Читать книгу Nebula Convicto. Grayson Steel und das Blutsiegel von Rom - Torsten Weitze - Страница 6

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Der Ort, an den alle Wege führen

Greater London, Worthington Manor, Freitag, 12. Dezember, 22.58 Uhr

Der Wald rund um das Anwesen der Worthington-Familie schwelte hier und da im Dunkel der angebrochenen Winternacht, sodass es aussah, als würde mehr als ein Dutzend Lagerfeuer rund um das Haus brennen. Wäre der Anlass nicht so grimmig gewesen, hätte der Anblick geradezu idyllisch gewirkt, so als fände dort unten ein Fest im Wald statt, bei dem sich alle Teilnehmer mit Glühwein und Gesang um fröhliche Feuer scharten.

»Die Nachtstreifer melden, dass das Anwesen inklusive Umgebung gesichert ist«, verkündete Mack mittels seiner Drohne, die zwischen ihnen im Inneren des Helikopters schwebte. Der Pilot zog bereits die dritte Bahn über dem Waldstück, nachdem er sie mit großen Umwegen und unter hohen Sicherheitsvorkehrungen wieder hergeflogen hatte. »Die Feuer sind unter Kontrolle und werden nach und nach gelöscht.«

»Wie viele?«, fragte Grayson schmallippig, der die um die Flammen herumhuschenden Gestalten der wolfähnlichen Humanoiden nur schemenhaft erkennen konnte.

Mack wusste, was er meinte, denn er antwortete sofort. »Einunddreißig Tote«, sagte er. »Die Verwundeten wurden bereits mit dem Heiltrankvorrat des Anwesens versorgt«, warf Morgan dazwischen. »Ich habe Parsley bereits vor der Abreise entsprechend instruiert.«

»Flucht«, sagte Shaja düster. »Du meinst, vor unserer Flucht.«

»Der richtige Begriff ist ›Taktischer Rückzug‹«, sagte Richard milde. »Wir wussten nicht, wie viele Truppen da gegen uns vorrücken. Mit dem Helikopter zu verschwinden war die beste Option.«

Malthusar regte sich auf seinem Sitz. »Ich denke immer noch, Sie und ihr Team sollten mir zu einer Militärbasis der Unendlichen Legion folgen. Dort sind Sie sicherer als hier.«

Grayson schüttelte energisch den Kopf. »Wir bleiben nicht lange«, erklärte er mit ernster Stimme. »Nur bis wir wissen, wo wir als nächstes hin müssen. Unsere Ausrüstung ist ebenso da unten wie unsere Beschützer, die den Respekt verdient haben, dass wir in das Haus zurückkehren, das sie mit ihren Leben verteidigt haben. Eine Flucht ohne Wiederkehr würde uns das Rudel nie verzeihen.«

Morgan gab einen leisen Laut der Zufriedenheit von sich, verzichtete aber auf einen Kommentar zum wachsenden Wissen des Quaestors über Sitten und Gebräuche der magischen Wesen innerhalb der Nebula Convicto. Der Helikopter setzte auf dem Platz vor der Eingangstür auf, und Grayson sprang noch in derselben Sekunde heraus. Ihm war kalt, er war müde, innerlich zerschlagen und vor allem: zornig. »Alle in den Besprechungsraum«, grollte er in die Nachtluft hinaus und schenkte den im Helikopter zurückbleibenden General nur ein Kopfnicken zum Abschied. Ein leichter Schneefall setzte in diesem Moment ein und verlieh dem Gesamtbild eine derart harmonische Note, dass Grayson am liebsten auf irgendetwas eingeprügelt hätte. Es schien, als würde die Welt nicht kümmern, was in ihm vorging oder heute geschehen war.

Er stürmte auf die Eingangstür zu, die Parsley bereits geöffnet hatte. Grayson klopfte der Ritterrüstung im Vorbeigehen brüsk auf den Schulterpanzer, was das Konstrukt mit einem Zusammenzucken quittierte. Ein gemeines Kichern rang sich aus der Kehle des Quaestors hervor. »Entspann dich, alter Junge«, sagte er zu dem guten Geist des Hauses. »Ich habe meine Gabe schon lange so weit unter Kontrolle, dass ich deiner Magie nichts tue, wenn ich es nicht will.«

»Ich weiß, Sie sind ebenso gereizt wie wir anderen, Grayson«, tadelte Morgan den Ermittler und schob ihn an der zitternden Ritterrüstung vorbei. »Aber lassen Sie das nicht an dem armen Parsley aus, sonst finden Sie auf einmal die eine oder andere wenig schmackhafte Überraschung in Ihrem Kaffee.«

Grayson brummte und ging weiter, bis er im Besprechungsraum angekommen war. Mack hatte die Monitore bereits eingeschaltet und sowohl das Schaubild der Verschwörer als auch die heutigen Ereignisse in Stichworten auf den Bildschirmen dargestellt. »Ich habe da schon mal was vorbereitet«, sagte der Zwerg durch seine Drohne, als diese in den Raum flog. »Ihr wisst schon, um Zeit zu sparen.«

