Читать книгу Nebula Convicto. Grayson Steel und das Blutsiegel von Rom - Torsten Weitze - Страница 4
ОглавлениеEin Verhör und seine Folgen
City of London, Tower of London, Freitag, 12. Dezember, 01.31 Uhr
Grayson öffnete und schloss seine Fäuste in einer unbewussten Geste, zu gleichen Teilen geboren aus Nervosität und unterdrückter Wut. Die rostige, aber dennoch massive Wendeltreppe quietschte unter jedem seiner Schritte, als er sich durch die flackernde Düsternis dieses modrig riechenden Schachtes abwärts bewegte, in dem die kalten Neonlampen in einem ebenso erbarmungswürdigen Zustand waren wie die angerosteten Wände und der klapprige Handlauf, der Schnittwunden und eine Blutvergiftung versprach, sollte der Quaestor sich dazu entscheiden, dessen grobe, schmierige Oberfläche anzufassen. Morgan hatte ihn gewarnt, dass dieser Zugang selten genutzt wurde, aber es kam Grayson so vor, als wäre das letzte Mal ein Besucher hier hinab gestiegen, als Winston Churchill noch in der Downing Street gelebt hatte. Seine Schritte klangen laut in der ihn umgebenden Stille, in welche sich nur das wenig vertrauenerweckende Ächzen der Stufen mischte. Grayson hatte die Drehungen zählen wollen, die er bereits zurückgelegt hatte, aber nach einhundert Runden hatte er damit aufgehört. Dieser Schacht erinnerte ihn auf eine diffuse Weise an den Weg zur Ruhestätte des Altvorderen T’tchan, den der Quaestor und sein Team nur knapp davon abgehalten hatten, Norddeutschland zu verwüsten. Unvermittelt blieb der hochgewachsene Ermittler stehen und schlug wider besseren Wissens seine geballte Faust auf das Geländer. Der Mann, den er nun zu besuchen beabsichtige, war einer jener Verschwörer, die für dieses und noch weitere Verbrechen verantwortlich waren. Verbrechen, die mehr Tote zu verantworten hatten, als Grayson zu zählen bereit war. Vielleicht hatten Morgan und Richard Recht gehabt, und es war eine dumme Idee, diesen Ort und vor allem diesen Mann aufzusuchen, aber der Quaestor hatte keine Wahl. Sie steckten mit ihren Ermittlungen fest, und hier unter den nichtsahnenden Straßen Londons gab es jemanden, der die Antworten auf ihre Fragen kannte. Wieder schlug Grayson wütend auf das Geländer, das sich daraufhin mit einem lauten Scheppern von der Wand löste und auf den rostigen Stufen liegen blieb. Der Quaestor schnaubte und ging weiter. Endlich kam eine Tür in Sicht, in die eine altmodische Sichtluke eingebaut worden war, durch die Grayson in ein blaubefelltes Gesicht starrte, das bei seinem Anblick sofort aufschloss.
»Lacunus im Tower!«, brüllte der Nachtstreifer über seine Schulter und nickte dem Ermittler dann freundlich zu. Grayson erwiderte die Geste des Wesens, das ein Nichteingeweihter der Nebula Convicto wohl für einen Werwolf mit nachtblauem Fell gehalten hätte. Etwas überrascht sah er, dass der Nachtstreifer neben seiner Hellebarde auch eine ganz normale Maschinenpistole umgeschnallt hatte und eine gepanzerte Weste trug. Sein archaisch wirkender schwarzer Kapuzenumhang rundete das abstruse Bild des Wächters ab, aber Grayson hatte schon lange aufgehört, die Widersprüche der Nebula Convicto zwischen Magie und Moderne in Frage zu stellen. Er befand sich nun mit dem Wesen in einem kleinen, gedrungen wirkenden Korridor, der neben einer Neonlampe an der Decke nur über metallene Wände und eine gepanzerte Tür auf der gegenüberliegenden Seite verfügte. Der Nachtstreifer sicherte den Eingang, durch den Grayson eingetreten war, und klopfte dann dreimal an die andere Tür.
»Alles gesichert«, erklang der Ruf von der anderen Seite und der Ermittler hörte, wie sich im vor ihm liegenden Raum schwere Riegel hoben. Grayson erwartete ein lauten Quietschen, als die Panzertür aufschwang, aber anscheinend endete die Vernachlässigung dieses Ort dort, wo der Spezialeingang für Lacuni aufhörte, denn die Stahltür öffnete sich lautlos.
»Bitte innerhalb der weißen Markierungen bleiben, sonst stören Sie die Bannsiegel, Quaestor«, sagte der Wächter, der zurückblieb und von einem mürrisch aussehenden Wesen abgelöst wurde, das Grayson kritisch musterte.
»Keine antimagischen Spielereien über diesen Punkt hinaus«, grollte die humanoide Gestalt, die eine ledrige, grüne Haut besaß und aus deren Unterkiefer zwei Hauer hoch hinauf in das Gesicht ragten. Panzerung und Bewaffnung entsprachen dem des Nachtstreifers, aber dieser Kerl hier wirkte, als wäre er geradezu begierig darauf, beides im Kampf einzusetzen. Grayson identifizierte ihn als einen sogenannten Wildmann. »Wir wollen ja nicht, dass Sie ein paar unserer Gäste freilassen.« Dabei deutete die Wache mit dem Daumen über ihre Schulter, und Grayson fühlte sich entgegen seines Willens massiv eingeschüchtert. Vor ihm öffnete sich ein runder Schacht von sicher dreihundert Metern Durchmesser, in dem auf verschiedenen Höhen und Abständen zueinander große Käfige an dicken, runenverzierten Ketten hingen, in denen verschiedenste Gestalten hausten. Grayson sah drachenartige Vierbeiner mit tückisch intelligenten Augen, diverse Menschen, einen Yeti mit abgebrochenem rechten Horn, zwei Teufel, die sich gegenseitig in ihrer fremden Sprache etwas zuzischten, einige Ghule, drei Nachtmahre und fünf bleiche Personen, die nur Vampire sein konnten. So erstaunlich dieses Sammelsurium an Gefangenen in den ausladenden, mit Mobiliar versehenen Käfigen auch war: Die flimmernde, sich wabernd bewegende Wand aus purem Gold, die überall und nirgends zwischen den einzelnen Insassen hin und her wogte und die hängenden Zellen voneinander trennte, war der deutlich spektakulärere Anblick. Grayson folgte der grünhäutigen Wache über den breiten Steg, der sich zwischen den Käfigen entlang zog, und auf dem zwei äußerst schmale weiße Linien jenen Bereich markierten, in dem der Quaestor mit seiner antimagischen Gabe keinen Schaden an den Sicherheitsvorkehrungen anrichten konnte.
»Das erste Mal unter dem Tower von London?«, fragte die Wache in einem Plauderton, der auch zu einem freundlichen Bäcker aus einem heimeligen Vorort gepasst hätte, der Smalltalk mit seinen Kunden betrieb.
