Читать книгу Nebula Convicto. Grayson Steel und das Blutsiegel von Rom - Torsten Weitze - Страница 5

Оглавление

Phantasmagorie

England, irgendwo in den North Downs, Freitag, 12. Dezember, 16.22 Uhr

Grayson wünschte sich während ihrer schweigsamen Fahrt wirklich, die Seitentür des Helikopters wäre geschlossen worden, aber was immer die Abwehrmaga tat, bedurfte anscheinend einem direkten Zugang zum Freien. In regelmäßigen Abständen machte sie Meldung über potenzielle Bedrohungen, die sich jedoch nicht bewahrheiteten. Es schien, als hätten die Verschwörer voll und ganz auf den Bodenangriff gesetzt und die Unendliche Legion hätte Grayson und sein Team gerade noch rechtzeitig rausgeflogen.

Es war zu kalt und zu laut in der Kabine, um sich richtig zu unterhalten, und da keiner von ihnen vor den Soldaten über ihre Ermittlungen reden wollte, verging die Zeit sehr langsam und ohne dass sie sich austauschten. Grayson drückte sich verstohlen während des Fluges an Shaja und erkannte auf einmal die Vorzüge, wenn man im Winter mit einer Halbdämonin zusammen war, deren Körpertemperatur durch heftige Gefühle anstieg. Shaja zwinkerte ihm zwischendurch nur einmal zu, während der Quaestor sich an ihr wärmte, und beließ es gnädigerweise dabei. Sie waren beide nicht der kuschelige Typ, zumal Graysons Gabe manchmal für die eine oder andere Entladung sorgte, wenn er sie nicht unter Kontrolle hielt. Er wurde zwar unter der steten Anleitung Morgans langsam besser darin, sein Lacunusfeld zu steuern, aber ab und zu bekam Grayson noch einen unterbewussten »Schluckauf«, der durchaus unangenehm für magische Wesen werden konnte, die dann mit ihm in Körperkontakt standen. Nichtsdestotrotz war Morgan einigermaßen zufrieden mit Graysons Fortschritten, der es mittlerweile rudimentär verstand, seine Aura asymmetrisch auszudehnen, wenn auch nur unter kontrollierten Bedingungen. Dies war wohl der erste Schritt, um seine Antimagie vielseitig einsetzen zu können, zum Beispiel als Schild, als eine Art Panzerung einzelner Körperteile oder auch als ein in Graysons Körper ruhendes Feld, das präzise an seiner Haut endete und unbewusst die kleinste Bewegung Graysons mitmachte, ohne dass er darüber nachdenken musste. Gerade diese letzte Kunstform ergäbe viele neue Möglichkeiten, wie zum Beispiel dass Grayson magische Gegenstände bei sich tragen könnte, ohne sie zu entladen. Aber davon war er noch weit entfernt, und wie es schien, würden ihm die Verschwörer nicht genug Zeit lassen, um seine Gabe noch weiter zu meistern. Wenigstens hatte er im Tower bewiesen, dass er nun auf Wunsch eine antimagische Explosion erzeugen konnte, auch wenn ihn dieses Manöver für Stunden kraft- und schutzlos zurückließ.

»Ich denke, wir sind da«, sagte Morgan und deutete auf eine kleine Steilklippe, die aus der hügeligen, schneebedeckten Graslandschaft der still daliegenden North Downs hervorstach. Zwei Gestalten warteten am höchsten Punkt der Klippe auf die Ankunft des Helikopters, an ihrem Fuß befand sich ein schmaler, zugefrorener See.

»Das ist die Lady vom See neben einem Elf in Uniform«, sagte Shaja, deren Augen in einem Goldton glommen, als sie ihre Körpermagie darauf verwendete, besser sehen zu können.

»Dieser Mann ist General Malthusar«, sagte Richard. »Ihm unterstehen die Spezialteams der Unendlichen Legion.« Er sah Grayson bedeutungsvoll an. »Sie wissen schon, diejenigen, die Einsätze durchführen, die es offiziell nicht gibt.«

Grayson verzog angewidert das Gesicht. Er selbst war kein Freund von Regularien oder Bürokratie, und Vorgesetzte waren ihm schon immer ein Gräuel gewesen. Aber der Gedanke, dass es Soldaten gab, die praktisch keinerlei Rechenschaft über ihr Tun ablegen mussten, solange ihre Mission als Erfolg bewertet wurde, erschien ihm zu viel des Guten. Es musste Grenzen geben, die nicht überschritten werden durften, ohne dafür die Konsequenzen zu tragen. Er musterte die Gesichter von Richard und Shaja, die beide in der Unendlichen Legion gedient und sehr wenig darüber geredet hatten. Natürlich hatte es Andeutungen und allgemein gehaltene Hinweise gegeben, aber so wie die beiden auf die Spitze dieser Klippe starrten, war der Ermittler sich sicher, das sie in der Nähe dieses Generals und seiner schattenhaften Teams gedient hatten. Richards Miene war eine eiserne Maske der Verschlossenheit, aber in seinen Augen loderten Verachtung und ein kaltes Feuer, das Grayson immer dann sah, wenn der Ritter seinen Schwur in Gefahr sah, Unschuldige vor den Auswirkungen schädlicher Magie zu beschützen. Shaja hingegen rutschte unruhig auf ihren Sitz hin und her und wirkte eingeschüchtert, eine Regung, die Grayson nur äußerst selten an ihr sah.

»Ihr beiden seit jetzt Teil meiner Quadriga«, sagte er unvermittelt und brach damit das Schweigen im landenden Helikopter. »Dieser Mann dort hat keinerlei Befugnisse mehr über euch, vergesst das nicht.«

Richard und Shaja sahen ihn überrascht und ein wenig unangenehm berührt an, aber er fuhr trotzdem fort.

»Wenn er an euch heranwill, muss er erst an mir vorbei.«

Die Kufen des Helikopters berührten noch nicht ganz den Boden, als die Soldaten bereits hinaussprangen, dicht gefolgt von Richard und Shaja. Beide wirkten nach Graysons Worten weniger angespannt, und Morgen nickte ihm dankbar zu.

