Читать книгу Drachengabe - Diesig - Torsten W. Burisch - Страница 9

Kapitel 2

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„Wenn du glaubst, dass du uns verwirren kannst, nur weil du in Rätseln sprichst, dann täuschst du dich aber gewaltig“, fauchte Akinna ihn an.

„Also, bei mir funktioniert es“, stellte Dantra nüchtern fest. „Wie meinst du das, du bist vor dir selbst weggelaufen?“

„Es ist nicht meine Absicht, euch zu verwirren“, ging Inius zuerst auf Akinnas Behauptung ein. „Aber was gestern geschah, lässt mich nur schwer einen klaren Gedanken fassen.“ Wieder verstrich eine geistesabwesende Pause, bevor er Dantras Frage beantwortete. „Ich habe dir ja gerade erklärt, aus welchen Bestandteilen sich mein Name zusammensetzt. Ich denke, dass das Wissen darum nicht völlig verschwinden soll, dient dem Zweck, dass ein Zerrock nicht zufällig auf sein Elternhaus stößt. Das bedeutet, man wird dort eingesetzt, wo aufgrund der hohen Entfernung das Risiko verschwindend gering ist, beabsichtigt oder unbeabsichtigt irgendeinen Hinweis auf seine Herkunft zu erlangen. Jedoch befürchte ich, dass dieses ansonsten tadellos funktionierende System bei mir gestern vollkommen versagt hat.“

Sein fester Blick, seine aufrechte Körperhaltung, alles verschwand. Ihnen gegenüber saß nun nur noch die menschliche Abbildung eines morschen, blätterlosen Gehölzes, welchem auf nicht einmal halbem Wege, sich die Bezeichnung als Baum zu verdienen, die brütende Sonne und das fehlende Wasser jegliche Kraft genommen hatten. Seine Stimme wurde noch eine Stufe tonloser und nicht selten musste er über eine erdrückende Selbsterkenntnis schlucken.

„Meine Einheit war oben in Lingstir, als ich mit meinem Trupp zur Verstärkung in ein Haus gerufen wurde. Das Kind, das es zu holen galt, war das Erstgeborene aus einer langen Ehe, die bis dahin kinderlos geblieben war. Für die Eltern war daher die Schwangerschaft ein regelrechtes Wunder, ein Zeichen Gottes. Doch der Liberi-Epulo hatte das Kind als würdig zu dienen erklärt. Die Gegenwehr des Vaters war außergewöhnlich stark. Als ich das Haus betrat, hielten zwei meiner Kameraden die Mutter fest, während ein dritter versuchte, ihr das Kind aus den Armen zu reißen. Der Vater wurde von drei weiteren Mitgliedern meiner Einheit festgehalten. Anfangs konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Ich bemerkte aber etwas Funkelndes inmitten der vier miteinander ringenden Männer und hielt es für eine Klinge. Eine, die der Vater in den Händen hielt. Ich zog also mein Messer, drückte einen meiner Kameraden beiseite und stach zu.“

Dantra bemerkte, wie sich das schwache Licht des Kristalls in den Augen des Zerrocks funkelnd widerspiegelte.

„Erst da bemerkte ich sein Gesicht“, fuhr Inius fort. „Mein Gesicht. Ich schaute in das Gesicht meines Zwillingsbruders, von dessen Existenz ich vorher nichts gewusst hatte. Ich sah ihn zum ersten Mal. Meine Augen betrachteten einen Sterbenden und mein Messer hatte ihm den Tod gebracht.“

Es war, als wäre ein Sturm über das ohnehin schon karge Gehölz hinweggefegt. Ein Sturm der Verzweiflung und des schlechten Gewissens, der ihn gebrochen und in einer nicht lebenswerten Einöde zurückgelassen hätte. Inius vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Dantra wusste, dass es ihm schwerfallen musste, dem Aufbegehren seiner Gefühle, dem Schluchzen nicht nachzugeben.

Nach einer kurzen, drückenden Pause fuhr er fort, ihnen seine zerreißenden Seelenqualen darzulegen. „Aber das Schlimmste, das, was mir das Herz aus der Brust riss, stand mir noch bevor. Als der gellende Panikschrei der Mutter, mit dem sie seinen Namen genannt hatte, verhallte, sah ich von ihr zu einem älteren Ehepaar, das ängstlich und eingeschüchtert in eine Ecke kauerte. Ihre Augen, ihre Gesichtszüge, ihre ganze Statur, sie waren es zweifellos. Sie waren meine Eltern. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich meine Eltern. Und sie? Sie sahen mich. Ihren Sohn. Und gleichzeitig den Mörder ihres anderen Sohnes. Während unsere Blicke sich trafen, tropfte das rote Blut von der Klinge, deren Griff ich noch immer fest in der Hand hielt, zu Boden. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich hatte das Gefühl, lebendig begraben zu sein. Begraben unter den Menschen, denen ich im Laufe der Jahre so viel Leid zugefügt hatte.“ Ein tiefes, zittriges Seufzen unterbrach die Selbsterkenntnis seiner Grausamkeit nur kurz. „Ich ließ das Messer los und rannte. Rannte aus dem Haus, aus der Gasse und aus dem Ort. Ich sah mich weder um, noch hörte ich auf das, was mir meine Kameraden nachriefen. Ich rannte und rannte. Immer weiter. Erst hier stoppte ich. Und mir ist bewusst geworden, egal, wie weit oder wohin ich noch renne, was geschehen ist, ist geschehen. Das kann ich nicht mehr ändern. Diese Schuld werde ich lebenslang in mir tragen. Und dafür werde ich mich lebenslang hassen.“

Unter den misstrauischen Blicken Akinnas kroch er zurück an die Rindenwand des Baumes und kauerte sich dort, von ihnen abgewandt, zusammen.

„Dantra, leg dich zum Schlafen hin“, forderte Akinna. „Wir haben für heute genug gehört. Ich bleibe wach und passe auf, dass er seine Meinung nicht doch noch ändert und über uns herfällt.“

„Also, ich glaube nicht, dass er seine Meinung ändern wird“, entgegnete ihr Dantra. „Ganz im Gegenteil. Du solltest lieber aufpassen, dass er sich nicht selbst was antut.“

„Wenn er das für das Richtige hält, werde ich ihn nicht abhalten. Er hat so vielen Menschen Leid zugefügt, dass das vielleicht der einzige Weg ist, um Reue zu zeigen.“

Dantra ließ ein überlegendes „Mhh“ hören, bevor er seinen Schlafplatz herrichtete und diesen kurz darauf als solchen benutzte.

Ein Specht, der sich irgendwo hoch oben in ihrer naturbelassenen Nachtunterkunft mithilfe seines Schnabels Zutritt verschaffen wollte, weckte Dantra auf. Nur wenig Tageslicht schaffte es, durch den Blättervorhang der Dornenhecke und durch den schmalen Eingang in das Innere des Baumes zu dringen. Es war wie schon am Vorabend dem Kristall zu verdanken, dass man etwas sehen konnte.