Sandwiches und Kaffee standen auf dem Tisch bereit, und erst jetzt merkte Grayson, wie hungrig er unter all seinem Groll war. »Danke, Parsley«, sagte er zu der im Gang stehenden Rüstung, die eine Verbeugung andeutete und sich dann zurückzog. Die anderen verteilten sich auf ihre Sitze, Shaja nahm diesmal am anderen Ende des Tisches Platz. Grayson und sie hatten schnell herausgefunden, dass sie nicht die Art von Pärchen waren, die einander in harten Zeiten die Hand hielten. Jeder von ihnen zog sein Ding durch, und wenn man sich dabei helfen konnte, war das in Ordnung. Ansonsten ließ man den anderen in Ruhe machen und besprach den verstrichenen Tag im gemeinsamen Bett, wenn sich die Nerven beruhigt hatten.

»Wir kennen die Motivation und den Modus Operandi der Verschwörer«, sagte Mack und hob die beiden Worte auf den Monitoren hervor. »Sie wollen die Nebula dazu zwingen, als Bösewicht ins Licht der Öffentlichkeit zu treten. Außerdem sind sie hinter dem Blutsiegel von da Vinci her.«

»Ich gehe davon aus, dass du bereits mit Nachforschungen begonnen hast?«, fragte Grayson, der so frustriert war, dass ihm nicht einmal der Kaffee schmeckte. Sie hatten die Verschwörer in die Enge getrieben, aber es fehlte noch immer der entscheidende Schlag, während ihre Gegenspieler mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Schatten heraus gegen die Quadriga vorgingen. »Gibt es eine direkte oder indirekte Verbindung der bisher aufgedeckten Drahtzieher zu da Vinci? Jemand, der ihm vielleicht damals begegnet ist?«

»Vielleicht.« Der Zwerg zuckte mit den Achseln. »Das Problem ist: Da Vinci war ein ziemlicher Herumtreiber. Was in den offiziellen Geschichtsbüchern steht, deckt nur sein weltliches Wirken ab. Für die Nebula Convicto war er mitunter an ein paar sehr exotischen Orten. Davon war die Hälfte Verschlusssache, was zu den damaligen Zeiten bedeutete, dass man es gar nicht dokumentierte. Deswegen wissen auch so wenige von diesem Blutsiegel.«

»Wir sollten die Suche eingrenzen«, sagte Richard. »Malthusar und die Lady vom See sagten, nur sie wüssten über den gesamten Einsatz da Vincis bezüglich der Vampire Bescheid. Aber offensichtlich hatten die Verschwörer auch Kenntnis davon. Woher?«

Shaja schnippte mit den Fingern. »Ein Überlebender der damaligen Kämpfe gegen die Bleiche Garde vielleicht?«

»Oder einer der Soldaten, die da Vinci begleiteten, als dieser den Vampiren seinen Vorschlag unterbreitete, sich einer höheren Aufgabe zu unterwerfen«, grübelte Grayson.

Mack tippte wie wild auf seiner Tastatur herum und verzog dann das Gesicht. »Die Namen der Soldaten wurden nicht aufgezeichnet.«

»Natürlich«, murrte Richard.

»Ob Malthusar sie noch weiß?«, hakte Morgan ein. »So wie er die Geschichte vorhin erzählte, war er derjenige, der den Stoßtrupp mit da Vinci losgeschickt hat.«

Grayson fuhr in seinem Sessel hoch. »Mack, schick eine verschlüsselte Nachricht an den General. Drücke dich schwammig aus und beziehe dich auf das heutige Gespräch, ohne ins Detail zu gehen. Wenn du ihn nach Augenzeugen fragst, wird er schon wissen, was wir meinen.«

»Als ob ich noch nie etwas geschmuggelt … ich meine eine verdeckte Operation begleitet hätte.« Der Zwerg vermied es, Grayson anzusehen und tippte hastig auf seiner Tastatur.

»Es gibt noch etwas, das wir in unsere Überlegungen mit einbeziehen können«, sagte Shaja. »Die meisten der Pläne, die Nebula zu offenbaren, hatten mit sehr altem oder obskurem Wissen zu tun. T`chan zu wecken, die Erzdrachen einzuspannen oder die unglaublich alten Zauberspeicher.« Mit jedem Hinweis, den die Saggitaria aufzählte, wurde sie aufgeregter. »Der Sonnenfluch in Paris war ebenso uralt. Und das Ritual zum züchten von Blutaalen war ebenfalls obskures und sogar verbotenes Wissen.«

»Sie müssen Zugang zu einem arkanen Archiv haben«, sagte Morgan. »Und zwar zu einem, das nicht der Nebula Convicto untersteht, sonst hätten wir sie längst enttarnt, denn solches Wissen kann man sich nicht unbemerkt in unseren Archiven aneignen.«

»Malthusar hat geantwortet«, unterbrach Mack ihre Gedankengänge. »Es waren vier Soldaten und alle sind bereits tot. Sie starben kurz nach der Expedition mit da Vinci auf verschiedenen riskanten Einsätzen.«

Grayson zog die Augenbrauen hoch und schaute dann Shaja und Richard an. »Das kommt mir nicht wie eine Zufall vor. Ist es möglich, dass Malthusar selbst dafür gesorgt hat, dass das Geheimnis um da Vincis Blutsiegel mit den vieren stirbt?«