Grayson nickte nur und sah sich weiter um. Der Schacht ging noch hunderte Meter weiter in die Tiefe, und überall hingen Käfige mit Gefangenen, zwischen denen dieses goldene Feld flimmerte. Mehrere Brücken spannten sich quer durch den schier bodenlosen Schacht, und Grayson konnte eine Frage nicht zurückhalten: »Wie tief geht es hier runter?«
Der Wächter lachte. »So weit, dass die Zwerge uns gesagt haben, wir sollen verdammt nochmal aufhören zu bohren«, kam die flapsige Antwort. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Weiter unten werden die Verurteilten festgesetzt, die den Luftdruck hier oben nicht aushalten, und das gilt auch für die Wachen.« Der Wächter zuckte mit den Achseln. »Dies ist das älteste Gefängnis der Nebula Convicto weltweit. Wir sperren hier schon so lange die schlimmsten Verbrecher der magischen Welt weg, dass wir regelmäßig in die Tiefe bauen mussten.«
Grayson versuchte, sich nicht vorzustellen, wie viele gemeingefährliche Wesen hier ihre Strafe verbüßten, während sie den Schacht überquerten. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Ende der Brücke und die vielen Türen, die von dem dort erkennbaren halbrunden Plateau in der Wand abgingen. »Wie weit ist es noch?«, fragte er nervös. »Ich will hier wirklich nichts … kaputtmachen.«
»Gute Idee«, sagte der Wächter und deutete auf die dritte Tür von links, ein echtes Monster aus Stahl und mit sechs dicken Riegeln. »Das da ist Ihr Zugang.« Das grünhäutige Wesen grinste, was seine Hauer besonders zur Geltung brachte. »Komplett ohne Magie, zumindest von dieser Seite aus. Der Gefangene wird durch einen gesicherten Korridor auf der anderen Seite des Verhörraums reingebracht und dann können Sie ihm so viele Fragen stellen, wie Sie nur wollen.«
Grayson brummte. »Die Fragen sind kein Problem«, sagte er knapp. »Um die Antworten mache ich mir Sorgen.«
Der Wächter schien zum ersten Mal verunsichert zu sein. »Er ist doch nur ein Magier«, sagte er schließlich. »Sie hatten es doch schon mit weit Schlimmerem zu tun, als einem von denen.« Dabei stemmte er die Riegel zur Seite und öffnete für Grayson die Tür, die den Weg zu einem weiteren kurzen Tunnel freigab, an dessen Ende ein spiegelglatter Metalltisch und zwei am Boden festgeschraubte Stühle warteten. Ein Anflug von Vertrautheit holte den Ermittler ein, als er auf den kleinen Raum zutrat, der gerade groß genug war, dass man erst nach einer Weile Platzangst bekommen würde. Dies hier war ein Schlachtfeld, auf dem er sich gut auskannte. Seufzend setzte er sich auf einen der Stühle des Verhörraumes und nickte der Wache zu.
»Bringen Sie ihn rein, aber unterschätzen Sie ihn nicht«, warnte er den Aufseher. »Er ist vielleicht nur ein einziger Magier, aber für den Zwischenfall in Paris hauptverantwortlich.«
Ein nachdenklicher Gesichtsausdruck huschte über die Miene hinter den beiden Hauern. »Ich lasse seine Bannfesseln überprüfen, bevor ich ihn reinbringe«, sagte er und verschwand auf der anderen Seite des Verhörraums, während hinter Grayson die Panzertür zuschlug. Der Quaestor sah, wie die Luft für Sekundenbruchteile in verschiedenen Farben flimmerte, als bisher verborgene Runen auf den Wänden mit ebensolchen Zeichen auf der Panzerung der Wache harmonierten, sodass er die unsichtbaren Schutzzauber dieses Ortes passieren konnte. Verblüfft bemerkte der Quaestor, dass dabei sogar ein Tattoo am Hals der Wache aufleuchtete. In diesem Job wurde wohl nichts dem Zufall überlassen. Kein Wunder, dass Grayson einen gesonderten Eingang nur für Lacuni nehmen musste. Hier drinnen war praktisch jeder Quadratzentimeter mit Schutzmagie angefüllt.
Während er wartete, starrte der Quaestor auf den spiegelglatten Tisch vor ihm, in dem sich nicht nur das Licht der Neonlampe über ihm, sondern auch sein eigenes Gesicht spiegelte. Der dunkle Bart, der mit scharfen Konturen seinen Mund umrahmte und seine in die Stirn fallenden Haare, die er sich auf Shajas Wunsch hatte länger wachsen lassen, umrahmten sein etwas hager wirkendes Gesicht, das nicht verbergen konnte, dass Grayson in seinen mittleren Jahren angekommen war. Eine echte Spitzenleistung, wenn man bedachte, dass er schon vor seiner Zeit als Quaestor ständig mit den miesesten Fällen zu tun gehabt hatte, die Scotland Yard zu bieten hatte. Er war so oft in Lebensgefahr geraten, dass es einem Wunder glich, dass Morgan ihn damals überhaupt noch hatte anwerben können – und seitdem war Graysons Leben bestimmt nicht sicherer geworden!
Die gegenüberliegende Tür öffnete sich und der Wächter kam herein, eine eingefallen aussehende Gestalt vor sich herschiebend, die nichts mehr von jener hochtrabenden und kulturell gebildeten Art hatte, mit der sie sich bis zuletzt in Paris umgeben hatte. Die Augen des Magiers de Poulier wirkten trüb, seine Finger waren ausgemergelte Stifte aus fahlen Knochen, die deutlich unter dem dünnen Fleisch hindurch schienen. Der Magier trug eine hellgelbe Kleidung, in die allerlei Symbole eingestickt worden waren, und seine Hand und Fußgelenke lagen in Ketten, in die dieselben Zeichen graviert worden waren. Graysons Magietheorie war zwar noch lange nicht so gut, wie Morgan es sich wünschte, aber sogar er erkannte in den Zeichen Bannzauber der übelsten Art. Kein Wunder, dass de Poulier so heruntergekommen aussah. Der Magier könnte derart gesichert nicht einmal ein magisches Leuchten erschaffen, und das musste einem Mann seiner arkanen Macht furchtbar zusetzen.
Der Wächter drückte den sich fügenden Gefangenen auf den Stuhl gegenüber des Tisches und kettete de Poulier dort mit den Füßen am Boden fest. Als der Ermittler mit einer knappen Geste darum bat, nickte die Wache ihm einmal zu und schlenderte aus dem Raum.
»Mister Steel«, sagte der Magier mit einer brüchigen Stimme, die um Jahrzehnte gealtert klang. »Wochen um Wochen des Verhörs und doch besuchen Sie mich erst jetzt?« Das krächzende, selbstmitleidige Lachen des Magiers klang dissonant und hallte schmerzlich von den Wänden des kleinen Raumes wider.
Grayson verschränkte die Hände vor der Brust und musterte den Gefangenen aus zusammengekniffenen Augen. »Ihre Freunde, die wir überall auf der Welt festnehmen konnten, haben so viele Geheimnisse verraten, so viele Verbündete ans Messer geliefert, dass für ein Schwätzchen mit Ihnen bisher keine Zeit war«, sagte er genüsslich. »Viele Ihrer Komplizen haben sich dadurch Haftverbesserungen erwirkt, aber Sie nicht.« Er wedelte vor dem Magus mit seinem Zeigefinger in der Luft herum. »Oh nein, Sie haben immer nur soviel verraten, wie wir eh schon von Ihren Mitverschwörern wussten. Sie haben geredet wie ein Wasserfall, de Poulier, nur gesagt haben Sie dabei nichts.« Grayson lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, als de Poulier nicht auf seine Worte reagierte. »Wissen Sie, was interessant ist?«, sagte er in einem sinnierenden Ton. »Immer, wenn es in den anderen Verhören spannend wurde, tauchten drei Worte in den Protokollen auf: Fragt de Poulier!« Er deutete mit beiden Händen auf den Magus, der Paris mittels eines Sonnenrituals in einen brodelnden Hexenkessel aus Urtrieben und Hass verwandelt hatte. »Also habe ich mir gedacht, ich folge diesem Ratschlag und komme selbst her, um Sie höchstpersönlich zu befragen.«
De Poulier verzog sein aschgraues Gesicht zu einer bedauernden Miene. »Die anderen sind mir mit ihrem Wissen zuvorgekommen …«, begann er, aber Grayson hieb mit seiner Faust so kräftig auf den Tisch, dass der Knall im kleinen Verhörraum laut wiederhallte.
