gesehen habe, hatte sie wohl nicht mehr die Zeit, mit dir über ihre neuesten Beobachtungen zu reden. Zuerst waren ihre Gedanken von Schuld übersät, dass sie dich hier hereingeschickt hatte, und dann habt ihr euch gestritten. Na ja, und nachdem ihr auf Tami gestoßen seid, waren sowieso alle Grübeleien über den schwarzen Baumwald dahin.“ Mortuus sah Dantra schweigend an, während er in seiner Vergangenheit schwelgte, bevor sie ihre Großzügigkeit zum Abschluss brachte. „Also, wie gesagt, ihr könnt jederzeit mein Reich nutzen, um eurer Bestimmung nachzugehen. Ihr und alle, die euch dabei helfen wollen. Aber nun ist es Zeit zu gehen. Ich glaube, ihr werdet vor meinen Grenzen gebraucht.“ Sie deutete in die Richtung, aus der sie vor einer gefühlten Ewigkeit gekommen waren. Dann stand sie auf und ihr Thron löste sich in nichts auf.
Als sich Dantra und Akinna erhoben, verschwanden ihre Stühle auf dieselbe magische Weise, auf die sie erschienen waren. Das Feuer erlosch und die unbehagliche dunkle Feuchtigkeit umschloss sie erneut.
„Lass mich dir nur noch eines mit auf den Weg geben“, sagte die Hexe zu Dantra. „Vertraue mehr auf deine Fähigkeiten. Deine magische Kraft hat damals gegen die Goracks gewirkt, auch wenn sie dir zum Schluss überlegen waren. Diese Kraft hätte auch gegen meine Krieger ihre Wirkung nicht verfehlt. Ja, selbst gegen mich hättest du sie anwenden können. Natürlich wäre sie auch dieses Mal nicht die benötigte Hilfe zum Sieg gewesen. Unsere Übermacht hätte dir keine Chance gelassen. Aber es nicht einmal zu versuchen, weil du nicht an ihre Wirkung glaubst, ist in jedem Fall der falsche Weg.“ Sie sah ihn so bohrend an, dass trotz der Kälte Schweißperlen auf seine Stirn traten. „Nur wer kämpft, kann gewinnen!“ Mit diesen Worten drehte Mortuus sich schwungvoll um und zerfiel zu Staub. Aus dem kleinen, dadurch entstandenen Häuflein wühlte sich ein schwarzer Gorack. Er sah sie noch ein letztes Mal an und flog dann davon.
Dantra und Akinna schauten sich an, denselben Gedanken im Kopf herumwälzend: „Raus hier, so schnell es geht.“
Weder Goracks noch sonst irgendwelche dunklen Kreaturen stellten sich ihnen in den Weg. Und so konnten sie ihr Glück kaum fassen, als sie endlich wieder die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut spürten.
Doch zum Durchatmen fehlte ihnen die Zeit. Noch bevor Dantra erkannte, welcher Bedrohung Akinna mit einem abgeschossenen Pfeil entgegentrat, zog er kampfbereit sein Schwert. Dann blickte er in das schockblasse Gesicht von Inius, der auf den direkt neben ihm im Boden steckenden Pfeil starrte. Er hatte bereits sein Schwert im Unterholz gefunden und war gerade im Begriff, auch das von Comal aufzuheben, als er vom plötzlichen Auftauchen der beiden Gefährten überrascht wurde.