Als Dantra sich aufsetzte, blickte er Akinna fragend an. „Hast du dich seit gestern Abend eigentlich bewegt?“ Sie saß exakt an dem Platz, an dem sie sich am Vorabend niedergelassen hatte.

„Guten Morgen“, antwortete sie nur und sah dann wieder zu dem noch schlafenden Inius.

„Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Dantra.

„Ich weiß es nicht genau“, antwortete Akinna unentschlossen. „Wenn wir sichergehen wollen, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht, muss ich ihn töten.“

„So wie ich die Sache sehe, kommt es nicht oft vor, dass ein Zerrock sich selbst von seinen Pflichten entbindet, oder?“

„Meines Wissens kam so etwas noch nie vor“, bestätigte Akinna seine Annahme.

„Nun, dann sollten wir erst mit Nomos reden, bevor du ihn tötest. Kann doch sein, dass er mit seinen Kenntnissen für unsere Sache noch von großem Nutzen sein kann.“

Akinna dachte kurz über Dantras Vorschlag nach, dann stand sie auf und weckte Inius mit einem leichten Tritt gegen seinen Rücken auf. „He, werd wach“, forderte sie ihn auf. „Es ist Zeit, eine Entscheidung zu treffen.“

Inius drehte sich langsam um und sah die beiden aus verquollenen Augen an. Kein Zweifel, es war noch nicht lange her, dass sein schlechtes Gewissen ihn endlich hatte einschlafen lassen. Er versuchte, sie durch Reiben zur Aktivierung ihrer Fähigkeit zu bewegen.

Akinnas folgende Frage half dabei ausgesprochen gut. „Willst du jetzt sterben? Dann bringe ich die Sache zu Ende.“

Sein Blick huschte von ihr Hilfe suchend zu Dantra. Da dieser aber auch einen Antwort heischenden Gesichtsausdruck zeigte, meinte er unsicher: „Wenn ich diese Entscheidung treffen darf, so würde ich unbedingt weiterleben wollen.“

„Unbedingt?“ Akinna neigte ihren Kopf ungläubig zur Seite. „Gestern Abend hatte ich eher den Eindruck, dass deine Taten dich selbst ins Grab treiben würden. Und nun willst du unbedingt weiterleben?“

„Nicht für mich“, begründete er sein Bestreben. „Ich weiß genau, dass meine Kameraden das Kind ... meinen Neffen“, korrigierte er sich nachdenklich, „mitgenommen haben. Und ich weiß auch, wo sie ihn hinbringen. Ich will ihn holen und zu seiner Mutter zurückbringen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich dabei sterbe, ist zwar sehr groß, jedoch geschieht dies lieber bei dem Versuch, etwas von meiner Schuld zu begleichen, als hier und jetzt sinnlos in diesem kargen Loch.“

Nicht nur Dantra stand die Verwunderung über das Gehörte ins Gesicht geschrieben. Selbst Akinna war überrascht. Nicht, dass sie seinen selbstlosen Zukunftsplänen wirklich Glauben schenkte, aber auch wenn es eine Lüge war, um seine Haut zu retten, kam diese Aussage dennoch unerwartet. Ein Zerrock, der damit drohte, gegen andere Zerrocks, seine Kameraden ‒ nach ihren Herren, den Drachen, das Wichtigste in ihrem Leben ‒ zu kämpfen, war eigentlich unvorstellbar.

Solch eine Aussage, selbst ohne einen Funken Wahrheit darin, würde sicher seine Vierteilung bedeuten. Allerdings nicht von vier Pferden vollstreckt, denn das wäre einem derartigen Verrat nicht angemessen, sondern von vier Männern an je einem Strick, denen selbst daran gelegen war, dass der Verräter sich so lange wie möglich quälte, bis der Tod ihm die Schmerzen nähme.

Akinna suchte kurz den Augenkontakt mit Dantra, der ihr seine unveränderte Meinung zum weiteren Vorgehen in Bezug auf Inius bestätigte. Dann befahl sie dem Zerrock, sich mit dem Gesicht zur Wand auf den Boden zu knien. Sie platzierte Dantra direkt hinter ihm und legte die Spitze seines Schwertes, das er in der Hand hielt, direkt in den Nacken seines Vordermannes.

„Wenn er auch nur verdächtig hustet, stichst du zu, verstanden?“ Dantra nickte. „Ich gehe raus und suche etwas, womit wir ihn fesseln können“, erklärte sie. „Und damit du dir keine falschen Hoffnungen machst“, drohte sie Inius, „du wärst nicht der Erste, den Dantra tötet. Glaub also nicht, du könntest dir irgendwelche Hemmungen seinerseits zunutze machen. Denn die hat er nicht.“

Für Dantra klang die Beschreibung seines Gewissens etwas zu hart. Sie ließ ihn in einem für ihn unangenehmen Licht dastehen, da es einen Schatten der Unbarmherzigkeit warf. Aber er wusste natürlich, dass er hier und jetzt im Falle des Falles in der Tat keine Skrupel haben durfte. Also waren Akinnas harte Worte die beste Möglichkeit, um das zu Vermeidende tatsächlich zu vermeiden, um ihn nicht töten zu müssen.

Akinna war nur kurz fort. Als sie zurückkehrte, hielt sie einige dünne, weiche Äste in der Hand. Geschickt flocht und knotete sie diese zu einem fünf Fuß langen Strick zusammen. Anschließend musste Inius sich auf den Bauch legen. Akinna fesselte seine Hände auf dem Rücken und schnürte dann, nachdem er seine Beine angewinkelt hatte, auch noch seine Füße zusammen.

„Ich weiß“, kommentierte Akinna ihr Handwerk, „bequem ist das nicht. Aber wenn deine Gelenke zu schmerzen anfangen oder die Stellen an deinem Körper, die du nicht erreichen kannst, jucken, freu dich darüber. Das sind alles Anzeichen dafür, dass ich dich nicht getötet habe. Noch nicht. Denn ich werde deine Geschichte prüfen. Sollte auch nur ein kleiner Teil davon nicht der Wahrheit entsprechen, kannst du dir sicher sein, dass dich schon heute Abend nichts mehr zwickt.“

Kurz darauf waren Dantra und sie auf dem Weg zum blauen See. Das Wetter hielt etwas Nebel für sie parat, durch den die Sonne nur suppend hindurchwaberte.