»Aus dir wird ja doch noch ein guter Vorgesetzter«, murmelte der Magus im Vorbeigehen, und Grayson musste unwillkürlich lachen.

»Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn«, erwiderte er, während er sich Macks Drohne schnappte, ebenfalls ausstieg und schnell unter den Rotoren des Helikopters hervortrat. Dann aktivierte er das hochtechnische Gerät und stellte es auf den grasigen Boden.

»Endlich«, ertönte Macks Stimme keine Sekunde später über den Lärm des allmählich leiser werdenden Hubschraubers hinweg und ließ seine Drohne neben Grayson aufsteigen. »Wo sind wir und was soll ich tun?«

Der Quaestor trottete los, als die Soldaten die Quadriga erneut umschlossen und sie den Hügel hinaufführten. »Ich will alles, was du über General Malthusar herausfinden kannst«, sagte er kaum hörbar, in dem Wissen, dass die Sensoren der Drohne seine Worte aufschnappen würden. Dabei fischte er einen Knopfhörer aus seiner Jackentasche und steckte ihn in sein linkes Ohr. »Überprüfe vor allem, ob er irgendwelche Berührungspunkte zu den Verschwörern aufweist und gib mir über Funk Bescheid.«

»Du rechnest mit Ärger?«, hakte Mack nach, der das Display seiner Drohne abgeschaltet hatte, um diskreter arbeiten zu können.

»Dieser General ist anscheinend ein hochgefährlicher Mann«, antwortete Grayson leise. »Ich will nur sichergehen, dass er auf unserer Seite steht.«

Die Spitze der Klippe war bereits nah, und Grayson richtete seine Augen zuerst auf die Lady vom See, um abschätzen zu können, was die Vorsitzende des Verhangenen Rates hier draußen mit einem General für Geheimoperationen tat. Wenn sie sich bedroht fühlte oder ungestört reden wollte, traf sie Gäste normalerweise in ihrem Teich, den Besucher nur über eine magische Falte in ihren Privaträumen erreichen konnten. Grayson sah sich um. Weit und breit nur Schnee auf grasigen Hügeln und einige Schafherden, die in weiter Entfernung dicht zusammengedrängt dastanden und das einzige Lebenszeichen weit und breit darstellten. Der Quaestor musste zugeben, dass sich hier zumindest niemand anschleichen und mithören konnte.

»Sie ist nervös«, sagte Morgan leise und deutete unauffällig mit seinem Stab auf die Lady vom See. »Sie ist so gut wie nie nervös.«

Grayson schluckte. Es gab wenige Menschen außerhalb dieser Quadriga, die seinen Respekt genossen. Anne Evadóttir, die Walküre, der Richards Herz gehörte, war eine davon und auch die Hexe Makavia Drusnik, die ihnen mit ihrem Team in Paris den Rücken freigehalten hatte. Selbst der Cupido Mankus rang Grayson einen widerwilligen Respekt ab. Aber keine Person, die er in seiner Zeit als Quaestor kennengelernt hatte, ließ sich mit der Lady vom See vergleichen. Die Magierin, die damals an der Vereinigung Englands – und viel wichtiger, der Strukturierung der magischen Welt – beteiligt gewesen war, erschien ihm wie eine personifizierte Naturgewalt. Er hatte sie nur einmal außer Fassung gesehen, und zwar als ihre Tochter Sofia entführt worden war. Doch nun wirkte die Frau mit dem leicht bläulichen Teint und den perlmuttfarben schimmernden, braunen Augen zutiefst beunruhigt. Sie war in einen schwarzen Wintermantel mit hohem Kragen gehüllt und blickte hoffnungsvoll in Graysons Richtung. Der Mann neben ihr wirkte auf den ersten Blick menschlich, aber Grayson bemerkte die spitzen Ohren, die unter dem dunkelblauen Barret des kleingewachsenen Mannes hervortraten. Er musterte Grayson aus grünen Augen mit ruhiger Gelassenheit.

»Nicht das, was Sie erwartet haben, Quaestor?«, sagte der General zur Begrüßung, der in einer dunkelblauen Uniform steckte und Grayson eine zierliche Hand entgegenhielt.

Grayson erwiderte den Gruß gelassen und musterte dabei die scharfen, geradlinigen Züge des Elfen. »Ich habe mir in der Nebula Convicto schnell abgewöhnt, ein Buch nach dem Einband zu beurteilen. Wenn man einmal von einer wütenden Fee durch den Raum geschleudert wurde, lernt man schnell, Äußerlichkeiten weniger Beachtung zu schenken.«

»Ah ja, ich erinnere mich«, sagte der General. »Der Bericht über jene Drogenrazzia war äußerst … erbaulich.«

Nachricht angekommen, dachte sich Grayson. Der Typ hat sich über mich schlau gemacht.

»Hallo, Mr. Steel«, sagte die Lady vom See und trat zwischen die sich anstarrenden Männer. »Bitte entschuldigen Sie die Art dieses Treffens. London ist zur Zeit nicht sicher, wie Sie gleich erfahren werden, und es scheint, dass die Verschwörer alles auf eine Karte setzen, um Sie und ihr Team aufzuhalten, damit die Information, die Sie de Poulier entlockt haben, mit Ihnen begraben wird.«

»Eine Information, deren Signifikanz Sie noch nicht erkannt haben, wie ich an Ihrem Gesichtsausdruck erkenne«, warf General Malthusar ein. Die Lady warf ihm einen warnenden Blick zu, und der Elf räusperte sich. »Entschuldigung. Der Drang, in einem Gespräch die Oberhand zu behalten, ist so etwas wie eine Berufskrankheit«, fügte er hinzu.