Richard rieb sich mit der Hand über den Nacken. »Könnte gut sein. Er war schon immer ein skrupelloser Kommandeur und in seinen jungen Jahren nicht gerade zimperlich, wenn es um das ging, was er als Wohl der Nebula Convicto betrachtete.«

»Ich kenne seinen Ruf nur flüchtig, zumindest gemessen an Richards langer Zeit in der Unendlichen Legion«, warf Shaja ein. »Aber Malthusar ist der Typ, den man ruft, wenn man Leichen im eigenen Keller hat und will, dass sie dort schön tief vergraben liegen.«

Grayson schüttelte den Kopf. »Magisch oder nicht, Politik und Militär sind wohl überall gleich«, sagte er zynisch. »Die Soldaten sind also eine Sackgasse, aber was ist mit da Vinci und den Gerüchten über geheime arkane Archive? Wenn er so ein Freidenker war, kann ich mir vorstellen, dass er sich vielleicht selbst eines angelegt hat, von dem der Verhangene Rat nichts wusste. Vielleicht haben die Verschwörer es gefunden und bedienen sich von dort ihrer Pläne.«

»Das wäre möglich«, sagte Morgan zögerlich.

Das Klappern von Macks Tastatur ertönte erneut, während sich die Mitglieder der Quadriga nachdenklich gegenseitig ansahen und die Sekunden sich zu einer Ewigkeit ausdehnten. »Drei Treffer für mögliche Standorte, an denen er dazu die Zeit und die Ressourcen hatte«, verkündete Mack schließlich, und Grayson atmete auf.

»Einer wäre mir lieber gewesen, aber es ist immerhin eine Spur. Erzähl uns mehr.«

»Erstens in Florenz, wo da Vinci echt viel Zeit verbrachte und gut vernetzt war«, sagte Mack und zeigte dabei ein paar alte Zeichnungen aus dem Wirken da Vincis in der damaligen Metropole auf den Bildschirm. »Dann in Rom, als er für den Vatikan arbeitete. Und schließlich Amboise in Frankreich, wo er seinen Lebensabend verbrachte und sich in den Abschluss seiner magietheoretischen Arbeiten vertiefte.« Mack hob alle Orte auf einer Weltkarte hervor. »In allen drei Städten hätte er Mittel und Wege gehabt, sich ein Archiv aufzubauen. In Florenz hätte er das Geld gehabt, eines zu kaufen. In Rom hatte er den besten Zugriff auf verbotenes Wissen und in Amboise schließlich die Lebenserfahrung, selbst eines zu schreiben, anstatt es mühsam zusammenzutragen.«

»Suche nach Verbindungen zwischen einem dieser drei Standorte und unseren bisherigen Erkenntnissen«, sagte Richard, dem Grayson seine Aufregung ansehen konnte.

Macks Finger flogen über die Tastatur, und plötzlich leuchtete das Schaubild auf. Eine kleine dünne Linie spann sich von de Poulier bis nach Rom. »Eine Geldzahlung an ein kleines Kloster außerhalb der Stadt. Eigentlich vollkommen harmlos … nur dass das Kloster letzte Woche niederbrannte.« Mack tippte weitere Befehle ein und von Rom aus breiteten sich weitere Stränge aus, die nach und nach einen Großteil der enttarnten Verschwörer miteinander verbanden. »Sieben Banken, achtzehn Klöster und drei Stiftungen, allesamt mit Sitz in Rom oder Umgebung«, sagte Mack verdutzt. »Jetzt, wo ich einen scheinbar harmlosen Geldfluss identifizieren konnte, wusste ich, wonach ich suchen musste.«

Grayson stand auf und deutete auf die Monitorwand. »Alle Wege führen nach Rom«, zitierte er das alte Sprichwort. »Wir haben sie, endlich!« Er schlug seine Hände flach auf den Tisch. »Bereitet alles vor, wir fliegen nach Rom und treiben die Dreckskerle aus ihren Verstecken ans Tageslicht.«

Greater London, Worthington Manor, Samstag, 13. Dezember, 6.16 Uhr

Mit einem Stöhnen schulterte Grayson seine Ausrüstung und schritt zu dem wartenden SUV, dessen Motor bereits lief. Morgan und Richard hatten darauf bestanden, dass sie alles mitnahmen, was sie vielleicht bei ihrer finalen Jagd auf die Verschwörer benötigen konnten, und so hatten sie von einem altertümlichen Hexenkessel bis hin zu einem handlichen Granatwerfer, den Grayson das letzte Mal in Hamburg gesehen hatte, alles dabei. Es sah mehr so aus, als würden sie umziehen, als dass sie eine Ermittlung aufnahmen. Kaum dass alles verladen und alle in den Wagen gestiegen waren, gab Richard schon Gas, und am fröhlichen Summen des Ritters erkannte Grayson, dass sein Freund sich über die willkommene Ausrede freute, unter dem Deckmantel der Eile seinem Bleifuß auf dem Gaspedal freien Lauf zu lassen. Morgan murmelte fluchend einige Zauber, die den Wagen davon abhielten, den Gesetzen der Physik zu folgen und gegen den nächsten Baum zu krachen, und Richard beschleunigte zur Antwort nur noch mehr.