„Und?“, fragte Dantra. „Hast du schon eine Idee, wie wir uns bei den hohen Elfen der Tiefe Gehör verschaffen wollen?“

„Ich werde sie rufen, sie bitten, sie heraufbeschwören, und wenn es nicht anders geht, führe ich sogar einen Tibohtanz auf. Irgendwie wird es schon funktionieren. Irgendwie muss es funktionieren. Sonst stecken wir mit unserer Mission in einer Sackgasse.“

Nach einigen schweigenden Schritten durchs nasse Gras fügte sie noch eine weitere Möglichkeit an. „Wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, werde ich mit Nomos Kontakt aufnehmen. Wenn wir es bis dahin noch nicht geschafft haben, wird er sicher die eine oder andere Idee haben, wie wir die hohen Elfen erreichen können.“

Ihr Fußmarsch endete bereits, bevor Dantra die morgendliche Kälte abzuschütteln vermocht hatte. In einer kleinen Senke, von denen es hier Dutzende gab, lag der See ruhig, fast schon langweilig da. Mehr als die Hälfte davon war von Wald umgeben. Seine Größe wurde seinem Ruf als Heimat der hohen Elfen der Tiefe nicht gerecht. Ganz im Gegenteil. Er war eher klein. Enttäuschend klein. Dantra vergewisserte sich bei Akinna, ob es überhaupt das richtige Gewässer sei oder ob sie sich vielleicht irrte und sie beide noch weitergehen müssten, um den Prachtsee der Elfen zu erreichen. Akinna aber wiederholte nur genervt ihre Zurechtweisung vom Vortag, in der sie ihn bereits darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie sich in solchen Dingen nie irrte.

Während Dantra weiterspottete, dass das Wasser nicht einmal, wie es der Name vermuten ließ, blau sei, sondern moosgrün, hockte Akinna sich ans Ufer und dachte über ihr weiteres Vorgehen nach.

Gedankenversunken sah sie in ihr Gesicht, das sich in dem ruhigen Gewässer spiegelte, als Dantra unvermittelt losschrie: „Hallooo!“

Mit völlig entgeisterter Miene sah sie ihn an. „Was ist denn heute Morgen mit dir?“

Dantra blickte sie nicht weniger fragend an. „Wieso?“

„Na, erst moserst du rum, dass der See nicht deine hohen Ansprüche erfüllen würde, und jetzt brüllst du los, als würden die Elfen plaudernd am anderen Ufer sitzen und wir müssten nur kurz auf uns aufmerksam machen.“

„Würden sie tatsächlich dort sitzen, müsste ich nicht so brüllen“, gab Dantra gekränkt zurück. „Das ist kein See, das ist ein Tümpel. Jeder Baum, den ich von hier aus sehen kann, wäre als Pinkelstelle attraktiver als dieses schmuddelige Wasserloch.“

„Halt deinen Mund!“, zischte sie ihn an. „Vielleicht können sie uns hören.“

„Meinst du wirklich?“ Akinna merkte natürlich sofort, dass Dantra sie nicht ernst nahm. „Glaubst du, sie tauchen gleich auf und spritzen mich nass?“

Akinna hielt es für unnötig, seine Albernheiten mit einer Antwort zu belohnen, und schickte ihn stattdessen einige Schritte zurück, um von dort aus die Gegend zu beobachten und sie gegebenenfalls zu warnen, falls sich irgendjemand näherte. Sie selbst setzte sich mit verschränkten Beinen ans Wasser und versuchte, auf mentaler Ebene eine Verbindung zu den Elfen herzustellen. Als das jedoch wirkungslos blieb, startete sie einen erneuten, dieses Mal verbalen Versuch. Sie war äußerst froh, dass Dantra sie zwar sehen konnte, aber nicht mehr in Hörweite war. Er hätte sich wahrscheinlich gekugelt vor Lachen.

Mit hoher, melancholischer Stimme rief sie leise: „Ihr edlen hohen Elfen der Tiefe. Ich erbitte euer Gehör. Ich erbitte eure Geduld. Ich erbitte euer Wissen. Helft mir mit eurer unendlichen Weisheit, mit eurer Güte und unendlichen Magie.“ Aber nichts rührte sich. Nicht der kleinste Wasserring entstand.

Sie wiederholte diese Prozedur noch einige Male, wobei sie ihre Wortwahl hin und wieder etwas veränderte. Dennoch sprach kein Anzeichen dafür, dass ihr Bitten Gehör finden würde.

„Demut“, dachte sie. „Ich zeige wohl zu wenig Demut.“ Sie sah sich prüfend zu Dantra um. Er saß, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, da und sah in die Ferne. Sie hockte sich auf ihre Knie und beugte sich mit nach vorn ausgestreckten Armen immer wieder vor und zurück. Es schien, als würde sie den See anbeten, da sie nun erneut im melancholischen Flüstergesang vor sich hin murmelte. Doch das Einzige, was sie für ihre Mühe erntete, war Dantras breites Grinsen, als sie den Versuch abbrach und sich von Neuem nach ihm umsah.

Gereizt winkte sie ihn zu sich heran. „Dann versuch du es eben“, schimpfte sie resigniert, als er vor ihr stand. „Aber keine Beleidigungen, verstanden?“

„Alles klar“, erwiderte Dantra und bestätigte die an ihn gestellte Aufgabe: „Die Elfen heraufbeschwören, ohne dass sie sauer werden.“

Kopfschüttelnd trottete Akinna zu der Stelle, wo gerade eben noch Dantra gestanden hatte, um nun statt seiner die Gegend zu beobachten.

Dantra baute sich unterdessen mit geschwellter Brust vor dem See auf und begann, dem nicht vorhandenen Publikum zu erklären, wie sich aus seiner Sicht die Sachlage verhielt. „Ich finde, ihr hattet jetzt euren Spaß“, begann er streng. „Ihr habt es sogar geschafft, dass eine Elbin sich vor euch zum Narren macht. Na gut, eine Halbelbin“, verbesserte er sich. „Aber immerhin. Also, herzlichen Glückwunsch dazu. Aber jetzt ist es Zeit, uns bei unserem Problem zu helfen. Also, taucht auf!“ Er verdeutlichte seine Bitte, indem er bei den Worten „Taucht auf“ seine Hände wie ein Fischer, der sein reichlich gefülltes Netz aus dem Wasser hievte, von unten nach oben schwang.

Als sich aber nichts tat, kehrte er ansatzlos zu seiner ersten Taktik zurück. „Hallo! Hallo! Es ist nicht mehr witzig!“ Er kniete sich ans Ufer, klopfte mit der Faust auf die Wasseroberfläche und rief dabei erneut nach den Elfen. Aber mehr als einen nassen Ärmel brachte ihm das nicht ein.

Enttäuscht und verärgert ging er zu Akinna, die ihn schon mit forderndem Blick erwartete. Dantra ignorierte es und blaffte stattdessen sofort los: „Das ist doch Zeitverschwendung. Entweder sie können oder sie wollen uns nicht hören. Oder aber da ist überhaupt niemand, der uns irgendwelche Informationen geben könnte. Ich werde auf keinen Fall noch länger mit diesem Wasserloch reden, während Tami irgendwo da draußen als Sklavin gehalten wird. Also, mach, was du willst, ich gehe!“ Er drehte sich um und marschierte in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.