»Erzählen Sie mir nicht das Märchen vom kleinen Mittelsmann, der nicht mehr weiß als seine Ordensbrüder der Prieuré de Sion!«, brüllte er den Magus an. »Mack ist Ihrem Geld, Ihrer Kommunikation und der Befehlsstruktur Ihrer Organisation gefolgt. Sie sind der Kontaktmann zu den eigentlichen Verschwörern! Sie kennen die Hintermänner, die die Nebula Convicto stürzen wollen!« Grayson beugte sich vor und starrte de Poulier aus nicht einmal zehn Zentimetern Entfernung in die Augen. »Sie glauben, Ihre Freunde werden Sie irgendwann hier rausholen, oder?« Ein teuflisches Grinsen stahl sich auf Graysons Gesicht. »Reden Sie, oder ich lasse diese tollen Bannsymbole auf ihrer Kleidung und ihren Fußfesseln in ihren Hals eintätowieren. Dann werden Sie niemals wieder einen Zauber sprechen können, selbst wenn Sie irgendwann das Licht der Sonne wiedersehen.«
Hatte der Magier bisher eine Aura der passiven Unterwürfigkeit ausgestrahlt, versprühte er nun nackte Panik. »Das würden Sie nicht tun!«, kreischte de Poulier wie von Sinnen. »Das dürfen Sie nicht tun!«
»Ich kann und ich werde«, sagte Grayson mit einem nachdrücklichen Nicken. »Denken Sie an die Geschichten über mich. Wenn ich bei einem Dämon meinen Revolver einsetze, um Antworten zu erzielen, warum sollte es mich dann stören, Ihre Kräfte permanent versiegeln zu lassen?«
De Poulier stieß gurgelnde, halb verständliche Laute aus, und Grayson fragte sich für einen Moment, ob er mit seinen Worten zu weit gegangen war und den Gefangenen an dessen Angst verloren hatte. Natürlich würde er de Poulier nicht magisch verkrüppeln, aber da er in der Nebula Convicto den Ruf genoss, bei seinen Verhören über die Stränge zu schlagen, hatte er diesen Vorteil ausnutzen wollen. Grayson wollte gerade seine Drohung abmildern, als ihm auffiel, dass de Poulier gar nicht sinnlos vor sich hinbrabbelte. Er hatte Morgan oft genug einen Zauber sprechen hören, um zu erkennen, dass der Gefangene tatsächlich versuchte, trotz der Bannsymbole Magie zu wirken!
»Sparen Sie sich die Mühe …«, begann der Quaestor in dem Versuch, den Kampfeswillen des Verschwörers zu brechen, doch da biss sich dieser heftig auf die Zunge und spie das daraus hervorquellende Blut auf den glänzenden Metalltisch, wo es sich zu einem komplexen Muster formte, das sich dampfend in die harte Oberfläche fraß. Blutmagie!
»Wache!«, brüllte Grayson nach Leibeskräften, während er instinktiv seine antimagische Gabe ausdehnte, um den Raum damit zu fluten. Runen an den Wänden flackerten und erloschen. Das Neonlicht zersprang mit einem Knall, als ein Dutzend magischer Expositionen die Wände und Decke entlangliefen und den Raum in ein surreales, unstetes Licht hüllten. Die Blutmagie auf dem Tisch wand sich wie eine lebende Schlange, welche im Stahl des Tisches Zuflucht suchte, und de Poulier spie mit einem rauen Lachen noch mehr Blut hinzu, murmelte fremdartige Worte und ignorierte die antimagischen Entladungen auf seiner Haut, als Graysons Gabe seine Kräfte, aber auch die Bannsymbole auf seiner Kleidung und seinen Fesseln angriff. Der Quaestor griff fluchend nach seinem Revolver, als hinter ihm etwas im Stoff des Universums riss, das niemals reißen durfte. Eine unirdische Kälte flutete seinen Rücken und ein Sog setzte ein, der den Ermittler von seinem Stuhl zu reißen drohte. Ein Druckabfall im Flugzeug war nichts gegen die Kräfte, die Grayson an sich zerren fühlte, und er klammerte sich verzweifelt mit beiden Händen an den im Boden verschraubten Stuhl. De Poulier lachte indes gackernd, seine Züge eine halbwahnsinnige Grimasse des Triumphes, die im flackernden Licht der sterbenden Bannzeichen wie die Fratze eines Dämons wirkte.
»Mich werden Sie nicht bannen lassen«, tönte die sich überschlagende Stimme des Magiers durch den Raum, in dem ein heulender, unirdischer Wind eingesetzt hatte. Er selbst wurde zwar auch von dem Sog erfasst, aber seine Fesseln hielten ihn sicher an Ort und Stelle, zumal er auch noch den Tisch hatte, gegen den er sich stemmen konnte, während Grayson bereits waagerecht an dem Stuhl in der Luft hing. »Ihr Tod wird mir Belohnung genug sein«, sagte de Poulier mit heiserer Stimme. Entsetzt bemerkte der Quaestor, dass das Fleisch unter der Haut des Magiers regelrecht zu schmelzen schien. Die Blutmagie des Mannes brachte ihn in Windeseile um, aber das schien ihn nicht zu kümmern, solange er nur Grayson mit in den Tod nehmen konnte. Die Tür hinter de Poulier ging auf, und die grünhäutige Wache stürmte mit feuerbereiter Waffe in der Hand hinein, nur um sofort von dem Sog erfasst und schreiend an Grayson vorbei gesaugt zu werden. Entsetzt riskierte der Quaestor einen hektischen Schulterblick und sah einen gut zwei Meter durchmessenden Wirbel aus absoluter Dunkelheit, der sogar das Licht zu verschlucken schien und in den die verzweifelte Wache gezogen worden war. Dies schien eine zerstörerische Öffnung zu jenem Ort zu sein, den man durchquerte, wenn man eine magische Falte nutzte, um große Distanzen zurückzulegen.