»Verdammt, ich sitze gemütlich in meiner Höhle und bekomme schon vom Zusehen Schiss«, sagte Mack, dessen breites Grinsen ihn Lügen strafte.

Grayson beließ es bei einem Kopfschütteln und ignorierte die rasend schnell vorbeiziehende Landschaft. Sie alle hatte eine gewisse Aufbruchsstimmung erfasst, und die wollte er nicht trüben. Die Ausssicht, jene Männer und Frauen in die Finger zu kriegen, die ihnen in den letzten Jahren derart übel mitgespielt hatten, ließ sogar Grayson ein finsteres Lächeln aufsetzen. »Malthusar hat uns einen Sondertransport zur Verfügung gestellt, der uns auf diskretem Weg nach Rom bringen wird. Er garantiert, dass niemand unsere Einreise bemerken wird, damit wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben«, informierte sie Morgan, bevor er weiter mit gemurmelten Zaubern Richards Raserei entgegenwirkte.

»Wissen wir schon, wohin wir als erstes wollen?«, fragte Grayson und starrte dabei Macks Abbild auf seiner Drohne an.

Der nickte mit feierlicher Miene. »Eine kleine, unbedeutende Bank in Familienbesitz eines gewissen Mantebaccio-Clans.«

»Menschen?«, fragte Grayson, der sich immer noch nicht ganz an diese Art der Fragen gewöhnt hatte.

Mack schüttelte den Kopf. »Menschenähnlich. Es sind Geistweber.«

Grayson runzelte die Stirn. »Das sind Telepathen, richtig?«

»Und Illusionisten«, ergänzte Morgan. »Die Mitglieder eines Clans sind dauerhaft telepathisch miteinander verbunden und ihre Trugmagie ist wirklich herausragend. Außerdem lieben sie Intrigen und Geheimniskrämerei.«

»Die perfekten Komplizen«, sagte Shaja. »Man kann keinen von ihnen verhören oder gar umdrehen, weil die anderen sofort wissen, was in den Köpfen jedes einzelnen vorgeht. Sie können einander vorwarnen und ihr Hang zur Verschwiegenheit ist kaum zu brechen.«

Grayson schaute Mack fragend an. »Haben wir Beweise, dass sie den Verschwörern helfen?«

»Beweise nein, Indizien allerdings jede Menge. Mehr als ein Dutzend Konten, Stiftungen und Zahlungen an involvierte Klöster laufen dort zusammen. Es muss eine Art Hauptkonto innerhalb der Bank geben, das zu einem der Verschwörer führt, aber dort verläuft sich die digitale Spur.« Mack zuckte mit den Achseln. »Wenn ich richtig liege, zahlt derjenige ganz altmodisch bar ein, und der Geistweberclan verteilt dann das Geld auf die anderen Konten.«

»Also eher ein Schließfach als ein Konto?«, fragte Grayson verwirrt.

»Ein Schließfach, auf das die Bank Zugriff hat«, korrigierte Mack nachdenklich. »Ungewöhnlich, aber clever.«

»Das wäre gut«, sagte Shaja mit einem blutrüstigen Glitzern in den Augen. »Dann wäre der Clan zweifelsfrei involviert und wir hätten ein echtes Druckmittel.«

Richard ließ den Wagen langsamer werden. »Wir sind gleich an den Koordinaten, die Malthusar übermittelt hat«, sagte er und deutete auf ein kleines Wäldchen fernab der Landstraße, die sie gerade entlangfuhren. Die Nacht hatte das Land noch fest im Griff, und mehr als undeutliche Umrisse waren fernab der Scheinwerferkegel nicht zu erkennen.

Grayson runzelte zweifelnd die Stirn. »Zwischen diesen Bäumen soll unser Flieger bereitstehen? Ist das eine Art Geheimbasis der Unendlichen Legion oder so etwas?«

Shaja klopfte unschlüssig mit den Fingern auf der Ablage des Wagens herum. »Das riecht nach einem von Malthusars verdeckten Manövern.«

Grayson tippte Richard auf die Schultern und bedeutete ihm anzuhalten. »Könnte auch eine Falle sein. Die Phantasmagorie wusste immerhin genau, wo sie uns suchen sollte. Was, wenn unser mysteriöser General ebenfalls mit einer Offenbarung der Nebula liebäugelt?«

»Keine Chance«, warf Mack entschieden ein. »Ich habe Malthusar auf deinen Wunsch hin genauestens durchleuchtet. Er hat bei der Hälfte der internationalen Zugriffe gegen Drahtzieher geholfen, die wir identifiziert hatten, und zwar mit einer Fehlerquote von null Prozent. Wenn er mit drinsteckt, ist er der mieseste Verbündete einer Verbrecherbande aller Zeiten.«

Grayson rang einen Moment mit seiner natürlichen Paranoia und gab dann nach. »Fahr bitte weiter, Richard«, sagte er. »Die Lady vertraut ihm, also tun wir das auch.« Er dachte kurz nach. »Aber keine Details zu unseren Ermittlungen. Ich will nicht, dass er uns dazwischenfunkt, weil er glaubt, es besser machen zu können.«

»Also ganz so wie ein gewisser Quaestor, den wir kennen«, sagte Mack grinsend.