»Kann ich durchaus nachvollziehen«, sagte Grayson kurz angebunden. Er warf einen Seitenblick auf sein Team, aber Richard und Shaja schienen vollauf glücklich damit zu sein, dass er die Gesprächsführung übernahm, und der General hatte mit keiner Geste zu erkennen geben lassen, dass er die beiden kannte.

Typischer Geheimdienstbullshit.

Morgan hingegen wirkte abwesend und starrte immer wieder zum Himmel empor, wo sein Familiar Numquam seine Kreise zog, um nach Ärger Ausschau zu halten.

»Wie wäre es, wenn Sie uns darüber ins Bild setzen, warum die Verschwörer auf einmal die schweren Geschütze auffahren?«, schlug Grayson gereizt vor. »Diese Armee aus nicht zurückverfolgbaren Hüllen und Söldnern, die vorhin gegen uns vorrückte, muss die Hintermänner einen Großteil ihrer restlichen Ressourcen gekostet haben.« Er rieb ungeduldig seine Hände aneinander, die in dem eisigen Wind, der die Klippe umspielte, langsam taub wurden. Er fror ganz erbärmlich, konnte sich vor diesem General aber wohl kaum an Shaja drängen, um sich aufzuwärmen.

Die Lady vom See wandte sich an Morgan. »Dürfte ich Sie um eine magische Abschirmung bitten?«, fragte sie höflich, und der Magus erschuf umgehend eine schimmernde Halbkugel um sie herum, welche die Umgebungsgeräusche schlagartig abschnitt und die Quadriga mit dem General und der Ratsherrin einschloss.

»Wir wissen, welches Blutsiegel de Poulier meinte, als er versuchte, Sie unter dem Tower mit in den Tod zu reißen«, sagte Malthusar, kaum dass der Zauber gesprochen worden war. »Aber um das zu erklären müssen wir Sie und Ihr Team in einige Informationen einweihen, von deren Details genau zwei Personen in der Nebula Convicto umfassende Kenntnis haben.« Dabei deutete er auf die Lady vom See und sich selbst.

Grayson tauschte Blicke mit den anderen aus, die in der Stille des Abschirmungszaubers dastanden und ebenso beunruhigt wirkten, wie er selbst es zunehmend wurde. Er verabscheute Geheimniskrämerei. Seiner Meinung nach waren Geheimnisse meist der Katalysator, aus dem zukünftige Verbrechen entstanden.

»Was wissen Sie über Leonardo da Vinci?«, fragte die Lady vom See.

»Den Erfinder?«, fragte Grayson.

»Den Magier«, korrigierte ihn Morgan. »Da Vinci war ein leidenschaftlicher Anhänger der Freien und ein unglaubliches Genie.« Die Augen des Magus’ glänzten, während er redete. »Der mundanen Welt ist nur ein Bruchteil seines Wirkens bekannt. Er hat zum Beispiel im Alleingang die Grundlagen der Kraftlinientheorie geschaffen, und dadurch tausende abergläubische Rituale mit Hasenpfoten oder ähnlichen Nonsens ad absurdum geführt.«

»Lass das keinen Anhänger emotionaler Magie hören«, sagte Richard schmunzelnd. »Für die war er der große Ketzer, der aus der Magie eine Wissenschaft gemacht hat.«

»Wie dem auch sei«, warf General Malthusar ein. »Da Vinci war außerdem derjenige, an den die Nebula sich damals wandte, wann immer sie ein unlösbares Problem hatte. Er hat mehrfach der Unendlichen Legion beratend zur Verfügung gestanden, wenn normale Konfliktlösungsstrategien nicht ausreichten.«

Du meinst, wenn Waffen und Soldaten allein ein Problem nicht lösen konnten, dachte Grayson grimmig.

»Alles schön und gut, aber was hat da Vinci mit den Verschwörern zu tun?«, fragte der Quaestor ungeduldig, nur um dann erschrocken zusammenzuzucken. »Sie sagen mir jetzt aber nicht, dass er noch lebt, oder? Und dass er der Kopf hinter dieser Verschwörung ist?«

»Wo denken Sie hin«, sagte die Lady vom See. »Leonardo lebte ein für Magier kurzes Leben. Viele glauben, sein Verstand brannte so hell, dass er ihn lange vor seiner Zeit aufzehrte.« Ein schwermütiger Ausdruck lag für einen Moment auf ihrem Gesicht, und Malthusar ergriff daraufhin wieder das Wort.

»Jedenfalls gab es im Jahr 1502 einen plötzlichen Anstieg an Todes- und Vermisstenfällen in Süditalien, die die Aufmerksamkeit des Rates weckte. Drei Quaestoren wurden nacheinander entsandt, ohne je zurückzukehren, und als ganze Dörfer entvölkert wurden, bekam die Unendliche Legion den Auftrag, der Sache auf den Grund zu gehen, denn die Opfer waren allesamt blutleer und meist auch ohne innere Organe zurückgelassen worden.«

»Blutleer klingt nach Vampiren, aber das mit den Eingeweiden eher nach einem Worg«, sagte Grayson, der nicht widerstehen konnte, ein bisschen mit den Grundkenntnissen über magische Wesen anzugeben, die er sich endlich angeeignet hatte.