„Und wo willst du hin? Ohne Hilfe findest du sie nie. Und der Einzige, der dir helfen kann, ist Nomos“.

Dantra machte auf dem Absatz kehrt und kam schimpfend zu ihr zurück. „Nomos? Den interessiert doch nichts, außer seine Wegsagung in die Tat umzusetzen. Dabei bleibt ihm gar keine Zeit, nach meiner Schwester zu suchen. Und während er mich durch Umbrarus hetzt, erleidet sie wahrscheinlich Höllenqualen. Und nur die Hoffnung, dass ich komme und sie rette, erhält ihren Willen aufrecht, all dies zu ertragen und nicht den selbst gewählten Tod vorzuziehen.“ Bei dem letzten Gedanken drohte seine Stimme, vor Kummer zu brechen.

Akinna legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte mit einfühlsamer Stimme: „Gleich werde ich mit Nomos reden können. Ich verspreche dir, dass ich ihn nicht nur auf unser Problem mit den hohen Elfen anspreche, sondern ihn nochmals bitten werde, nach Tami zu suchen. Und wenn er eine Spur findet, dann werden wir beide uns die Zeit nehmen, ihr nachzugehen. Einverstanden?“

Der Kloß in Dantras Hals ließ eine Antwort nicht zu. Also nickte er nur und rang sich ein erzwungenes Lächeln ab.

Akinna ging zurück zum See und unternahm noch einige vergebliche Versuche, um wenigstens eine Bestätigung zu bekommen, dass es dort unten etwas gab, was zu rufen sich lohnte. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, machte sie sich auf den Weg zu einem nahe gelegenen Wald, in dem eine kleine Gruppe von Salakt-Tren-Blumen wuchs. Dantra sollte inzwischen beim See warten, falls doch noch eine verspätete Reaktion auf ihre Rufe eintreten sollte.

Auch wenn es Dantra wesentlich länger erschien, so hatte sich die Sonne kaum am Horizont bewegt, als er Akinna über die freie Fläche zurückkommen sah. Sie war kaum in Hörweite, da schimpfte sie schon ungehalten los. „Wag es nicht zu lachen!“

Dantra schaute sie an, als wäre sie eine Kuh, die Eier legte. „Was meinst du?“

„Unwichtig! Du musst nur wissen, dass du sämtliche dumme Sprüche oder ein etwaiges dämliches Grinsen unterdrücken solltest. Das, was ich laut Nomos versuchen soll, um die Elfen heraufzubeschwören, ist mehr als nur ein Opfer. Es ist demütigend!“

Ohne seinen Beobachtungsposten zu verlassen, sah Dantra verblüfft zu Akinna hinüber. Sie stand nun wieder direkt am See und hatte angefangen, ihre Stiefel auszuziehen und ihre Hose hochzukrempeln. Sie legte ihren Umhang ab und zog das kleine schwarze Band aus ihren Haaren, welches diese Tag und Nacht zum Zopf zusammenhielt. Bisher hatte Dantra sie nur einmal und auch nur kurz im magischen Wald mit offenen Haaren gesehen. Schon damals hatte ihn der Anblick fasziniert. Es war, als würde dies die menschlichen Spuren in ihr verwischen. Als würde sie sich zur vollkommenen Elbin verwandeln. Vor allem jetzt, mit dem See im Hintergrund, auf dem die Sonnenstrahlen zu tanzen schienen, und dem leichten Wind, der ihre kastanienroten Haare sacht verwirbelte, wirkte es, als könne sie schweben. Über all dem Menschlichen, dem menschlich Schlechten auf dieser Welt schweben. Als könne nichts von all dem an sie heranreichen und sie mit Wut, Trauer und Verzweiflung überziehen. Es war ein seinesgleichen suchender, magischer Augenblick.

„Denk daran, wehe, du lachst!“

Akinnas Drohung brachte Dantra zurück auf den harten Boden der Realität. Ihrer erhabenen elbischen Erscheinung zum Trotz war ihr Charakter doch mehr der eines Menschen denn eines Elbs. Und Dantra wusste, was nun auch immer folgen würde, er tat gut daran, sich lieber die Innenseiten seiner Wangen zu zerbeißen, als diese zu einem Grinsen zu verziehen.

Es sollte sich jedoch herausstellen, dass es gar nicht schwierig war, ein Lachen zu unterdrücken. Ganz im Gegenteil. Seine Faszination kehrte bei der folgenden Szene ungebrochen zurück und verdoppelte sich sogar.

Akinna war bis zu den Knien ins Wasser gewatet und verharrte kurz. Es schien, als hätte sie Zweifel, ob Nomos sie nicht vielleicht unvorstellbarerweise einfach nur zum Narren halten wollte. Dann besann sie sich allerdings seiner Worte und beugte sich tief vornüber. Ihre langen, herabhängenden Haare tauchten als Erstes ins kalte Nass, dann folgte ihr ganzer Kopf. Nur eine Bienen-Blüten-Landung lang hielt sie still, bevor sie sich wieder erhob. Allerdings nicht, wie man es vermuten würde, langsam und mit Bedacht darauf, sich die Kleidung nicht nass zu machen, sondern mit Schwung. Dabei schleuderte sie ihren Kopf so in die Höhe, dass ihre Haare umherflogen und das Wasser daraus regenbogenförmig über sie hinwegspritzte. Noch bevor der letzte Tropfen zu seinem Ursprung zurückkehren konnte, tat sich nicht weit von Akinna entfernt eine Wasserwand auf, die das Dreifache ihrer Körpergröße überschritt. Es hatte den Anschein, als wäre ein Wasserfall aus dem Nichts emporgestiegen und würde sich, ohne eine vorhandene Felskante, unaufhörlich in die Tiefe ergießen. Aus den Wassermassen formten sich drei menschenähnliche Gestalten, die genau wie Akinna vor ihnen ihren Oberkörper und ihren Kopf so schwungvoll nach oben rissen, dass auch bei ihnen die Wassertropfen in Regenbogenform in den Mittagshimmel spritzten. Jedoch viel gewaltiger.

Nun aufrecht stehend überragten die Wesen sogar die angrenzenden Bäume. Auch wenn ihre Gewänder, ihre Haare und selbst ihre Gesichter ständig von Wasser überzogen waren, waren sie dennoch als Elfen deutlich zu erkennen. Ihr schmales Gesicht, ihre glatten, langen Haare und auch ihre graziösen Bewegungen ließen keinen Zweifel an dem, was sie waren.