»Genau«, sagte Grayson ohne Verlegenheit. »Das hier ist unsere Show.«

»Gibt es eigentlich Neuigkeiten von der Lady vom See?«, fragte Shaja in die Runde.

»Es geht ihr gut«, sagte Morgan. »Sie ist geschwächt, aber gesund und ruht sich in ihrem Teich aus.«

Grayson stieß einen leisen Ton der Erleichterung aus. »Wir sollten veranlassen, dass Sophia bis zum Abschluss der Ermittlungen unter Sonderschutz gestellt wird«, sagte er. »Ich will nicht, dass die Verschwörer sie nochmal aufs Korn nehmen, um die Lady politisch handlungsunfähig zu machen.«

»Schon erledigt«, sagte Richard, während er den Wagen auf den kaum sichtbaren Landwirtschafweg lenkte, der in das unscheinbare Wäldchen hineinführte. »Das Internat in den Alpen, in dem sie studiert, ist bis auf Weiteres abgeriegelt.«

»Wir haben Gesellschaft«, sagte Shaja, deren Augen golden glühten. »Ich sehe über ein Dutzend Legionäre zwischen den Bäumen, alle magisch getarnt. Was immer hier vorgeht, wird gut bewacht.«

Grayson kämpfte gegen sein Misstrauen an und murmelte nur: »Alle bleiben ruhig.«

Eine kleine Lichtung öffnete sich vor ihnen und dort standen zwei Soldaten, die salutierten, als der SUV sich näherte. Grayson sah schwarze Panzerung und sogar schwarzlackierte Hauer, die hinter breiten Masken hervorstachen, aber sein Hauptaugenmerk galt dem metallischen Konstrukt, das die Mitte der Lichtung einnahm. »Was zur Hölle ist das denn?«, entfuhr es ihm. Ein viereckiger Rahmen aus Stahl war mit schweren Bolzen im Waldboden verankert worden, komplizierte Zeichen zierten jeden Quadratzentimeter der armdicken Streben. Das ganze Gebilde wirke gleichzeitig hochkompliziert und ebenso improvisiert.

»Nicht möglich«, hauchte Morgan. »Sieht aus wie eine experimentelle Vorrichtung für die Erschaffung einer transkontinentalen Falte. Und zwar ganz ohne rituellen Bannkreis, Opfergaben oder unterstützende Kraftlinien.« Er blickte sich im Inneren des Wagens um. »Die Magietheorie ist eigentlich noch Jahrzehnte von so etwas entfernt.«

Grayson war weniger beeindruckt, sondern eher besorgt. »Mit so einem Spielzeug kann man eine Menge Unheil anstellen. Erst recht, wenn man ein General ist, der über verdeckte Truppen verfügt.«

»Malthusar untersteht immer noch der Lady vom See«, sagte Richard beruhigend, doch Grayson hörte eine Spur Zweifel aus der Stimme des Custos heraus.

»Also ich mache mir eher Sorgen, das wir offensichtlich durch dieses Ding durchfahren sollen«, sagte Shaja. »Ist es normal, dass die rechte Strebe anfängt zu qualmen?« Nun sah auch Grayson, wie sich ein dünner Rauchfaden vom Sockel des rechten Rahmens dieses übergroßen Tors emporschraubte.

Einer der Soldaten trat neben Richards Fenster und klopfte höflich dagegen. Der ließ die Scheibe herunter, und die gepanzerte Gestalt salutierte erneut. »Sir, bitte fahren Sie durch, sobald die Falte geöffnet ist. Das magische Feld bleibt nur wenige Sekunden stabil und wir wollen, dass alle Insassen auf der anderen Seite ankommen.«

Richard nickte und ließ kurz den Motor aufheulen. »Bereit, wenn Sie es sind, Soldat.« Grayson hörte eine unbändige Vorfreude aus der Stimme des Ritters heraus, der sich im Gegensatz zu ihm auf diesen Höllenritt freute.

»Wenn es nicht sicher wäre, würde Malthusar uns nicht hindurchschicken«, sagte Morgan mit flacher, zittiger Stimme, die klang, als wolle er sich selbst beruhigen.

»Warum genau fliegen wir nicht einfach nach Rom? Oder fahren mit dem Auto?«, fragte Mack. »Ich kann gerne eine Weile das Steuer übernehmen, wenn ihr meine Drohne an das Lenkrad anschließt.«

Draußen berührten die Soldaten auf je einer Seite der Konstruktion eine Druckfläche, und mit einem Zischen, das wie von einer übergroßen Schlange klang, erschien eine flüssige, schwarze Wand aus Nichts, die wie ein matter, alles Leben verschluckender Spiegel das Innere des Rahmens ausfüllte. Grayson packte das nackte Grauen, als sein Überlebenskampf gegen den Mahlstrom unter dem Tower vor seinem geistigen Auge auftauchte. Das Tor hier führte an denselben Ort, an den auch der Wirbelsturm aus Dunkelheit ihn hatte reißen wollen. Richard beschleunigte den Wagen und noch während die Stoßstange des SUV in die Schwärze eintauchte, sah Grayson, dass die Streben der experimentellen Konstruktion begannen, sich wie Wachs zu verformen und die eben noch ruhige Oberfläche der Falte Blasen warf und blubberte wie heißer Teer.