Malthusar nickte anerkennend. »Es stellte sich heraus, dass ein durch einen Worgangriff verwundetes Opfer von einem halbverhungerten und verzweifelten Vampir gebissen worden war. Der Vampir starb auf der Stelle, aber die Wechselwirkung zwischen dem tödlichen Gift des Urwolfs und dem Transformationsprozess eines Vampirbisses verwandelte das unglückliche Opfer in etwas noch nie Dagewesenes. Und dieses Etwas begann seinen Beutezug durch die von Kriegen gebeutelten Landstriche Italiens. Diejenigen, die seine Angriffe wie durch ein Wunder überlebten, verwandelten sich ebenfalls und schlossen sich dem Wesen an. Als die ersten Soldaten der Unendlichen Legion auf diesen Schwarm aus veränderten Blutsaugern trafen, hatten sie nicht den Hauch einer Chance. Diese Vampire waren allesamt flugfähig und äußerst widerstandfähig, extrem schnell und durch Telepathie miteinander verbunden. Und mit jedem Tag und jeder von ihnen gewonnenen Schlacht wurden es mehr von ihnen.« Malthusar hatte sich während seiner Erzählung herumgedreht und blickte auf den gefrorenen See, der still und starr unter ihnen lag. »Wir wandten uns an Magier, in der Hoffnung, diese könnten den Schwarm mit einem Zauber oder Fluch töten, aber jede Magie glitt an den veränderten Vampiren ab. Wir standen davor, einen ausgewachsenen Krieg gegen diese Wesen führen zu müssen – einen Krieg, den wir zu verlieren drohten. Also wandten wir uns an da Vinci, in der Hoffnung, dass er eine Lösung finden würde. Als er uns schließlich einen Vorschlag unterbreitete, haben ihn die meisten für verrückt erklärt und wollten ihn rauswerfen.« Er hob einen Finger seiner rechten Hand. »Alle, bis auf einen kleinen Unteroffizier, der genau zuhörte und einen winzigen Kampftrupp zusammenstellte, der da Vinci zu den Vampiren eskortieren sollte.«

Grayson konnte sich schon denken, wer dieser Unteroffizier gewesen war, und unterdrückte ein Augenrollen.

»Da Vinci postulierte, dass nur schädliche Magie an den Vampiren abglitt, da sie selbst über magische Kräfte verfügten, mit denen sie sich stärken konnten. Sie heilten zum Beispiel atemberaubend schnell, und ihre Körperkräfte mussten ebenfalls magischen Ursprungs sein. Also ersann er einen, wenn auch nicht freundlichen, so doch neutralen Zauber, mit dem der den Schwarm tatsächlich einfing. Er band die Vampire mit einem hochkomplexen Blutsiegel an eine Aufgabe, die ihrer Existenz einen Sinn verlieh – aber nicht, indem er sie dazu zwang.« Malthusars Stimme verriet seinen Unglauben über seine eigenen Worte. »Nein, er bat sie darum, diesen Bann und damit einen Platz in dieser Welt anzunehmen, in der sie eigentlich nicht existieren dürften. Er erklärte ihnen, dass sie sonst ihr Leben lang kämpfen müssten und die ganze Welt töten würden, immer getrieben von ihrem Verlangen nach mehr und mehr Blut.« Malthusar drehte sich wieder zu ihnen um. »Und sie stimmten zu.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Sie sehnten sich nach einem Ende der Kämpfe und einem Ort, an den sie gehörten, und da Vinci bot ihnen beides und noch mehr: Frieden von dem Hunger, der sie trieb und quälte. Er band sie an den Schutz einer Institution, die Sie alle nur zu gut kennen. Sie wurden die schlafenden Wächter über den Verhangenen Rat.«

»Moment …«, begann Grayson verwirrt und erinnerte sich an ein Meer fahler Flügel, die bedrohlich ruhende Gestalten bedeckten.

»Sie haben es erraten, Quaestor«, sagte die Lady vom See. »Wir reden von der Bleichen Garde. Die Verschwörer suchen in diesem Moment nach dem Blutsiegel, welches da Vinci damals versteckte, da er dem Rat nicht traute.«

Malthusar fixierte Graysons Blick mit seinen Augen. »Niemand außer da Vinci hat dieses Siegel je zu Gesicht bekommen. Wenn die Verschwörer es vernichten, können wir es nicht rekonstruieren. Die Bleiche Garde wird hungrig und ungezügelt unter London erwachen, und wir haben keine Ahnung, wie wir sie dann noch aufhalten sollen.«

Die Stille innerhalb der magischen Schutzkuppel war für einen Moment absolut.

»Verdammte Scheiße«, fasste Mack als erster die Situation zusammen und schaltete das Display seiner Drohne wieder ein, sodass man seinen hochroten Kopf sehen konnte, den er dicht vor die Kamera in seiner Höhle hielt. »Ist denn in den letzten Jahrhunderten niemand auf die Idee gekommen, einen Notfallplan auszuarbeiten?«

»Guter Einwand«, sagte Shaja, die ihre Passivität gegenüber Malthusar angesichts dieser düsteren Neuigkeiten verlor. »Eine derart große Bedrohung und die Legion hat sich nicht abgesichert?«

Malthusar zuckte hilflos mit den Achseln. »Der Schlaf der Garde ist leicht. Sie reagieren auf jede direkte und indirekte Bedrohung, die sich dem Rat oder ihnen nähert. Wir konnten sie nur sehr eingeschränkt studieren.«

»Das hier ist bestimmt der letzte Plan der Verschwörer«, sagte Shaja. »Deswegen fahren sie auch alles gegen uns auf, was sie noch besitzen. Entweder die oder wir.«

»Der Hass gegen die Nebula muss ebenso tief in ihnen verwurzelt sein wie ihre Überzeugungen«, sagte Grayson. »Ihre Pläne haben immer damit zu tun, dass die magische Welt sich selbst enttarnt. Die Entführung von Sophia sollte damals den Rat destabilisieren und Klesk, die Marionette der Verschwörer, an seine Spitze hieven, während sich die Blutaale in den Weltmeeren ausbreiten. Der Rat hätte die Nationen dieser Welt um Hilfe ersuchen müssen, um der Gefahr Herr zu werden.« Er zählte an den Fingern seiner rechten Hand die einzelnen Bedrohungen ab. »Dann der Versuch, T’chan zu wecken, damit ein Erzdrache sich zeigt und der Welt die Magie offenbart, damals gepaart mit der Zerstörung Norddeutschlands und der magischen Hanse. Wieder ein Angriff auf die kritische Infrastruktur der Nebula kombiniert mit ihrer Bloßstellung gegenüber der mundanen Welt.« Er hatte das Gefühl, dass er dabei war, etwas Wichtiges zu ergründen und grübelte weiter, während die anderen ihn stumm ansahen, und selbst Malthusar interessiert dem Monolog des Quaestors lauschte. »In Paris hätte der Sonnenfluch früher oder später durch die emotional instabilen Wesenheiten zu unwiderlegbaren Beweisen der Nebula geführt und gleichzeitig die Stadt als Zentrum der magischen Diplomatie ausgelöscht.« Er blickte hinaus in die still daliegende Winterlandschaft und strich sich mit der Hand über den Kopf, während er einen vierten Finger emporreckte. »Und nun wollen sie die Nebula entblößen, indem sie die Bleiche Garde wecken, die sich einem Heuschreckenschwarm gleich ausbreitet und einen globalen Krieg auslösen wird.«

»Immer sind bei den Anschlägen Automatismen der Nebula betroffen«, sagte Morgan nachdenklich.