Graysons Angst wuchs, als er an diesen toten Ort der Leere dachte, der ihn schon immer in Furcht versetzt hatte. Wenn er dort hineingeriet, konnte ihm auch seine Gabe nicht mehr helfen! Er überlegte fieberhaft, ob er es riskieren sollte, nach seiner Waffe zu greifen, aber seine Arme brannten bereits wie Feuer und sein Atem ging stoßweise, da dieser Wirbel den Sauerstoff ebenso ins Nichts riss wie alles andere auch, dessen er habhaft werden konnte. De Poulier verging vor Graysons Augen immer mehr, aber dem Ermittler war klar, dass seine Arme lang vor dem Ende des Zaubers ermüden würden. Während das Blut von innen gegen seinen Schädel hämmerte, griff Grayson so tief in sein Innerstes wie er nur konnte und dehnte seine Gabe auf den gesamten Raum aus. Doch de Poulier lachte nur, trotz der blauen Blitze, die nun über seinen Körper tanzten. »Ihre Gabe ist zu schwach, wenn Sie sie so weit ausdehnen müssen, Quaestor«, spottete er. »Unser gemeinsamer Tod ist unvermeidlich.«
»Ein arroganter Arsch bis zum letzten Atemzug«, presste Grayson wütend zwischen vor Anstrengung zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein Griff um den Stuhl erlahmte und außerdem hörte er das Quietschen der Schrauben mit denen die Stahlbeine am Boden angebracht worden waren, während der schwarze Strudel hinter ihm erbarmungslos die Realität dieses Raumes in sich einsaugte. Die Wände und Decke schienen sich allmählich zu verformen, auf eine seltsam unwirkliche Art, als wäre die Gravitation nur das erste von vielen Naturgesetzen, das von diesem Ort fliehen würde. Grayson verspürte eine Hilflosigkeit, die den Zorn in seinem Inneren nährte. Er wollte sicher nicht so draufgehen und rang sich schließlich zu einer Verzweiflungstat durch, bei der er alles auf eine Karte setzte. Er zog seine Gabe zu einem kleinen, heißglühenden Ball zusammen und konzentrierte sich ganz auf seine Wut.
»Geben Sie schon auf, Mr. Steel?«, krächzte de Poulier triumphierend, der mittlerweile einem Kranken im Endstadium glich. »Ich hätte mehr Kampfgeist von Ihnen erwartet.« Der Magier machte eine beinahe sanfte, bittende Geste mit beiden Händen inmitten des reißenden Sogs, der das Leben aus dem Gefangenen herausriss. »Lassen Sie los, Quaestor«, sagte de Poulier beschwörend. »Ersparen Sie sich eine Zukunft, in der das Blutsiegel bricht und die Welt in einer Welle entblößter Fangzähne und unzähliger Toten versinkt.«
Grayson spürte, wie seine Finger sich öffneten, als der Mahlstrom, jetzt, da der Ermittler ihm nicht mehr mit seiner Gabe entgegenwirkte, mit ungehemmter Kraft an ihm zog. Er bündelte seinen rasenden Zorn auf die Verschwörer und auf diesen fanatischen Mann vor ihm, verknüpfte sie mit seinem Überlebenswillen und seiner Sturheit und formte daraus einen Ball in seinen Inneren, der weiß lodernd in seiner Brust zu brennen schien. Grayson starrte in die triumphierend aufgerissenen Augen de Pouliers, als er seinen Griff um den Stuhl aufgab und einen Augenblick davon entfernt stand, in die Vergessenheit jenseits der Schwärze gesogen zu werden.
Dann ließ Grayson den Ball in seinem Inneren mit einem Schrei explodieren, und für einen Sekunde schien es ihm, als endete die Welt. Schwarz wurde weiß, hell wurde dunkel, oben wurde unten. Die antimagische Explosion zerriss den Griff des Strudels ebenso wie den von Blutmagie durchtränkten Stahltisch, die mit Runen versehenen Wände oder die ebenso gesicherte Decke. De Pouliers Körpers wurde nach hinten in den Stuhl geschleudert, und Grayson sah noch den Anflug einer Überraschung auf dessen Gesicht, bevor der Körper des Magiers sich einfach auflöste wie ein morsches Blatt im Sturmwind. Graysons Füße wurden schlagartig taub, als sie in den Wirbel eindrangen, doch dann löste auch der sich mit einem leisen Knall auf und der Quaestor stürzte waagerecht zu Boden, als die Gravitation ihr Recht auf diesen Ort zurückforderte. Er schlug schwer auf und drehte sich stöhnend auf dem Rücken, während er in der nun völligen Dunkelheit des vernichteten Verhörraumes dalag und dem Zischen erlöschender Magie und dem Heulen der Sirenen lauschte, die den Tower unter London in Alarmbereitschaft versetzten. Dutzende Stiefelschritte trommelten laut auf dem Metall, als Wachen in Richtung des verwüsteten Zimmers strömten, um sich zu vergewissern, dass der Schaden sich nicht weiter im Gefängnis ausbreitete. Müde schüttelte Grayson den Kopf. »Der Verhangene Rat wird mich nie wieder ein Verhör leiten lassen«, murrte er vor sich hin. Dann rappelte er sich mühsam auf, zog sich auf den schiefen, verformten Stahlstuhl und machte sich auf eine Flut aus Fragen und Anschuldigungen bereit.
Greater London, Worthington Manor, Freitag, 12. Dezember, 07.57 Uhr
Gähnend schaute Grayson auf die Uhr und rieb sich anschließend mit den Händen über die Haare und das Gesicht. Die Nachbesprechung hatte die gesamte Nacht gedauert. Obwohl man es auch ruhig als Strafpredigt hätte bezeichnet können. Die Wächter und der Leiter des Towers, ein übergewichtiger und ebenso muskulöser Troll, hatte ihn einem sehr langen, sehr lauten Verhör unterzogen und dabei keinerlei Rücksicht auf seinen Status als Quaestor genommen. Grayson hatte weder seine Quadriga noch den Verhangenen Rat kontaktieren dürfen, bis er die Umstände des Todes de Pouliers und die Risse in den Abwehrzaubern des Towers, die seine Notwehr herbeigeführt hatten, mehrfach erklärt hatte. Der Quaestor war zu erschöpft und ausgelaugt für eine heftige Gegenwehr gewesen, denn die Hervorrufung der antimagischen Explosion hatte ihn mehr ausgelaugt als ein Vierzig-Kilometerlauf mit schwerem Gepäck auf dem Rücken. Erst nachdem die Ermittlungsmagier des Towers Rückstände von Blutmagie und des chaotischen Mahlstroms hatten nachweisen können, war die feindselige Stimmung schließlich gekippt und der Direktor des Gefängnisses hatte Grayson zähneknirschend gehen lassen.
Der Quaestor stöhnte auf und legte seinen Kopf auf das Lenkrad des Quadriga-SUVs, den er sich in der Nacht für seinen Ausflug zum Tower geborgt hatte, kaum dass die Bewilligung des Rates zur Befragung von de Poulier eingetroffen war. Er hatte nicht einmal bis zum Morgen warten wollen, damit nicht irgendein Ratsmitglied, das vielleicht mit den Verschwörern sympathisierte, die Befragungserlaubnis durch einen bürokratischen Winkelzug verzögerte oder annullierte. Er hatte Morgans Einwände beiseite gewischt und war wie von der Tarantel gestochen losgefahren, ohne einen der anderen mitzunehmen. »Es ist ja nur ein Verhör«, hatte er gesagt. Grayson stieß den Atem aus und schüttelte langsam den immer noch auf dem Lenkrad liegenden Kopf. »Zeit für Runde zwei im lustigen Spiel: Wir waschen Grayson Steel den Kopf«, murmelte er vor sich hin. »Bring es hinter dich, alter Junge, dann kannst du endlich ins Bett.« Mit diesen Worten gab er sich innerlich einen Ruck und stieg aus dem Wagen. Er hatte noch keine zwei Schritte in Richtung des Landsitzes zurückgelegt, in dem Morgans Familie seit Jahrhunderten gelebt hatte, als sich die Eingangstür öffnete und Shaja darin auftauchte.