»Vielleicht sollten wir nicht da durch …«, begann Morgan, aber da passierten sie auch schon die Falte und eine undurchdringliche Finsternis legte sich über Graysons Sinne. Der heulende Motor des Wagens klang plötzlich wie das Dröhnen einer Totenglocke und die nach ihm tastende Hand Shajas fühlte sich an wie die modrigen Finger einer längst Verstorbenen. Grayson hatte das Gefühl, seine Lebensjahre würden aus ihm herausgesaugt, und er meinte, seinen Namen als mehrstimmiges Flüstern in der unendlichen Ferne zu vernehmen …

Ein Reißen ertönte, als würde der Wagen eine dünne Membran durchfahren und plötzlich raste Richard einen stillgelegten Weinberg hinab, dessen tote, verbrauchte Weinstöcke Zeugnis von längst vergangener Betriebsamkeit ablegten. Die Räder des SUV knirschten durch den tiefen Schnee, der die Landschaft bedeckte, und Richard trat heftig auf die Bremse, sodass sie alle durchgeschüttelt wurden.

»… fahren«, beendete Morgan seinen Satz konsterniert.

Alle Insassen hatten denselben Impuls und rissen die Seitentüren auf, um hinaus in die kalte Morgenluft zu springen. »Das war keine normale Falte«, sagte Shaja erbost. »Ich hatte das Gefühl, als wollte sich meine menschliche Seite von meiner dämonischen trennen.«

»Diese Falte führte durch einen Bereich des Nimbus, der absolut tabu ist«, zeterte Morgan aufgebracht. »Niemand, der bei Trost ist, reist so nah an den Grenzen des Styx vorbei.«

»Also ich hab nix gemerkt«, verkündete Mack fröhlich und erntete dafür ein paar böse Blicke. »Ich hol mir besser noch ein paar Bier«, sagte der Zwerg hastig, und seine Gestalt verschwand vom Bildschirm.

»Der Styx?«, fragte Grayson nach einigen Augenblicken der Stille, in denen alle tief Luft holten, um den Schock zu verarbeiten. »Wie in den griechischen Sagen?«

»Es ist natürlich kein Fluss, der die Toten in die Unterwelt geleitet«, sagte Richard, der kritisch die teils noch dampfende Oberfläche des Wagens beäugte. »Aber es gibt einen Punkt im Nimbus, durch den nachweislich die Seelen der Verstorbenen kurz nach ihrem Ableben verschwinden. Wie ein übernatürliches schwarzes Loch. Wir nennen diesen Ort den Styx. Er ist ein Mysterium und ein Streitpunkt zwischen denen, die an das Göttliche glauben und denen, die es nicht tun.«

»Die einen denken, der Styx sei der Übergang ins Jenseits, wo ein magischer Ponyhof – oder woran der Verstorbene halt glaubt – wartet«, erklärte Morgan in seiner typisch herablassenden Art, wann immer das Thema Göttlichkeit aufkam. »Die anderen denken, es sei eine arkane Barriere, die die Lebenden von den Toten trennt. Ein Übergang in eine andere Dimension, wenn man so will. Also nichts anderes als eine Trennlinie. So wie zu dem Ort, aus dem Dämonen stammen.«

»Du weißt schon, dass du gerade auf wissenschaftlich klingende Art das Jenseits und die Hölle beschrieben hast, oder?«, giftete Richard zurück.

Grayson hob befehlend die Hand. »Theologie diskutiert ihr in eurer Freizeit und wenn ihr keine Waffen zur Hand habt«, sagte der Quaestor entschieden. »Wir sind uns einig, dass wir gerade alle einem Ort zu nahe gekommen sind, an dem wir nichts verloren hatten. Warum hat uns die Legion dort entlang geschickt?«

Morgan zuckte die Achseln. »Vielleicht war es nicht beabsichtigt?«, erwiderte er mit noch immer aufgebrachter Stimme. »Oder weil der Styx jede Form der Hellsicht unmöglich macht. Er strahlt so viel Magie ab, dass jede Suche nach Reisenden wäre, als wolle man eine Fliege auf einer eingeschalteten Flutlichtanlage erkennen können.«

»Mit anderen Worten: Niemand kann wissen, dass wir hier sind?«, hakte Grayson nach.