Grayson nickte. »Sie wollen die magische Gemeinschaft nicht nur offenbaren. Dafür hätten die Verschwörer einfach ein Wesen fangen und vor die Kameras dieser Welt zerren müssen. Nein, die Nebula soll sich selbst verraten und zwar im Zusammenhang mit möglichst hohen Opferzahlen.« Grayson blickte in die Runde. »Die mundane Welt soll die magische nicht nur erkennen, sie soll sie vom ersten Augenblick an fürchten und hassen«, sagte er schließlich müde.

Richard nickte. »Er hat Recht. Ich war in genug Kreuzzügen. Dies hier ist auch einer.«

»Auch wenn ich eure Rückschlüsse teile«, ertönte Macks Stimme gereizt aus den Lautsprechern seiner Drohne, »bringt uns das gerade irgendwie weiter?«

»Die Motivation seines Angreifers zu verstehen ist der halbe Sieg«, sagte Malthusar mit zufriedener Stimme. »Wenn wir einen Weg finden, die Nebula nicht als Bedrohung darzustellen, können die Verschwörer so viele Leute umbringen, wie sie wollen. Es wird sie nur als das entlarven, was sie sind, nämlich ein Haufen Fanantiker, der das Leid der Menschheit in Kauf nimmt, jedoch ohne uns nennenswert zu schaden.«

Das erste Mal blitzte in den Augen Malthusars die Kaltblütigkeit auf, die Grayson von einem Kommandeur der Unendlichen Legion erwartete, und er unterdrückte ein Schauern. Schon jetzt konnte er regelrecht sehen, wie es hinter der Stirn des Generals arbeitete, um die Reputation der Nebula zu retten – egal, wie viele Menschen dabei sterben würden. Der Quaestor tauschte einen besorgten Blick mit Shaja und Richard aus und erkannte an ihren verbissenen Minen, dass sie ähnlich über Malthusar dachten. Er beschloss, jede weitere Diskussion über den Fall zu verschieben, da er dem Elfen sicher nicht dabei helfen wollte, statt einer Rettung von Menschenleben nur eine Vertuschung der Nebula Convicto einzuleiten. »Mylady,«, sagte er zur Lady vom See, »mit Eurer Erlaubnis würden wir uns nun gerne zurückziehen, um dieses Blutsiegel vor den Verschwörern zu finden.«

Die Ratsherrin nickte, ihr trauriger Blick fest mit dem seinem verschränkt. »Halten Sie diese Leute ein für allemal auf, Quaestor. Wenn die Bleiche Garde freikommt, wird alles enden, was ich in den vergangenen Jahrhunderten aufgebaut habe, und die Nebula wird in Trümmern liegen.«

»Nur kein Druck«, murmelte Mack, und Shaja stieß ihren Ellenbogen gegen das Chassis der Drohne, sodass sie kurz durch die Luft torkelte.

»Wir brechen auf«, sagte Grayson bestimmt und wandte sich von der Lady vom See und dem General ab. »Sobald wir im Helikopter sind …«

Über ihm zerriss der unnatürlich donnernde Schrei eines Raben die Stille, die Morgans Abschirmzauber über den Rest der Welt gelegt hatte. »Gefahr!«, stieß der Magus hervor. »Numquam hat etwas Großes erspäht, und es kommt schnell näher.«

Richard fluchte. »Die Bodentruppen waren nur dazu da, um uns aufzuscheuchen.« Er deutete auf Malthusar und die Lady vom See. »Damit sich alle versammeln, die von da Vincis Siegel wissen. Wenn sie uns ausschalten, haben sie freie Bahn.«

Grayson blickte sich suchend am Himmel um, konnte aber nichts erkennen. Was immer sich näherte, war entweder unsichtbar oder noch zu weit entfernt. »Morgan? Was erwartet uns?«, fragte er drängend.

Die Augen des Magus’ waren schreckgeweitet, als er Numquams Entdeckung nachlauschte. »Eine Phantasmagorie«, hauchte er.

»Klingt doch eigentlich gar nicht so schlimm«, sagte Mack. »Eher nach einer Illusion.«

»Phantasmagorien sind Erscheinungen, deren Gestalt und Fähigkeiten von den Magiern abhängen, die sie beschwören«, erklärte die Lady vom See und sah sich ebenfalls suchend um. »Sie sind deswegen so gefährlich, weil man nie weiß, welche Stärken oder Schwächen sie aufweisen, und wie viele Magier an ihrer Entstehung beteiligt sind und ihr ihre Kräfte leihen. Bis man erkennt, welche Zauber gegen eine individuelle Phantasmagorie helfen, ist es meist zu spät.«

Grayson knirschte mit den Zähnen. »Lassen Sie mich raten. Das ist verbotene Magie?«

Morgan nickte an ihrer statt. »Verdammt richtig. Ähnlich eines Simulakrums gibt jeder beteiligte Magier einen Teil seiner Seele in die Phantasmagorie. Dort vermischen sich die Splitter allerdings und sind auf ewig verloren, um etwas Neues zu erschaffen, das diese Welt noch niemals sah.«

Grayson ertappte sich dabei, wie er wieder einmal darüber nachdachte, ob die Welt ohne Magie nicht besser dran wäre. Aber dann würde es weder Shaja noch Mack je gegeben haben, und Morgan und Richard wären schon lange tot. Er straffte seine Schultern. »Wie töten wir das Ding?«, fragte er knapp.