Die Halbdämonin lehnte sich demonstrativ gegen den Türrahmen, die Arme vor dem Körper verschränkt, den Kopf fragend zur Seite gelegt, während sie ihn eindringlich musterte, wie er auf sie zuschritt. »Du siehst aus, als hätte dich ein Lindwyrm zerkaut«, sagte sie zur Begrüßung. »Und zwar sehr genüsslich und langsam.«
Grayson mustere die junge Frau ebenfalls und genoss den Anblick ihrer athletischen Figur, die in enganliegenden schwarz-roten Trainingsklamotten steckte. Früher hatte er ihre Art, sich zu kleiden, ablenkend und aufdringlich gefunden, doch seit sie zusammen waren hatte er seine Einstellung gründlich geändert. Offensichtlich hatten sie und Richard bereits mit ihrem Morgentraining begonnen, denn ein Schweißfilm glänzte auf der exotisch anmutenden Bräune der rothaarigen Saggitaria. »Du siehst dagegen so gut aus wie immer«, sagte er und wollte ihr einen Kuss geben, doch Shaja zuckte zurück.
»Ein beiläufiges Kompliment aus deinem Mund, Grayson?«, fragte sie misstrauisch. »Dann muss es ernst sein.«
Der Quaestor seufzte schwer. »Es war eine furchtbar lange Nacht«, erklärte er müde. »Ich würde euch gerne kurz ins Bild setzten und dann ein paar Stunden schlafen, während Morgan und Mack auseinanderpflücken, was genau im Tower passiert ist.«
Shaja nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn kurz, aber wild. »Das muss zur Aufmunterung reichen«, sagte sie augenzwinkernd. »Und jetzt komm rein und geh in den Frühstücksraum. Parsley hat bereits alles vorbereitet, damit wir essen können.« Sie blickte an sich herab und zuckte dann die Achseln. »Eigentlich wollte ich noch duschen, aber dazu bin ich jetzt zu neugierig.« Sie sah ihn keck von der Seite an. »Dann machen wir das nach dem Essen eben gemeinsam.«
Grayson antwortete nicht auf Shajas Vorschlag, sondern ging stumm weiter, was ihm einen verblüften Seitenblick einbrachte.
»Du musst wirklich müde sein«, sagte sie spielerisch schmollend.
Der Quaestor verkniff sich ein Augenrollen. Shaja war mit ihrer fordernden und energiegeladenen Art schon einem ausgeschlafenen und hochmotivierten Grayson manchmal zu viel des Guten, aber jetzt fragte er sich, was sie in einem verlebten Wrack wie ihm sah, dass sie an seiner Seite blieb. Vielleicht die Tatsache, dass sie dich mit ihren Succubuskräften nicht umbringt, wenn ihr zusammen seid, flüsterte ihm der zynische Teil seines Verstandes zu.
Sie betraten den Raum, in dem Parsley, die magisch belebte Ritterrüstung und damit Hausdiener von Worthington Manor, stets das Essen servierte, und Grayson ließ sich in einen der breiten Sessel fallen, die am opulent gedeckten Tisch Platz fanden. Es roch nach Rührei mit Kräutern, Würstchen in einer Bohnensauce, Fischbrötchen für Richard, die er seit ihrer Zeit im Hamburg zum Bedauern aller morgens am liebsten verzehrte, und vor allen Dingen nach Kaffee. Grayson stürzte sich auf die schwarze Flüssigkeit, in deren lieblichem Aroma er rasch seine Sorgen und Müdigkeit ertränkte.
Shaja nahm neben ihm Platz und deutete auf die Platten voller Speisen. »Nimm dir bloß was zu essen«, befahl sie ihm. »Im Kaffeerausch bist du noch schwerer zu ertragen als sonst.«
»Wie nett«, murmelte er zwischen zwei Tassen des herrlichen Gebräus, folgte aber ihrer Aufforderung, als ein kleiner, hässlicher Kopfschmerz sich hinter seinen Augen breit machte.
»Wie ich sehe, fangen Sie schon ohne uns an«, hörte Grayson hinter sich die vornehm klingende und wohlakzentuierte Stimme des Hausherren Morgan Worthington, als dieser den Raum betrat und sich ihnen gegenüber hinsetzte. Der blonde Mann trug auch heute einen perfekt sitzenden, dunklen Anzug zu seinem Spazierstock, der gleichzeitig der Zauberfokus des langlebigen Magus’ war. Neu war nur die schlanke, mit Bannzaubern gespeiste metallische Fußfessel, die der Rat ihn als Auflage verpasst hatte, damit der Magus keine verbotene Magie mehr anwandte. »Wie ich hörte, war Ihr Ausflug höchst ereignisreich, Mr. Steel«, fuhr Morgan fort. »Die Vorkommnisse der Nacht wurden bereits zur Verschlusssache erklärt. Wie haben Sie nur jemals in der mundanen Welt ein Verhör durchführen können, ohne ein Blutbad anzurichten?«
»Morgan, wir wollten uns doch duzen«, warf Shaja tadelnd ein. »So oft wie wir jetzt die magische Welt vor dem Zusammenbruch gerettet haben …«
Der Magus verzog das Gesicht, als hätte man ihn geohrfeigt. »Ich ringe mich sicher noch dazu durch«, sagte er zögerlich. »Irgendwann.«
Grayson schmunzelte in seinen Kaffeebecher und lauschte den freundlichen Worten, die aus dem Flur zu ihnen hereindrangen. »Gebt Morgan noch ein, zwei Jahrzehnte. Er gewöhnt sich nur langsam an derartige Frivolitäten. Bei mir hat es Jahre gedauert, bis er mich geduzt hat.«
Grayson drehte sich in seinem Sessel um und nickte Richard zur Begrüßung zu, der in seiner üblichen Tracht aus rotem Hemd und weißem Trenchcoat hereinkam. In jeder Bewegung des breitschultrigen Mannes mit den kurzen weißen Haaren steckte etwas Soldatisches, Knappes, und es überraschte Grayson noch immer, wenn Richard lächelte – so wie er es gerade tat. »Ich bin so gespannt darauf, was du uns zu erzählen hast, Grayson«, sagte er mit einem scharfen Unterton in der Stimme. »Vor allem der Teil, bei dem du erklärst, warum du keinen Custos an deiner Seite gebraucht hast, der sich zwischen dich und die Gefahr wirft.«
»Sarkasmus steht dir nicht«, sagte Shaja lachend zu dem Mann und klopfte auf den freien Sessel neben sich, woraufhin der ewige Ritter sich zu ihr setzte. »Überlass das Morgan oder Mack, die sind dafür geboren.«
Ein übergroßer Monitor an der Wand ging an und zeigte das kantige, übermäßig gepiercte Gesicht einen Zwerges mit kurzrasiertem roten Haar und Vollbart, dessen sonst so bissig dreinblickende lilafarbene Augen heute hinter einer Sonnenbrille versteckt lagen. »Hab ich da gerade meinen Namen gehört?«, nuschelte Mack, der Schatten der Quadriga, der in seiner Höhle tief im Erdmantel für sie die Hintergrundrecherche übernahm und ihnen in Einsätzen mit seiner Drohne unter die Arme griff. Die Stimme des Zwerges klang rau und raspelig und er saß schief in seinem Stuhl.