Aus neugierigen Augen schauten sie auf Akinna herab. Als sie begriffen, dass sie es war, die sie mit ihrem anmutigen Verhalten gerufen hatte, schrumpften sie so schnell auf ihre Größe wie ein Schneehaufen, dem man mit heißem Wasser zu Leibe rückte.

„Ist sie eine Elbin?“

„Magisch?“

„Eine magische Elbin.“

Die drei Wasserwesen sprachen miteinander, als hätte Akinna ihr Erscheinen gar nicht mitbekommen.

„Ich grüße euch, hohe Elfen der Tiefe“, begrüßte sie die Gestalten ehrfürchtig. „Mein Name ist Akinna. Und ich erbitte eure Hilfe. Wir sind auf der Suche ...“ Doch sie wurde unterbrochen.

„Hilfe?“

„Von uns?“

„Wie könnten wir schon helfen?“

„Wir sind auf einer Mission. Und wir brauchen euer Wissen für deren Erfüll...“

„Wissen?“

„Was können wir schon wissen?“

„Ich weiß es nicht.“

Jedes Mal, wenn die Elfen etwas sagten, taten sie das auf die immer gleiche Weise. Sie sprachen stets alle. Erst die Elfe in der Mitte, dann jene zu ihrer linken, zum Schluss die auf der rechten Seite.

Akinna startete einen erneuten Versuch, ihr Anliegen vorzubringen. „Wir haben aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass ihr das Wissen über den Verbleib des ...“

„Zuverlässige Quelle?“

„Was soll das für eine zuverlässige Quelle sein?“

„Ich vertraue nur unserer eigenen Quelle.“

„Nun“, setzte Akinna nach, „meine Quelle verfügt über einen schier endlosen Wissensschatz. Und aus diesem geht klar hervor, dass ihr um den Verbleib des Dolches des Vertrauens ...“

„Ist es eigentlich schon wieder Herbst?“

„Färben sich die Blätter bunt?“

„Ja, es ist schon wieder Herbst.“

Die Elfen taten nun wieder, als wäre Akinna gar nicht da, und schauten sich stattdessen die Umgebung an.

„Es gilt, eine Wegsagung zu erfüllen. Aber das schaffen wir nur mit dem Dolch des Vertrauens.“ Akinnas Stimme ließ ein leichtes Flehen erahnen. Doch es war, als würden ihre Worte nicht mehr durch das Wasser bis an die Ohren der Elfen gelangen. „Wir sind chancenlos, wenn ihr uns nicht an eurem Wissen teilhaben lasst. Ich bitte euch inständig.“

„Ist es nicht kalt hier oben?“

„Unangenehm kalt.“

„Es ist Zeit, wieder ins Warme zu gehen.“

Sie schrumpften weiter, sodass sie etwa auf Augenhöhe eines Kindes gewesen wären, und begannen, im nassen Blau zu verschwinden.

„Jetzt reicht es mir aber!“ Mit seinem Wutausbruch lenkte Dantra zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der Elfen auf sich. Mit den Armen fuchtelnd stapfte er aufs Ufer zu. „Ich meine, was soll der Mist? Wir haben keine Zeit für solch ein Geplänkel. Der Welt, in der wir leben, geht es äußerst schlecht. Und um das zu ändern, sind wir hierhergekommen. Aber anstatt uns zu helfen, faselt ihr von den Jahreszeiten und wollte euch dabei klammheimlich und feige verdrücken.“ Mit dem Wort feige bekam er zwar die Reaktion, die er wollte, allerdings etwas intensiver als eigentlich angestrebt.

Die Elfen kehrten schlagartig zu ihrer anfänglichen übermenschlichen Größe zurück. Dantra stand nun nahe bei Akinna, nur nicht wie sie im Wasser, sondern auf dem trockenen Gras der flach abfallenden Böschung. Er sah an den unwahrscheinlich kolossal wirkenden Wassersäulen empor. Obwohl er den Anblick faszinierend fand, ließ er sich von ihm keineswegs einschüchtern. Da die drei Elfen nun schweigend ‒ teils erzürnt, teils verwundert ‒ auf ihn herabsahen, führte er seinen Tadel ob ihres unangebrachten Verhaltens fort.

„Ihr könntet uns wenigstens so viel Respekt erweisen, dass ihr uns mitteilt, ob ihr überhaupt etwas wisst. Ich werde nämlich das Gefühl nicht los, dass ihr überhaupt keine Ahnung habt, wovon Akinna da spricht. Und um eure Nutzlosigkeit zu überspielen, faselt ihr dieses unsinnige Zeug!“

Alle drei Elfen rauschten blitzschnell zu ihm hinab, allerdings ohne dabei etwas von ihrer bedrohlichen Größe einzubüßen. Wie Schlangen beugten sie sich zu ihm und ihre enormen Gesichter waren nun nicht mehr weiter von seinem entfernt als die Distanz zwischen ihm und der nun unruhig wogenden Ufergrenze.

„Sagtest du gerade nutzlos?“ Nun sprach nur noch die mittlere der drei Elfen, wobei ihre Augen gefährlich durch den unaufhörlichen Wasserschwall, der sie umgab, flimmerten.

„Wie würdest du es denn nennen, wenn wir, um dem Bösen die Stirn zu bieten, den Dolch des Vertrauens brauchen, ihr uns bei dessen Auffindung aber nicht helfen könnt?“ Dantras energisch fuchtelnde Arme landeten bei der nachfolgenden Frage schließlich provozierend verschränkt vor seiner Brust. „Oder seid ihr so ignorant, dass ihr die Dringlichkeit des Ganzen nicht erkennen könnt?“

„Ignorant?“ Zu Dantras Verwunderung hielt sich die Empörung der Elfe über seine Unverschämtheit in Grenzen. „Ignorant?“, wiederholte sie nochmals ruhig, als wollte sie sichergehen, sich nicht verhört zu haben. Schweigend schaute sie erst ihre Begleiterin zur Linken an, die bestätigend nickte, danach die zu ihrer Rechten, die ebenfalls ihren wuchtigen Kopf zustimmend bewegte. „Nun“, wandte sie sich wieder Dantra zu, „dann sag mir, wenn du so schlau bist, wie kann man es verhindern zu ertrinken, wenn man sich bereits auf dem rettenden Ufer befindet, aber immer noch nach Luft ringt?“

Dantra sah sie irritiert an, musste aber ziemlich rasch feststellen, was sie meinte. Schnell wie eine Ratte auf der Flucht zog sich ein kleines Rinnsal vom See die Böschung hinauf bis zu seinen Füßen, teilte sich dort, um anschließend an seinen beiden Beinen hinaufzusteigen. Ehe er sich versah, war er in eine Wasserhülle getaucht, wie sie auch die Elfen umgab. Für einen kurzen Moment hielt das leicht moderig riechende Nass inne, so als wollten die Elfen Dantra die Gelegenheit geben, ein letztes Mal Luft zu holen. Geistesgegenwärtig hielt er sich die Nase zu, was ihm aber nur eine kurze Bedenkzeit verschaffte. Gerade so lang, wie sein Luftvorrat ausreichte, und der war eher von magerer Statur. Aber es bedurfte keiner großen Situationseinschätzungen. Er tat, was er am besten konnte, und setzte seine magische Kraft ein. Dabei lenkte er sie nicht nur in eine Richtung, sondern ließ sie aus jeder Pore seines Körpers entweichen. Die Wassermassen spritzten umher.