»Das wissen wir frühestens, wenn wir es sehen«, sagte Shaja. »Wie die Lady sagte, jedes ist anders.«

Die Ratsherrin deutete auf Malthusar und den noch immer wartenden Hubschrauber mit den zunehmend nervöser werdenden Soldaten, die durch den Abschirmungszauber Morgans nur die Nervosität der hohen Tiere wahrnehmen konnten, die sie bewachen sollten. »General, verschwinden sie mit ihren Leuten und der Quadriga von hier. Ich werde mich alleine um die Phantasmagorie kümmern.«

»Ganz sicher nicht«, protestierte Grayson, aber die Lady vom See schnitt seine Widerrede mit einer herrischen Geste ab.

»Ich werde nicht riskieren, dass die Verschwörer uns alle bekommen.« Sie deutete auf Grayson und sein Team. »Sie müssen die Hintermänner finden und sie endlich zur Strecke bringen.« Ihre schlanke Hand deutete auf sich selbst. »Ich kann in dieser Krise am besten dienen, indem ich die Phantasmagorie bekämpfe.« Grayson wand sich unter der kalten Logik der Ratsherrin und wollte weiter stur bleiben, aber sie sah ihn an und deutete auf den wartenden Helikopter, dessen Pilot aufgrund der Handzeichen Malthusars bereits die Rotoren anwarf. »Jeder von uns hat seinen Platz und seine Aufgabe, Grayson«, sagte sie sanft. »Ich kämpfe nicht zum ersten Mal um die Nebula Convicto, wie Sie sehr wohl wissen. Und jetzt verschwinden Sie. Das ist ein direkter Befehl ihrer Ratsherrin, Quaestor.«

Richard packte den noch immer zögernden Grayson am Arm. »Komm schon«, raunte er. »Sie sollte sich auf den bevorstehenden Kampf vorbereiten können. Du raubst ihr wertvolle Zeit.«

Der Ritter traf mit seiner soldatischen Art mitten ins Schwarze, und Grayson wandte sich bedauernd ab. Er hasste es, wenn andere seine Kriege ausfochten und das Gefühl der Hilflosigkeit, das in ihm aufstieg, brachte sein Blut zum Kochen. Als er mit Malthusar und den anderen zum Helikopter zurücklief, konnte er die Luft um Shaja flimmern sehen und durch die sie umgebende Hitze spüren, wie aufgebracht die Halbdämonin darüber war, dass sie wie feige Hunde mit eingekniffenem Schwanz flohen. Malthusar schien keinerlei Skrupel mit der Situation zu haben, und Morgan blickte immer wieder zu dem über ihnen schwebenden Numquam, dessen warnende Rufe drängender und drängender in der Stille der Zauberkuppel wurden.

»Willst du den Zauber nicht auflösen?«, fragte Richard auf den Weg zum Helikopter.

Morgan schüttelte den Kopf. »In ihm sind auch Tarnelemente enthalten«, sagte er nervös. »Wir wollen doch bestimmt nicht, dass die Phantasmagorie uns in dieser Blechbüchse aus der Luft fischt, weil sie sich auf uns statt auf die Lady konzentriert.« Er machte der Abwehrmaga gegenüber einige verschnörkelte Gesten, und diese riss die Augen auf und schien nach Morgans Stillezauber zu greifen und ihn um den gesamten Helikopter herum zu ziehen. Morgan stöhnte und taumelte einen Moment. »Wie grob«, sagte er leise. »Ich hatte ganz vergessen, wie unangenehm es sein kann, mit Soldaten zu arbeiten.«

»Gut zu wissen«, brummte Richard, und auch Shaja warf dem Magus einen brennenden Blick zu. Die Nähe der Unendlichen Legion schien die beiden an ihre militärische Ader zu erinnern.

Grayson kletterte mit den anderen an Bord und drehte sich sofort zu der Lady vom See um, die einsam und allein auf der Spitze der Steilklippe stand und noch immer nach dem unwirklichen Angreifer Ausschau hielt. »Das fühlt sich falsch an«, grollte er und griff nach seinem Revolver, während er aus dem startenden Helikopter springen wollte, aber dann spürte er eine Hand am Nackenkragen und wurde unsanft zurückgezogen. Zu seiner Überraschung war es Morgan, der ihn aufgehalten hatte.

»Vertrauen Sie ihr, Quaestor«, sagte er, vor lauter Aufregung wieder in den förmlichen Ton wechselnd. »Sie ist eine ausgezeichnete Magierin. Ihre Antimagie könnte sie mehr behindern als nützen.«

Grayson zögerte eine Sekunde, und schon war der Helikopter in der Luft, eingehüllt in eine seifenhaft schillernde Blase aus Bannmagie, die keinerlei Luft oder Lärm zu ihnen durchdringen ließ. Es fühlte sich unwirklich an, ohne das Dröhnen der Rotoren durch den Himmel zu fliegen und trotz der offenen Seitentür, in der noch immer die Abwehrmaga stand, keinen eisigen Fahrwind zu spüren, der an seiner Haut und seiner Kleidung zerrte.

»Da ist es!«, rief Shaja und deutete auf eine Wesenheit, die sich wie aus dem Nichts über der Lady vom See zu manifestieren schien, während Morgan mit einem angsterfüllten Aufschrei Numquam vom Himmel verschwinden ließ, bevor sein kostbarer Familiar ins Kreuzfeuer geraten konnte.

Grayson sah eine gut drei Meter hohe Frauengestalt in einer wallenden weißen Toga, aus deren Rücken vier taubenhafte Schwingen ragten. Die Züge der Phantasmagorie waren unter einer weiten Kapuze verborgen, nur Andeutungen von langem, weißblondem Haar waren links und rechts des schlanken Halses zu erkennen. In ihren Händen trug die Manifestation arkaner Macht einen in weißem Feuer brennenden Zweihänder, und ein sie umgebender strahlender Lichtkranz rundete das unwirkliche Bild ab. »Ist das … ein Engel?«, fragte Grayson ungläubig.