»Harte Nacht gehabt?«, fragte Shaja neugierig.
»Zwergenhochzeit«, grummelte Mack. »In ein paar Stunden bin ich wieder fit. Und unser Quaestor sieht schlimmer aus als ich. Lässt du ihn denn nie schlafen?« Dabei machte er eine eindeutige Geste mit seinen Händen.
Grayson räusperte sich ungehalten, während Morgan pikiert auf sein Essen starrte, Richard mit den Augen rollte und Shaja leichthin lachte. »Nur kein Neid«, sagte sie unbeeindruckt, bevor sie hinzufügte: »Grayson wollte uns gerade erzählen, was genau ihn zwischen die Fänge bekommen hat.«
»Moment«, sagte Mack und griff zu einer Bierdose, die bisher außerhalb des Bildbereiches gestanden hatte und legte dann seine Füße hoch. Er öffnete die Dose und nahm einen tiefen Schluck, woraufhin er wohlig seufzte. »Kann losgehen«, sagte er dann.
Grayson bediente sich noch einmal an seinem Kaffee und holte dann tief Luft. »Das Verhör de Pouliers begann volkommen normal …«, begann er seine Erzählung und hoffte, seine Quadriga würde ihm hinterher nicht auch noch die Hölle heiß machen.
Greater London, Worthington Manor, Freitag, 12. Dezember, 14.06 Uhr
»Aufgewacht!«, rief Shaja ihm unvermittelt ins Ohr, während sie ihn auf dem Bett festnagelte. »Morgan und Mack haben ihre ersten Nachforschungen angestellt und wollen uns nun informieren.«
»Ich hasse dich«, sagte Grayson, der aus dem Schlaf hochgeschreckt war, mit einem gequälten Lächeln. Seit ihrer Zeit in Paris, in der sie unter dem Einfluss des gefühlsverstärkenden Sonnenfluchs zueinander gefunden hatten, führten sie eine Art Beziehungskleinkrieg, der sowohl anregend als auch kräftezehrend war. Shaja und er waren so unterschiedlich, dass sie nur zwei Möglichkeiten gefunden hatten: Entweder sie trennten sich oder sie zelebrierten ihre Unterschiedlichkeit und forderten sich jeden Tag aufs Neue heraus. Eine Trennung hatten sie versucht: Die hatte keine achtundvierzig Stunden gehalten und mit einem verwüsteten Flur und einem berührt wirkenden Parsley geendet. Also hatten sie beschlossen, dass jeder von ihnen genauso blieb, wie er war und der andere damit leben musste, ihn genau dafür zu lieben.
An einigen Tagen fiel Grayson das leichter als an anderen.
»Lässt du mich dann aufstehen«, sagte er bärbeißig und wollte sich unter ihr hervorwinden, doch sie hielt ihn weiter fest, indem sie ihre Körpermagie zu Hilfe nahm, wie die golden aufglühenden Muster unter ihrer Haut verrieten.
»Zwing mich doch«, schnurrte Shaja ihm ins Ohr.
Mit einem Brummen dehnte Grayson sein Lacunusfeld weit genug aus, um Shaja damit einzuhüllen, und kleine blaue Funken tanzten über ihre Haut. »Das kitzelt«, kicherte sie und wand sich aufreizend auf ihn. Dann sah sie ihm fest in die Augen und küsste ihn. »Anscheinend bist du wieder weit genug bei Kräften«, hauchte sie ihm anschließend ins Ohr. »Warum lassen wir die anderen nicht noch ein wenig warten?«
Greater London, Worthington Manor, Freitag, 12. Dezember, 15.13 Uhr
»Na endlich«, sagte Morgan und klopfte gereizt mit seinem Gehstock auf das schwere Holz des massiven Tisches in ihrem Besprechungsraum. »Das hat viel zu lange gedauert.«
»So viel zu eurer Zusicherung, dass eure Beziehung sich nicht auf die Quadriga auswirkt«, fügte Richard ungewöhnlich mürrisch hinzu.
»In einer Krisensituation«, verteidigte sich Shaja und ließ sich in einen Stuhl plumpsen. »Jetzt habt ihr halt ein paar Minuten auf uns gewartet, was soll’s?« Sie deutete auf Grayson, der sich mit einem gereizten Laut setzte. »Wir haben das doch schon mehrfach durchgekaut. Mein Job als Saggitaria war es schon immer vornehmlich auf den Quaestor aufzupassen. Daran wird sich nichts ändern – außer dass ich jetzt motivierter bin als früher.«
»Wir diskutieren das nicht wieder«, sagte Grayson entschieden. »Und was die Warterei angeht: Ich entschuldige mich, das war unhöflich und kommt nicht wieder vor.«
Morgan und Richard wirkten besänftigt, während Shaja ihn mit kämpferisch vorgerecktem Kinn ansah. Sie konnte genauso stur sein wie er, vor allem wenn es um Belange der persönlichen Entscheidungsfreiheit ging. Grayson machte eine beschwichtigende Geste mit seiner Hand, während er sie gleichzeitig warnend ansah. Er war froh, dass sich ihre Quadriga nach Paris nicht nur zusammengerauft hatte, sondern richtig gut miteinander harmonierte. Selbst seine Beziehung zu Shaja wurde immer mehr zur Normalität, wenn sie es nicht, wie jetzt gerade geschehen, drauf anlegten, die anderen mit der Nase darauf zu stoßen.
Macks Drohne flog durch ein offenes Fenster in den hellen Raum, der von einer Monitorwand dominiert wurde. »Da seid ihr beiden ja«, sagte der Zwerg lakonisch, dessen Gesicht auf den Frontbildschirm der an einen Quadkopter erinnernden Maschine zu sehen war. »Dann können wir ja anfangen.« Die Drohne schwebte über einen der freien Stühle, eine Eigenheit, die Mack sich angewöhnt hatte, wohl um seine Zugehörigkeit zu der Quadriga zu demonstrieren. Insgeheim fragte sich Grayson, ob Mack die Drohne mittlerweile als Teil seines Körpers betrachtete, so viel Zeit wie er damit verbrachte, das Ding zu fliegen.
Die Monitorwand erwachte zum Leben, und ein komplexes Geflecht aus Gesichtern und Orten, die auf dem Hintergrund einer Weltkarte mittels Linien miteinander verbunden waren, tauchte auf. Grayson sah de Poulier, das Ratsmitglied Klesk, welcher damals die Tochter der Lady vom See hatte entführen lassen, und viele andere Gesichter, die ihm vertraut vorkamen. »Ich habe sämtliche uns bekannte Komplizen der Verschwörer und deren Zahlungsverkehr, Reisen, Geschäftskontakte und bekannte Freunde in eine eigens programmierte Matrix eingegeben und nach Gemeinsamkeiten oder auch auffälligen Zufälligkeiten suchen lassen, um den Verschwörern näherzurücken oder weitere Komplizen ausfindig zu machen«, begann Mack. Plötzlich änderte sich das Schaubild und rote Kreuze legten sich über all jene Verschwörer, die sie bisher aus dem Verkehr hatten ziehen können. Zufrieden sah Grayson, dass nur noch drei übrig waren: Ein windiger Geschäftsmann aus Deutschland, der in die Wüste Gobi geflohen war, wo er keinen Schaden mehr anrichten konnte und von den dort aktiven Jägerschamanen sicher bald gefunden werden würde. Eine japanische Magierin namens Hitomi Hasunae, die zu gut am Kaiserlichen Hof des Landes vernetzt war, um mehr als einen Hausarrest zu befürchten. Und schließlich einen russischen Oligarchen namens Ankar Schubnakow, den Graysons Team als leichtsinnig und arrogant eingestuft hatte und der absichtlich noch auf freiem Fuß war und engmaschig überwacht wurde, in der Hoffnung, dass er einen Fehler machte und sie zu jenem Kern der Verschwörung führte, von dem all die Pläne ausgegangen waren, die Grayson und seine Freunde in den letzten Jahren vereitelt hatten.