Nass, als hätte ihn ein Platzregen überrascht, streckte er seine Arme fordernd von sich und rief: „Vielen Dank! Ich hatte ein Bad dringend nötig. Aber um mich umzubringen, müsst ihr euch schon etwas mehr einfallen lassen.“

Die überraschten Mienen der Elfen veränderten sich jedoch schnell. Sie erhoben sich erneut zu drei aufrecht stehenden Wassersäulen und wechselten nochmals einige stumme Blicke. Kurz darauf schrumpften sie langsam auf menschliche Größe, in der sie schon mit Akinna geredet hatten.

„Hast du Nomos wegen Tami gefragt?“ Sie waren gerade erst wieder zu ihrer Unterkunft der letzten Nacht aufgebrochen, als Dantra die in ihm brennende Frage stellte.

„Hab ich“, antwortete ihm Akinna. „Er hat vielleicht eine Spur von ihr entdeckt, meint aber, es wäre noch zu früh, um mehr darüber zu sagen.“

„Wie, zu früh?“ Dantra war stehen geblieben. „Wenn er etwas weiß, soll er es mir sagen“, schimpfte er los.

„Beruhige dich. Ich habe dir gesagt, dass ich ihn noch mal darauf hinweisen wollte, wie wichtig dir diese Angelegenheit ist und ...“

„Du wolltest? Warum hast du es dann nicht getan?“, fiel er ihr ins Wort.

„Ich sagte, du sollst dich beruhigen“, forderte sie ihn erneut auf, nun ebenfalls etwas ungehalten. Sie sah ihn einen Moment lang nur an, um ihm die Gelegenheit zu geben, seine Ungeduld in den Griff zu bekommen, damit er sie nicht gleich wieder unterbrach. Dann fuhr sie mit ruhiger Stimme fort. „Ich sagte, ich wollte ihn darauf hinweisen, weil er mich schon im Ansatz, genauso wie du gerade, unterbrochen hat. Und ich gebe zu bedenken, dass er mich noch nie unterbrochen hat. Ich hielt es ja eigentlich sowieso für überflüssig, ihn daran zu erinnern, für dich wollte ich es aber dennoch tun. Er sagte nur, das Ziel der Mission stehe nicht über dem Auffinden Tamis. Nicht nur, dass ihm selbst daran gelegen ist, deine Schwester aus den Fängen skrupelloser Sklavenhändler zu befreien, er weiß auch, dass du deine Mission niemals erfüllen kannst, wenn deine Gedanken ‒ verständlicherweise ‒ nicht im vollen Umfang bei den an dich gestellten Aufgaben sind.“

Dantra sah sie fragend an. „Und warum erzählt er dir dann nichts Konkretes von seiner Spur?“

„Weil er dir keine falschen Hoffnungen machen will. Vielleicht ist sie auch eine Nacht ohne Morgen. Eine Spur, die kein Licht ins Ungewisse bringt. Gib ihm etwas Zeit. Ich versichere dir, er tut, was er kann.“

Dantra sah betreten zu Boden. Akinna rechnete schon mit einer weiteren Frage, als er aufschaute und sagte: „Vielen Dank, dass du dich bei ihm für mich starkgemacht hast. Und vielen Dank“, er musste schlucken, „dass du mir hilfst, sie zu finden.“

Akinna, eine Halbelbin, die jeder Gefahr kühn ins Auge sah, war von so viel ungewohnter Dankbarkeit leicht überfordert. Verlegen schüttelte sie deshalb den Kopf. „Ach was, ist doch wohl selbstverständlich. Komm, lass uns weitergehen.“

Schweigend, in Gedanken vertieft und nur begleitet vom Rascheln des hohen Grases, das sie mit jedem Schritt, den sie taten, durchpflügten, setzten sie ihren Weg fort. Dantra hing noch immer an Akinnas Worten. An ihrer unbeirrbaren Zuversicht. Es war das erste Mal, dass er, seitdem er erfahren hatte, dass Tami mit hoher Wahrscheinlichkeit noch lebte, sich nicht hilflos, nicht allein, nicht verloren fühlte. Es schien, als hätte er in Akinna und Nomos zwei Verbündete gefunden, denen, obwohl sie Tami gar nicht kannten, ebenfalls am Wohlergehen seiner Schwester gelegen war. Aber was für ihn noch viel wichtiger war, sie standen ihm nicht nur mit aufmunternden Worten zur Seite, sondern besaßen die Möglichkeit, ihm mit Taten zu helfen. Das große schwarze Loch in seinem Herzen, das sich dort nach dem Drachenangriff auf der Lichtung schmerzlich eingebrannt hatte, schien zu schrumpfen. Auch wenn es eigentlich noch viel zu früh war, so schaffte es die Hoffnung, die ewig eiternde Wunde etwas heilen zu lassen.

Akinna hingegen ließ sich noch einmal die Worte der hohen Elfen aus der Tiefe über den Dolch des Vertrauens durch den Kopf gehen. Als diese erkannt hatten, dass Dantra über magische Kräfte verfügte und Akinna etwas war, das es eigentlich gar nicht gab, nämlich eine Halbelbin, waren sie bereit und sogar erleichtert, ihr Geheimnis endlich preisgeben zu können. Der Argwohn, der sie bis dahin davon abgehalten hatte, ihr Wissen irgendjemandem anzuvertrauen, gründete sich nicht auf der Befürchtung, der Dolch würde den Drachen in die Hände fallen, sondern vielmehr auf den Bedenken, die Drachen würden von ihrem Geheimnis erfahren und sie dafür bestrafen. Nun aber, da sie ihrer Deutung nach die richtigen Auserwählten vor sich hatten, erkannten sie die Gelegenheit, sich ihrer Bürde zu entledigen. Denn in dem Moment, in dem Akinna und Dantra den Dolch an sich nähmen, hätte ihr geheimes Wissen keinen Wert mehr.