»Eyn Erzengel«, sagte Richard, der nach den Ereignissen in Paris noch immer in einen altmodischen Dialekt verfiel, sobald er sich aufregte. »Doch eher die ruchlos’ Kopie eynes solchen.«

»Du machst es schon wieder«, wies Mack den Ritter auf dessen sprachliches Abgleiten hin, während die Lady vom See der Phantasmagorie etwas zurief, worauf diese die Ratsherrin zu mustern schien.

»Vergessen Sie nicht, die Form wird von den erschaffenden Magiern gewählt«, sagte Morgan. »Sie wünschten sich wohl, einen Racheengel zu kontrollieren.«

»Zumindest passt es zu ihrer widerlich selbstgerechten Art, mit er sie ihren Kreuzzug führen«, fauchte Shaja. Die Halbdämonin schien in der himmlischen Erscheinung eine regelrechte Herausforderung zu sehen.

Grayson hielt den Atem an, als der »Engel«, seine Waffe gen Lady vom See ausstreckte und einige Worte sprach. Ein weißglühender Strahl sprang tanzend von der Schwertspitze auf die Ratsherrin über, die sich schmerzerfüllt unter dem Licht krümmte. Grayson ballte hilflos die Fäuste. Selbst der stoisch dasitzende Malthusar sog zischend die Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen ein, auch wenn er das Geschehen nicht weiter kommentierte.

»Hätte ich doch nur meinen Bannbrecher hier«, stöhnte Shaja gequält. »Dann würde ich dem Ding eine Kugel unter die Kapuze pflanzen.«

»Kommt schon, Mylady«, feuerte Morgan die Ratsherrin an, die sich noch immer unter dem Angriff der Phantasmagorie wand. »Nicht aufgeben.«

Als hätte sie den Magus gehört, streckte die Lady vom See ihre Arme aus, so als würde sie ein großes Gewicht von sich schleudern und die weiße Korona, die sie umhüllt hatte, zerbarst wie ein gläserner Kokon. Grayson atmete auf und hoffte nun auf einen Gegenangriff der Magierin. Die beiden miteinander kämpfenden Gestalten wurden zunehmend kleiner, je mehr der Helikopter sich von ihnen entfernte und dabei in eine Kurve legte, die sie in Richtung London bringen würde. Der erwartete Angriff der Lady vom See blieb jedoch aus, stattdessen verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust.

»Was tut sie denn?«, fragte Grayson wütend.

»Sie schindet Zeit«, sagte Malthusar. »Anscheinend glaubt sie nicht, die Phantasmagorie besiegen zu können.«

Grayson wurde flau im Magen, ein Gefühl, das sich zunehmend in einen Ball aus Feuer verwandelte. »Wir fliegen zurück und helfen ihr«, sagte er und zog wieder seine Waffe.

»Dies ist keine Situation, die Sie mit Sturheit und einer Kugel beenden können«, sagte Malthusar entschieden. »Was wollen Sie tun? Mich bedrohen? Den Piloten bedrohen, damit er umkehrt? Der Befehl der Lady war eindeutig. Wir überleben, um die Verschwörer aufzuhalten und vertrauen auf die Stärke der Ratsherrin.«

Grayson hätte dem Elfen am liebsten den Knauf des Revolvers ins Gesicht geschlagen, aber die mahnende Hand Richards auf seinem Arm hielt ihn im Zaum.

»Oh je,« sagte Mack, und der Quaestor richtete seine Augen wieder auf das Drama, welches sie nun in einer weiten Kurve umflogen.

Der falsche Engel hieb mit seinem gleißenden Zweihänder in fließenden Bewegungen auf die Lady vom See ein, die jeden Angriff mit ihren gekreuzten Armen parierte, ohne sichtbaren Schaden zu nehmen. Die Luft flackerte wie unter großer Hitze auf, wann immer der Stahl der Waffe die Arme der Zauberin traf, die von der Wucht der Schläge die Klippe weiter und weiter gen Abgrund gedrängt wurde. Schließlich traf sie ein mächtiger Seitwärtshieb und schleuderte sie über die Kante der Klippe, so dass sie in hohem Bogen hinabfiel und auf das gut fünfzig Meter unter ihr ruhende Eis prallte.

»Nein«, stieß Grayson zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und fixierte die reglose Gestalt der Lady vom See, als könne er ihr allein mittels seiner Gedanken auf die Beine helfen. Die Phantasmagorie drehte sich indes in Richtung des Helikop­ters und zeigte mit dem Zweihänder in ihre Richtung. Ungläubig sah Grayson, wie der Lichtbogen ihres Angriffs mühelos die große Distanz zu ihnen überwand und auf den flackernden Schutzzauber traf, der das Gefährt einhüllte.

Die Abwehrmaga bog den Rücken durch, als würde sie plötzlich unter Starkstrom stehen und mit einem kurzen Schrei löste sie sich in einen Haufen Funken auf, der zusammen mit ihrer Bannmagie zerstob. Der plötzlich einsetzende Lärm der Rotoren und die eisige Luft, die in die Kabine strömte und die Überreste der Maga fortwirbelte, verstärkten den Schock, der Grayson tief in den Knochen saß. Das war nur ein Angriff gewesen, und der hatte eine auf Abwehr spezialisierte Maga pulverisiert, wo sie stand!

»Denecker!«, schrie Malthusar den Piloten wutentbrannt an. »Die Raketen. Jetzt! Und zwar alle!« Offensichtlich war der General nicht immun gegen die Gefühle, die der Verlust seiner Soldatin in ihm hervorrief, und das erfüllte Grayson mit einer düsteren Genugtuung.