»Das war der Stand gestern«, sagte Mack. »Dann ist Grayson zu seinem spektakulären Verhör de Pouliers aufgebrochen.« Das Bild des französischen Magiers wurde abgedunkelt, um zu zeigen dass er nun verstorben war. »Und das ist die aktuelle Lage.« Zwei der drei übrigen Verschwörer auf freiem Fuß wurden ebenfalls abgedunkelt, nur der Geschäftsmann in der Wüste Gobi wurde mit einem Fragezeichen versehen, das aus tanzenden Totenschädeln bestand – Macks fragwürdiger Humor schlug wieder zu. »Mr. Schubnakow fand sich am falschen Ende eines sehr scharfen Gegenstandes wieder und Mrs. Hitomi vergaß wohl, dass sie auf Äpfel allergisch reagiert und aß deswegen fünf davon«, sagte Mack leichthin. Der Zwerg hatte noch nie etwas dagegen gehabt, wenn sich die bösen Buben gegenseitig umbrachten. »Was unseren deutschen Freund angeht, der wurde noch nicht gefunden, aber ich wette um eine Vollrasur, dass er bereits unter einer großen Düne in der Wüste vor sich hinmodert.«
Grayson schlug frustriert mit der Faust auf den Tisch. »Sie kappen alle Verbindungen, diesmal im großen Stil. Niemand außerhalb des harten Kerns überlebt.«
»Und vielleicht gibt es sogar innerhalb der Gruppierung Säuberungsaktionen«, gab Morgan zu bedenken. »Jegliche Kontaktpersonen, die dieses internationale Geflecht aufgebaut haben.«
»Das habe ich mir auch gedacht«, sagte Mack. »Ich lasse gerade weltweit nach Unfällen und Todesfällen in den letzten vierundzwanzig Stunden suchen, deren Opfer irgendwie mit den bekannten Verschwörern zu tun hatten.« Der Zwerg verzog das Gesicht. »Das ist ein großer Haufen Toter und kann eine ganze Weile dauern, wenn ich die Suche nicht eingrenzen kann.«
Grayson wandte sich an Morgan und Richard. »Habt ihr irgendwas über dieses Blutsiegel herausgefunden, das de Poulier in seinen letzten Momenten erwähnte?«
»Dies ist ein üblicher Begriff in der Arkanologie«, sagte der Magus kopfschüttelnd. »Jedes mit Blutmagie hergestellte Bannsiegel fällt darunter.«
»Verdammt«, fluchte Grayson. »Und ich hatte gehofft, de Poulier würde einen entscheidenden Hinweis fallen lassen.«
Richard lächelte zufrieden. »Ich denke, das hat er auch. Zumindest wenn man unseren Kenntnisstand bedenkt. Ich habe mit ein paar alten Bekannten in der Unendlichen Legion gesprochen und ihnen gegenüber de Pouliers Worte wiederholt. ›Ersparen Sie sich eine Zukunft, in der das Blutsiegel bricht und die Welt in einer Welle entblößter Fangzähne und unzähliger Toten versinkt‹.« Der Ritter blickte sich vielsagend um. »Fünf Minuten später bekam ich eine verschlüsselte Mail von einem Fünf-Sterne-General, dass er sich bei mir melden wird.«
Graysons Laune besserte sich nicht bei diesen Worten. »Die Unendliche Legion ist keine Institution, der wir zu nahe kommen wollen.« Alle Anwesenden nickten. Shaja und Richard hatten in der Armee der Nebula Convicto gedient und keiner der beiden blickte im Nachhinein mit Wohlwollen auf diese Zeit zurück. Grayson hatte seinerseits genug von der Unendlichen Legion gehört und gesehen, um zu wissen, dass sie einen Arm amputierte, wo auch ein Antiseptikum und etwas Geduld reichen würden. Sie hatte mit einem Atombombenabwurf auf Norddeutschland geliebäugelt, sollte es Grayson und seinem Team nicht gelingen, T’chan anderweitig aufzuhalten und den Kordon um das vom Sonnenfluch gebeutelte Paris hatten sie mit extremer Waffengewalt aufrecht erhalten. All diese Dinge hatte Grayson zähneknirschend in den Nachberichten seiner Einsätze gelesen, lange nachdem die jeweiligen Krisen vorbei waren. Die Unendliche Legion handelte erst, dachte dann nach und informierte irgendwann später. Dass einer ihrer Generäle sich in die Ermittlungen einmischte, schmeckte ihm nicht.
»Morgan, versuche bitte die Lady vom See zu erreichen, damit sie die Unendliche Legion an die Kandare nimmt. Ich will nicht, dass ein übereifriger Waffenfetischist …«
Der Rest seiner Worte ging in einem massiven Dröhnen unter, als sich ein schwerer Hubschrauber, der sich bisher wohl unter dem Mantel eines Tarnzaubers genähert hatte, auf der gepflegten Zufahrt vor dem Anwesen niederging.
»Nicht doch, mitten auf den Rosen«, stöhnte Morgan, als auch schon sechs Soldaten in Kampfmontur und mit Sturmgewehren ausgestattet aus dem Inneren des Helikopters sprangen und auf die Eingangstür zugingen.
»Ich mache besser auf«, sagte Richard seufzend. »Die treten sonst die Tür ein.«
»Morgan, das Telefon«, sagte Grayson beschwörend. »Ich will die Lady vom See in der Leitung haben.«
Der Magus begann hastig zu tippen, während Mack seine Drohne aufsteigen ließ und Shaja Richard hinterher eilte. »Mack, lass dein Spielzeug im Haus«, kommandierte Grayson eilig. »Es sei denn, du willst, dass ein übernervöser Soldat das Ding vom Himmel holt.«
Sofort senkte die Drohne sich wieder ab und positionierte sich in einer Ecke des Zimmers. »Guter Einwand, Boss«, sagte Mack trocken. »Ich schau mal, ob ich herausbekomme, wer da genau in unserem Vorgarten parkt.«
Ein lautes, bestimmtes Hämmern ertönte von der Eingangstür und Grayson lief in die Empfangshalle des Anwesens, um dem hektisch telefonierenden Morgan notfalls mittels eines lautstarken, langatmigen Protestes mehr Zeit zu verschaffen. Die Lady vom See war als Ratsherrin auch die Oberbefehlshaberin der Unendlichen Legion und Grayson wollte demjenigen, der diese Soldaten ausgesandt hatte, nicht ohne politischen Rückhalt entgegentreten. Richard öffnete gerade die Tür und Grayson sah, das Shaja sich taktisch derart positioniert hatte, dass sie die eindringenden Soldaten innerhalb eines Augenblicks im Nahkampf binden konnte. Richards Gesicht war zwar höflich, als er das Wort ergriff, aber Grayson erkannte, dass der Ritter unter seinem Mantel sein Breitschwert umfasst hielt.