So trugen sie also all ihre Erkenntnisse über den Dolch vor, wobei sie damit begannen, die Gerüchte, wie sie zu den Geheimnisträgerinnen wurden, zu korrigieren. Der Knappe, der seinerzeit um ihr Gehör gebeten haben sollte, hatte in Wirklichkeit keine Ahnung von ihrer Existenz. Vielmehr hatte er versucht, den Dolch im Wasser unter der Last eines schweren Ufersteins zu verstecken, um ihn einige Tage, Monate oder gar Jahre in Sicherheit zu wissen, bis die Lage sich wieder beruhigt hatte. Sie, die Elfen, wussten natürlich sofort, als der Dolch die Wasseroberfläche durchbrach, um welch gefährliche Waffe es sich handelte. Und als das Blut des Königs, welches immer noch an ihm klebte, sich wie ein rot gefärbtes Spinnennetz rings um die Eintauchstelle wabernd ausbreitete, konnten sie ihre natürliche Tarnung nicht länger aufrechterhalten. Denn nichts lag ihnen ferner, als dieses Relikt aus besseren Tagen in ihrer Nähe zu wissen.

So tauchten sie also auf und ermahnten den Erschrockenen, sein Handeln noch einmal zu überdenken. Sie boten ihm an, wenn er sich ein anderes Versteck suchen würde, möglichst weit entfernt von ihrem See, so würden sie das Geheimnis, wenn er es ihnen kundtun wolle, falls nötig über Jahrhunderte bewahren und es erst preisgeben, wenn sie glaubten, dass es auch in seinem Sinne wäre.

Er stimmte ihrem Vorschlag zu und nahm den Dolch wieder an sich. Trotz seiner Verletzung, die er im Kampf mit den Drachenschergen erlitten hatte, schaffte er es bis Astivo. Eine Stadt, die von ihrer Nähe zum Sommersitz des Königs lebte. Hier waren die Familien der Hofangestellten zu Hause. Was wohl auch der Grund war, warum die Drachen dort wüteten und dabei Hunderte Menschen töteten. Als der Knappe den Ort erreichte, waren die Straßen bereits mit Leichen übersät. Die meisten der Häuser standen in Flammen und bis auf einige Hausschweine, Hühner und Ziegen, die aufgeschreckt in den toten Gassen umherirrten, war niemand zu sehen.

Er ging in eines der nicht ganz zerstörten Gebäude. Es war das massiv errichtete Bruchsteinhaus des Hofbaumeisters, das an der Lavaseite durch einen kleinen Turm mit Zinndach auffiel. Auch dieser Mann hatte mitsamt seiner Familie dem Tod nicht entrinnen können. Verstreut lagen sie in dem lang gezogenen Raum, teils im Kampf gefallen, teils feige von hinten abgeschlachtet. Der Knappe ging zum offenen Kamin und suchte in der von schwarzem Ruß bedeckten Rückwand nach einem losen Stein. Es war seinerzeit nicht ungewöhnlich, dass gut verdienende Leute ihr Erspartes hinter solch einem losen Stein, der normalerweise vom Tag und Nacht brennenden Feuer verdeckt wurde, versteckten. Und auch hier, in diesem Haus, war es nicht anders. Der Knappe zog den Stein nach vorn heraus und legte den Dolch in den dahinter befindlichen Hohlraum.

Mit letzten Kräften erreichte er abermals den See der hohen Elfen der Tiefe. Er hatte das restliche Blut des Königs vom Dolch an seinem Ärmel abgewischt, um sicherzugehen, dass sie erneut auftauchten. Als die rote Kruste sich mit dem Wasser vermischte und ein kleiner, runder Teppich die Wasseroberfläche zierte, erschienen sie umgehend. Er berichtete ihnen von dem Versteck und beschwor sie, noch während sie wieder im moosgrünen Wasser verschwanden, sich an ihr Versprechen zu halten.

Wie es dem Knappen weiter erging, entzog sich der Kenntnis der Elfen. Aber wenn seine Verletzungen ihm nicht den Tod gebracht hatten, dann sicher der Wundbrand und das Fieber. In jedem Fall musste er noch so lange gelebt haben, dass er die Möglichkeit nutzte, irgendjemandem vom Bund mit den Elfen zu berichten. Denn seit jeher hielt sich das Gerücht, dass die Elfen um das Versteck des Dolches wüssten.

Und sie, das war ihnen wichtig zu erwähnen, hätten nie darüber mit jemandem geredet. Nicht einmal untereinander. Und das, obwohl nicht wenige in den letzten 200 Jahren an ihren See herangetreten waren, um sich Gehör zu erbitten. Aber keinem von ihnen war es gelungen, sie heraufzubeschwören. Denn niemand hatte das Wissen, das Akinna besaß und das sie richtig eingesetzt hatte. Keiner von ihnen wusste, dass nur ein magisches weibliches Geschöpf, das akkurat das Auftauchritual der Elfen imitierte, die Fähigkeit besaß, die Wesen wirksam herbeizurufen.

Als sie ihre Erklärung abgeschlossen hatten, baten sie Akinna und Dantra, wenn sie den Dolch fänden und an sich nähmen, sie dieses wissen zu lassen. Ohne Umschweife ließen sie sich jedoch deutlich anmerken, dass die beiden nicht mit dem Dolch zu ihnen zurückkehren müssten. Vielmehr reiche es, wenn jemand anderes am See erschiene und die Nachricht überbrächte. Zu diesem Zweck gaben die Elfen den beiden einen runden, unscheinbaren Stein mit auf den Weg. Der Bote müsste diesen nur zurück in den See werfen, was weitere Worte überflüssig machte.

Danach verabschiedeten sie sich höflich und wünschten ihnen alles Einhornglück Umbrarus’, bevor sie sich mit einer Miene der inneren Zufriedenheit zurückzogen.

„Nicht gut.“ Dantra hatte, von Akinna unbemerkt, seine Karte aus der Innentasche gefischt und war nun mit dem Blick darauf stehen geblieben.

„Was ist?“, fragte sie ihn.

„Die Elfen redeten von einem Ort namens Astivo, oder?“

„Das ist richtig“, bestätigte Akinna.

„Als sie davon berichteten, dass dort die Drachen und ihre Gefolgsleute vielen Menschen den Tod brächten, habe ich mir nichts dabei gedacht. Jetzt gerade, als ich es mir nochmals durch den Kopf gehen ließ, beschlich mich eine Befürchtung, die meine Karte bestätigt hat.“

„Ich weiß immer noch nicht, wovon du redest.“ Akinna sah ihn auf dieselbe Art und Weise an, wie es normalerweise nur umgekehrt der Fall war. Nach Antworten suchend.