Der Helikopter flog in waghalsigen Ausweichmanövern weiter, bis er sich für eine Sekunde auf die engelhafte Gestalt ausrichtete. Mit einem ohrenbetäubenden Fauchen zischten ein Dutzend Raketen auf die Phantasmagorie zu. Gleichzeitig schoss ihr Angreifer erneut mit seiner Magie auf sie, sodass Lichtblitze knapp an dem ausweichenden Hubschrauber vorbeiglitten. Grayson meinte, in den Entladungen ätherisches Harfenspiel zu hören.

»Morgan, kannst du uns mit einem Schutzzauber versehen?«, fragte Richard.

»Vor dem Ding da?«, erwiderte der Magus ungläubig. »Bei dem, was ich bisher gesehen habe, stecken dort die Seelen von mindestens zehn Magiern drin! Soll ich etwa so enden wie die arme Frau gerade eben?« Er blickte Grayson an. »Das wäre eher etwas für unseren Lacunus. Versuchen Sie sich an dem Schild, den wir besprochen haben, sobald der nächste Angriff erfolgt. Sonst rösten Sie die Zauber, die diesem Helikopter seine Wendigkeit verleihen, und wir werden von dem nachfolgenden Angriff aus dem Himmel geholt.«

Die Raketen hatten inzwischen ihr Ziel erreicht und detonierten rund um den Engel, der sich um die eigene Achse drehte und die Druckwelle der Explosionen mit seinen Flügeln abzuschwächen schien.

Grayson lag ein Fluch auf der Zunge, als er eine winzige Bewegung sah, die ihm Mut machte. »Die Lady!«, rief er begeistert. »Sie ist noch am Leben!«

Die Zauberin rappelte sich unsicher auf die Füße, während die Phantasmagorie sich voll und ganz auf ihre Verteidigung gegen die Raketen konzentrierte und machte eine greifende Bewegung, als würde die Lady vom See etwas mit beiden Händen packen. Einer der vier Flügel wurde wie von Geisterhand vom Rücken der Phantasmagorie gerissen, und die Umrisse der Schwingen lösten sich in schmierigen, schwarzen Rauch auf, der innerhalb eines Atemzugs in der kalten Luft verging.

»Autsch«, kommentierte Mack das Geschehen. »Das muss wehgetan haben.«

»Jede Beeinträchtigung der ursprünglichen Gestalt der Phantasmagorie beeinträchtigt ihre Macht«, dozierte Morgan geistesabwesend. »Je weiter sie sich von dem entfernt, was ihre Schöpfer ersonnen haben, umso schwächer wird sie.«

Tatsächlich schwebte der falsche Engel nun mit deutlich eingeschränkter Eleganz auf die torkelnde Lady vom See zu, die mitten auf der Eisfläche stand und schwankend ihre Arme vor der Brust kreuzte. Die Phantasmagorie wirkte zwar geschwächt, die Ratsherrin dagegen am Ende ihrer Kräfte. Der Hubschrauber schwenkte wieder auf direkten Kurs gen London, nun da er keinerlei magischem Beschuss mehr ausweichen musste.

Grayson konnte nur ohnmächtig zusehen, wie die Gestalt mit ihrem weißglühenden Schwert einen Sturzflug auf die erwartungsvoll dastehende Lady vom See begann. Die Spitze der Waffe voran, fiel die Phantasmagorie wie das Richtschwert einer strafenden Gottheit auf die Zauberin nieder und mit einem mächtigen Lichtblitz trafen die beiden aufeinander. Das Geräusch des Aufpralls rollte wie Donner über die Landschaft. Grayson hörte das Bersten von Eis und sah, wie die Oberfläche des gefrorenen Sees unter den magischen Gewalten zerbarst. Als das blendende Licht erstarb, das die beiden Kontrahentinnen verborgen hatte, sah Grayson einen wild um sich schlagenden Engel, der wütend mit seiner Klinge auf das schäumende Wasser einschlug.

»Gut gespielt«, kicherte Morgan, und Grayson blickte den Magus überrascht an.

»Sie ist die Lady vom See«, betonte er den zweiten Teil des Namens der Ratsherrin. »Ihre Macht ist in einem Gewässer viel größer, und sie hat ihre Gegnerin erfolgreich dorthin gelockt.« Kaum hatte Morgan zu Ende gesprochen, als ein riesiger Wasserschwall sich auf der Oberfläche des Sees auftürmte und den falschen Engel einhüllte. Die Flüssigkeit erstarrte in der Bewegung zu Eis, und schloss die Phantasmagorie in einen dicken Panzer gefrorenen Wassers ein. Grayson glaubte, einen winzigen Kopf im aufgewühlten See zu erkennen, und dann ertönte die Stimme der Lady vom See im Inneren des Helikopters.

»Das Eis wird den Engel nicht lange aufhalten und er wird Sie jagen, Quaestor«, erscholl ihre Warnung wie ein ätherisches Flüstern. »Meine Kräfte versiegen, und ich ziehe mich nun zurück. Finden Sie die Verschwörer, Grayson. Finden Sie sie, bevor die Phantasmagorie Sie findet.« Während dieser Mahnung versank der Eisblock, in dem der falsche Engel gefangen war, in den Tiefen der Fluten, gefolgt von einem unsteten grünlichen Flackern, welches das Haupt der Lady vom See umgab, die ebenfalls in den aufgewühlten Wassern verschwand. Die Eisdecke vervollständigte sich im Nu, und nichts deutete auf jenes Unheil hin, das die Ratsherrin auf unbestimmte Zeit in dem unscheinbaren Gewässer gefangengesetzt hatte. Grayson tauschte einen stummen Blick mit seinem Team und erkannte in ihren Gesichtern denselben Gedanken, der auch ihn umtrieb. Die Zeit arbeitete in mehr als einer Hinsicht gegen sie – und sie hatten noch keine Ahnung, wo sie nach ihren schattenhaften Gegenspielern suchen sollten.

Nebula Convicto. Grayson Steel und das Blutsiegel von Rom

Подняться наверх