»Was geht hier vor, Soldat?«, donnerte er mit einer Befehlsstimme, die der Quaestor sonst nur von den Momenten kannte, wo einer aus der Quadriga die Geduld des Custos überreizt hatte.
Der behelmte Mann, dessen Gesicht man unter dem verspiegelten Vollvisier nicht sehen konnte, salutierte instinktiv, was Grayson ein schmales Lächeln auf die Lippen zauberte.
»Wir haben Befehl, Ratsmitglied Morgan Worthington, Quaestor Grayson Steel und alle anderen Anwesenden in Sicherheit zu eskortieren, Sir, Captain, Sir«, sagte der Mann, dem man seine Jugend unter dem Helm anhören konnte. »Es wurde eine hochgradige Bedrohungslage festgestellt.«
»Verdammt«, erwiderte Richard, dessen Verhalten sich von einer Sekunde zur anderen änderte. »Raus hier!«, brüllte er. »Sofort alle raus hier!« Mit einem lateinischen Ausruf manifestierte Richard den geisterhaften Umriss seiner Ritterrüstung und seines Schildes und lief auf Grayson zu, während er mit gezogenem Schwert Richtung Besprechungsraum deutete. »Ich schütze den Quaestor, schnapp du dir Morgan!«, rief er Shaja zu. »Wirf ihn aus dem Fenster, wenn es dadurch schneller geht, aber schaff ihn in diesen Helikopter!«
Shaja nickte, goldene Symbole glommen unter der Haut ihrer Beine auf, als die Saggitaria so schnell an Grayson vorbeirannte, dass er ihren Bewegungen nur schwer folgen konnte. Dann war Richard bei ihm und zog ihn in eine halbe Umarmung, um ihn mit seinem Schild besser abschirmen zu können. Geistesgegenwärtig schnappte Grayson sich gerade noch seine gepanzerte Lederjacke von der naheliegenden Ankleide, um sich sowohl vor dem kalten Dezembertag als auch vor heransausenden Kugeln zu schützen.
»Was zum Teufel ist hier los?«, rief Grayson, die eisige Luft in seinen Lungen ignorierend, als Richard ihn in Richtung Ausgang zerrte, wo die Soldaten einen Kordon bildeten, um sie abzuschirmen und gleichzeitig mit erhobenen Waffen die Umgebung sicherten.
»Hochgradige Bedrohungslage bedeutet, dass ein verifizierter Angriff unmittelbar bevorsteht«, sagte Richard angestrengt. Er fluchte. »Warum wurden wir nicht im Vorfeld informiert?«, herrschte er einen der Soldaten an, während sie sich dem riesigen Hubschrauber näherten, der über einen Doppelrotor verfügte und kleine Tragflächen besaß, unter denen runde Zylinder angebracht waren, die Grayson als Raketenwerfer identifizieren konnte. Überall in das schwarze Metall des Helikopters waren Bannsiegel und Abwehrglyphen eingeätzt worden, und in der Seitentür zum Passagierraum wartete eine hochgewachsene weibliche Gestalt in militärisch-schwarzer Kluft und einem langen mit dunkelblauen Runen bestickten Mantel, die einen mannshohen Stab in der Hand hielt und Offiziersabzeichen an den Schulterklappen trug.
»Eine Abwehrmaga der Spezialkräfte«, murmelte Richard dem Quaestor zu, als er ihn an der Frau vorbei bugsierte, die die beiden vollkommen ignorierte. »Die findet man eigentlich nur in Krisengebieten.« Bisher war Grayson von dem Überfall der Soldaten eher überrumpelt und verwirrt gewesen, aber nun bekam er ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, als er die tiefe Beunruhigung in Richards Stimme heraushörte.
»Verdammt, Shaja, lass mich runter!«, ertönte die Stimme Morgans hinter ihm und Grayson drehte den Kopf, um an Richards Schild vorbeisehen zu können, mit dem der Custos ihn auch hier im Inneren des Kampfhubschraubers noch immer abschirmte. Shaja hatte Macks inaktive Drohne unter dem Arm und sich den protestierenden Magus quer über die Schultern geworfen. Die Saggitaria trug beide in Windeseile zum bereits abhebenden Helikopter, an dessen Seitentür die Soldaten einstiegen und Morgan ruppig von Shajas Rücken zogen. Sie sprang als letzte an Bord, als die Kufen sich schon einen Meter vom Boden gehoben hatten, und Graysons Magen schlug einen Purzelbaum, als der Pilot die Maschine nach rechts kippen ließ, kaum dass sie fünf Meter hoch aufgestiegen waren.
»Magische Stabilisatoren und Winddämpfer«, sagte Richard sehnsüchtig, der sich offensichtlich entspannte, kaum dass sie in der Luft waren. »Wie gerne würde ich dieses Schätzchen fliegen.« Der Ritter liebte alles, was man steuern konnte und ließ selten eine Gelegenheit aus, sich seinerseits als Fahrer, Kapitän oder Pilot zu versuchen. Grayson vermutete, dass der Custos Anne, die Walküre, auch deswegen so anziehend fand, weil sie die Kapitänin eines zehntausende Tonnen schweren Schiffes war – auch wenn er diesen Verdacht um seiner eigenen Gesundheit willen für sich behielt.
»Potenzielle Bedrohung am Boden auf drei, sechs, acht und zehn Uhr«, meldete die Frau mit dem Stab, die noch immer kerzengerade im Seiteneingang des Helikopters stand und dem bitterkalten Fahrtwind, der ihren Mantel hin und her peitschte, mit einer kaltblütigen Gelassenheit trotzte. »Entfernung fünfzig Meter und steigend.«
Richard starrte runter in den Wald, der Worthington Manor wie ein Schutzmantel umschloss und vor neugierigen Blicken verbarg. »Da unten wird gekämpft«, sagte der Ritter ernst, als vielfach Gewehrfeuer zu ihnen heraufhallte. »Und die Waldpirscher verlieren.«
Shaja stieß einen Fluch aus und Morgans Miene zeigte tiefes Bedauern. Grayson selbst durchfuhr ein Gefühl der Wut und der Schuld. Die Waldpirscher hatten sich bei seinem Dienstantritt im Wald niedergelassen, um ihn und die Quadriga vor Bedrohungen von außen zu schützen. Er hätte nie gedacht, dass sie mal einen großflächigen Angriff abwehren müssten.
»Können Sie die Opposition identifizieren, Colonel?«, fragte Richard die Abwehrmaga.
»Negativ, Sir«, kam die leidenschaftslose Antwort. »Opposition besteht aus über hundert schwer bewaffneten Hüllen, angeführt von mehr als zehn Simulakren.«
Morgan schnaubte. »Belebte Leichname, die Befehle von temporären Körpern entgegennehmen. Eine Armee aus nicht zurückverfolgbaren Schatten und Phantomen.«
»Du vergisst, dass die Erschaffer der Simulakren in Kauf nehmen, hier und heute Teile ihrer Seelen zu verlieren, wenn ihre Schöpfungen im Kampf fallen. Dies hier ist eine Verzweiflungstat«, warf Richard ein.
»Fühlt sich nicht so an«, sagte Grayson mit düsterer Stimme, während der Helikopter in Zickzackmanövern tief über den Bäumen weiterflog und sie zu einem unbekannten Ziel brachte, an dem hoffentlich ein paar anständige Antworten auf ihn warten würden.