„Na, Leid und Tod im großen Maße ziehen unweigerlich den schwarzen Baumwald nach sich“, erklärte er seine Bedenken. „Sieh hier“, er hielt ihr die Karte hin, „dort steht: Ruinenstadt Astivo. Und fast der gesamte Ort ist von einem schwarzen Fleck bedeckt.“

Missmutig starrte Akinna auf den Punkt der Karte, auf den Dantra zeigte. „Verdammt.“ Ihre Miene verfinsterte sich. „Und ich dachte, das Schwierigste hätten wir hinter uns.“

„Schwer?“ Dantra sah sie skeptisch an. „Wenn das, was nach so langer Zeit noch von dem ehemaligen Haus des Hofbaumeisters übrig ist, im Dunkel des schwarzen Baumwaldes liegt, wird es nicht nur schwer, sondern unmöglich sein, den Dolch des Vertrauens zu ergattern.“

„Ach was.“ Akinna ließ eine Handbewegung folgen, als wollte sie seine Bedenken damit zerstreuen. „Sicherlich wird es eine etwas knifflige Aufgabe, aber unmöglich? Du hast die Elfen gehört. In den letzten 200 Jahren haben etliche Leute versucht, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Niemandem ist es gelungen. Uns aber schon. Also, wieso sollte es uns dann nicht auch gelingen, den Dolch im schwarzen Baumwald zu finden und ihn herauszuholen?“

Dantra dachte nach. Er durfte jetzt auf keinen Fall überreagieren, denn das würde bei Akinna nur den Verdacht erwecken, als wären seine Befürchtungen falsche Panikmache. „Nun, ich weiß ja nicht, wie es einem Elben dort drin ergehen würde, aber ein Mensch, und das weiß ich leider aus eigener Erfahrung, kann dort drin nichts weiter finden als einen qualvollen Tod.“

„Mag sein“, entgegnete ihm Akinna, „aber ein Elb kann nur von einem anderen Elben oder einer von Elbenhand gefertigten Waffe getötet werden. Und ich denke, dass dieses unumstößliche Gesetz auch im schwarzen Baumwald Geltung findet.“

„Dazu musst du wissen, die körperlichen Verletzungen waren nur ein Teil meines Todeskampfes. Der andere fand in mir drin statt. Es schien, als würde alles Gute sich in Schlechtes wandeln. Als würde der schwarze Schleier, der diesen Wald umhüllt, von allem Besitz ergreifen, was in einem selbst drin ist. Die Gedanken, das Herz, die Seele. Was bringt dir also deine elbische Unverwundbarkeit, wenn du von innen heraus stirbst?“

Akinnas Miene verfinsterte sich. Hatte ihr Begleiter etwa recht mit dem, was er sagte? Eines war sicher, er besaß in dieser Sache mehr Erfahrung als sie. Wahrscheinlich sogar mehr Erfahrung als sonst irgendein Mensch. Und das bekräftigte seine Bedenken.

„Vielleicht hast du recht“, gestand sie ihm schließlich zu. „Aber vielleicht haben wir auch Glück und das Haus liegt außerhalb des Waldes. Wir sollten uns morgen erst einmal einen Überblick verschaffen, bevor wir uns den Kopf über mögliche Gefahren zerbrechen, denen wir dann doch nicht ausgesetzt sind.“

Sie setzten ihren Marsch, tief grübelnd über das, was sie am nächsten Tag wohl erwarten würde, fort.

Kurz bevor sie den hohlen Baum erreicht hatten, löste bei Dantra ein neuer, ganz anderer Gedanke den alten ab. „Hast du mit Nomos eigentlich über Inius geredet?“

Akinna blieb stehen, ließ ihren Kopf hängen und ein resignierendes Seufzen hören. „Das ist heute nicht mein Tag“, bedauerte sie sich selbst.

„Ich wusste gar nicht, dass es so was auch bei Elben gibt“, erwiderte Dantra mehr amüsiert als verwundert. Ein erneuter mitleiderregender Seufzer ließ Dantras gute Laune sofort zur angebrachten Ernsthaftigkeit übergehen. „Warum?“, fragte er vorsichtig.

Sie sah zu ihm auf und sagte mit matter Stimme: „Ich habe vergessen, ihn danach zu fragen.“ Dantra sah sie so verdattert an, dass sie umgehend anfing, sich zu rechtfertigen. „Tja, ein Teil von mir ist halt auch nur ein Mensch. Und Menschen versagen nun mal von Zeit zu Zeit.“

„Und was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Dantra, ohne weiter auf das ungewöhnliche Eingeständnis ihrer menschlichen Seite einzugehen.

„Ich weiß es nicht“, offenbarte sie ihm und auch sich selbst. „Ich kann erst in zwei Tagen wieder mit Nomos reden. Dann hat er sein neues Versteck erreicht. Er meinte, bis dahin wäre es zu gefährlich, nochmals Kontakt aufzunehmen.“

„Inius muss also noch zwei Tage in dem Baum gefesselt bleiben?“ Dantra konnte sich kaum vorstellen, wie groß schon jetzt seine Schmerzen sein mussten. Die Fesseln und seine Körperhaltung, in der sie ihn heute früh zurückgelassen hatten, boten ihm kaum Möglichkeiten, sich zu bewegen. Und das sollte er noch zweimal über sich ergehen lassen?

„Das können wir nicht machen“, stellte er entrüstet fest. „Seine Hand- und Fußgelenke sind sicher schon von dem einen Tag wund gescheuert. Noch zwei weitere kämen einer Folter gleich.“

„Mag sein“, entgegnete sie ihm nüchtern. Und während sie ihren Weg fortsetzte, fügte sie hinzu: „Entweder das oder ich muss ihn töten.“

Sie hatten den Baum nun fast erreicht. Dantra hatte unaufhörlich auf sie eingeredet und sie beschworen, eine dritte Möglichkeit zu finden. Sie aber war nicht weniger ratlos als er. Und es ärgerte sie, dass er nicht selbst nach einer Lösung suchte, die sein Gewissen nicht belastete, sondern ununterbrochen von ihr die humanitäre Antwort auf diese Frage erwartete.

„Hör zu“, schimpfte sie nun ungehalten los, „ich weiß jetzt, dass dir die zwei einzigen Problemlösungen nicht gefallen. Aber dein Genörgel bringt uns nicht einen Flusenläuferschritt weiter. Also schweig endlich und sieh der Tatsache ins Auge.“ Sie wollte sich gerade bücken, um unter dem Dornenbusch zur Öffnung des Baumes zu kriechen, als Dantra ihr den Weg versperrte.

„Folter und Mord sind nicht die Bedingungen, denen ich zugestimmt habe, als ich sagte, dass ich bei dieser Mission dabei bin“, erläuterte er mit entschlossener Stimme. „Wir werden uns also hinsetzen und über das Problem und eine vernünftige Lösung nachdenken, bevor wir alles Mitleid ausblenden und Inius etwas ...“ Er stockte.

Akinna, die sich kurz entnervt von ihm weggedreht hatte, schaute ihn nun auf eine Weise an, die seine Befürchtungen ob dessen, was er fühlte und ahnte, bestätigte. Eine kalte, rasiermesserscharfe Klinge wurde ihm von hinten an die Kehle gehalten. Und das Ärmelende der haltenden Hand gehörte ohne Zweifel zu einer Zerrockuniform.

Drachengabe - Diesig

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