Morgan nickte. »Ich weiß nur nicht, ob es das Risiko wert war«, murrte er. »Sich dem Styx zu nähern kann alle möglichen Nebenwirkungen nach sich ziehen, von Wahnsinn über das Erlöschen magischer Fähigkeiten bis hin zum Herzstillstand.«

»Jetzt sind wir aber wohlbehalten hier und haben einen Vorteil«, sagte Shaja und blickte sich das erste Mal richtig um. »Wo auch immer hier ist.«

Grayson folgte ihrem Beispiel. Die Sonne kroch allmählich am Horizont empor, um ihre Reise über einen wolkenfreien Himmel anzutreten, und ihre ersten Strahlen machten Grayson klar, dass es später am Tag sein musste, als er erwartet hatte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es beinahe Viertel nach acht war. Ihre Reise durch die experimentelle Falte hatte länger als eine Stunde gedauert. Der Ermittler erinnerte sich daran, mal in einer Dokumentation über schwarze Löcher gehört zu haben, dass die Zeit in ihrem Ereignishorizont gekrümmt wurde …

Er schauderte und beschloss, zugunsten seiner geistigen Gesundheit, nicht länger über ihre Anreise nachzudenken. Er konzentrierte sich auf die verfallenen Hütten und toten Rebstöcke auf dem sanften Hang. »Zumindest gab es keine Zeugen«, sagte er. »Mack, klär uns auf, wo wir sind.«

»Bin schon wieder da«, rief der Zwerg, der mit einem Arm voll Bierdosen zurück auf seinen Stuhl hastete. »Laut GPS meiner Drohne seid ihr knapp sechzig Kilometer süd-südöstlich von Rom. Den Hang hinunter sollte ein kleiner Privatweg sein. Folgt ihm nach Osten, dann stoßt ihr auf ausgebaute Straßen und seid sozusagen wieder unter den Lebenden.« Der Zwerg gluckste über seinen eigenen Witz und machte ein unschuldiges Gesicht mit großen Kulleraugen, als Shaja ihm den Mittelfinger zeigte. »Noch zu früh?«, fragte er lachend.

»Irgendwann erzähle ich dir mal, was das für ein Gefühl ist, dem Styx zu nahe zu kommen«, grollte Richard. »Mal sehen, ob du dann immer noch lachst.«

»Steigen wir ein und fahren los«, sagte Grayson. »Wir haben ein paar Verschwörer kaltzustellen.«

Rom, Municipio VIII, Samstag, 13. Dezember, 10.23 Uhr

»Es schneit schon wieder«, sagte Grayson und blickte in das wirbelnde Weiß jenseits der Fensterscheibe hinauf. »Man kann kaum die Hand vor Augen sehen.«

»Ich komme zurecht«, murmelte Richard vom Fahrersitz aus.

»Dieser Winter wird in ganz Europa lang und kalt«, erwiderte Morgan. »Eine Nachwirkung des Sonnenfluchs, den de Poulier diesen Sommer verwendete. Sein Zauber hat ganz schön am Wetter herumgepfuscht, und die Natur bringt sich gerade wieder ins Gleichgewicht.«

»Die Wetterlage ist äußerst ungünstig«, seufzte Grayson. »In dem Schneegestöber sehen wir doch keine Bedrohung kommen, bis sie direkt vor uns steht.«

»Die Sensoren der Drohne sind äußerst empfindlich«, sagte Mack beruhigend. »Wenn sich jemand Verdächtiges nähert, erfahrt ihr davon.«

»Und Numquam ist auch da oben und hält Ausschau«, sagte Morgan und deutete durch das Autodach gen Himmel. »Der Schnee trübt seine Magie nicht im Geringsten.«

Etwas beruhigter ließ Grayson seine Gedanken zu der bevorstehenden Aufgabe gleiten. »Mack, hast du einen Ansatz gefunden, wie wir diesen Geistweberclan zur Kooperation bewegen könnten?«, fragte er nachdenklich.

»Keine Chance, Boss«, erwiderte der Zwerg kopfschüttelnd. »Die sind echt vorsichtig und nutzen digitale Mittel nur, wo es unbedingt notwendig ist. Bei denen müssen wirklich viele Aktenschränke rumstehen.«

»Also eine Hausdurchsuchung?«, frage Grayson in die Run­de.

Richard stieß einen warnenden Laut aus. »Sämtliche Banken, die Mitgliedern der Nebula gehören, stehen unter besonderem Schutz wegen all der Geheimnisse, die sie mitunter einlagern. Ohne Zustimmung des Präfektors kommen selbst wir nur bis zur Eingangstür einer Bank, wenn sie uns nicht reinlassen will.«

»Aber wir können die Mantebaccios verhören, wenn wir wollen?«, fragte Grayson unzufrieden.

»Natürlich, Quaestor«, sagte Morgan. »Aber wenn wir einem von ihnen Fragen stellen, wissen die anderen direkt Bescheid. Es sind Geistweber, und die können nun mal auf die Gedanken aller anderen zugreifen.«

Grayson rieb sich grübelnd über den Bart. »Und wenn ich einen mit meiner Gabe abschirme?«

»Das wäre eine kurzfristige Lösung«, gab Morgan zu. »Aber er könnte nicht lange in der Antimagie durchhalten, denn Geistweber sind hochmagische Wesen. Und in dem Moment, in dem er das Lacunusfeld verlässt, würde er die anderen informieren.«

»Trotzdem könnte das noch nützlich sein«, sagte Grayson nachdenklich und atmete dann tief durch. »Keine digitalen Spuren, keine Hausdurchsuchung, kein Verhör«, fasste er zusammen. »Irgendwelche Ideen?«

»Wie wäre es mit externer Hilfe?«, fragte Shaja und legte den Kopf dabei schief. Grayson wusste, dass sie dies mittlerweile immer tat, wenn sie etwas vorschlagen wollte, das ihm nicht schmeckte, ob nun im privaten oder beruflichen Rahmen.

»Raus damit«, stöhnte er.

»Wir könnten ein paar Grenzgänger um Hilfe bitten«, sagte sie und blickte dabei um Unterstützung suchend zu Mack. »Die müssen sich nicht an Gesetze halten, stellen keine Fragen und könnten sich ungestört in der Bank umsehen, während wir den Clan beschäftigen.«

Grayson kramte in seinem Gedächtnis. »Sind das nicht bessere Verbrecher, die sich gerade so am Rande der Legalität der Nebula Convicto aufhalten?«, fragte er ungläubig.

»Mehr oder weniger«, gab Shaja offen zu. »Einige sind eher krasse Individualisten als kriminell veranlagt, andere sind aufgrund der Physis oder Psyche ihrer Rasse dazu verdammt, ständig mit den Gesetzen der Nebula aneinander zu geraten.«

»Und ich gehe nicht davon aus, dass du ein paar von den Individualisten anheuern willst, oder?«, grollte Grayson schicksalsergeben.

Shajas rote Haare flogen ihr um den Kopf, als sie ihn lachend schüttelte. »Oh nein. Wir brauchen ein paar hartgesottene Profis, die nur dann auf die richtige Seite des Gesetzes huschen, wenn sie kurz davorstehen, erwischt zu werden.«

»Auf gar keinen Fall«, sagte Grayson entschieden. »Wir lassen uns sicher nicht mit Schwerverbrechern ein.«

»Gut, dann bitten wir die Präfekta von Rom um eine Hausdurchsuchung der Mantebaccio-Bank«, sagte Shaja kurz angebunden. »Damit verspielen wir zwar unser Überraschungsmoment, weil die Verschwörer sicher einen Spitzel am Hof der Präfekta haben und wir sowohl unsere Präsenz in Rom als auch unseren nächsten Zug offen legen, aber ich bin sicher, es wird schon alles gut gehen.«

»Da ist was dran«, warf Richard ein, der den SUV beständig weiter Richtung Innenstadt steuerte. Die Häuser und Menschen der Hauptstadt waren nur Schemen im wirbelnden Weiß, und Grayson fragte sich, wie der Ritter es schaffte, inmitten des chaotischen Verkehrs keinen Unfall zu bauen. »Unser größter Vorteil ist, dass die Verschwörer nicht wissen, dass wir hier sind. Und solange sie die Phantasmagorie in England nach uns suchen lassen, kann sie uns hier nicht das Leben schwer machen.«

Grayson schnaubte widerwillig. Der falsche Engel war längst aus seinem eisigen Gefängnis entkommen. Malthusar hatte einen Haufen Legionäre zum gefrorenen See in den North Downs geschickt und die Soldaten hatten den Engel die ganze Nacht gejagt, aber das Wesen war im Morgengrauen entkommen. Morgan vermutete, dass die Phantasmagorie das Land nun nach ihnen durchkämmte, doch offenkundig waren weder seine Herren noch der falsche Engel hellsichtig genug, um nach Belieben den Standort der Quadriga bestimmen zu können, und dafür war Grayson zutiefst dankbar. Diese Ermittlung war schon schwer genug, ohne dass ein erschaffener Racheengel ihnen im Genick saß. »Wir sollten wirklich so lange wie möglich unter dem Radar bleiben«, sagte er schließlich. »Also kein Besuch bei der Präfekta, keine offizielle Unterstützung durch die Nebelwacht oder den Verhangenen Rat und auch keine Unterkunft, die unsere Anonymität gefährdet.«

Morgan seufzte. »Und ich hatte mich so auf eine arkane Suite mit Blick auf den Petersdom gefreut.«

Grayson wog das Für und Wider einer verdeckten Vorgehensweise ab und kam zu einem Entschluss. »Offenbaren können wir uns immer noch jederzeit und dann auf die Ressourcen des Rates und der örtlichen Präfekta zurückgreifen. Den Vorteil der Überraschung bekommen wir aber nie wieder. Also versuchen wir es mit Shajas Vorschlag.« Er ignorierte den leisen Jubelschrei der Halbdämonin. »Mack, kennst du ein anrüchiges Hotel hier in Rom, das Grenzgänger aufnimmt und keine Fragen stellt?«

»Natürlich«, sagte der Zwerg geradezu entrüstet. »Seit ich für diese Quadriga arbeite, rechne ich täglich damit, dass wir alle unsere Jobs verlieren. Also halte ich mir ein paar meiner lukrativen, aber weniger respektablen Kontakte warm – nur für den Notfall selbstverständlich.«

»Selbstverständlich«, wiederholte Morgan sarkastisch, dem die Entscheidung des Quaestors nicht zu schmecken schien. Der Magus brauchte eine gewisse Eleganz um sich, und Grayson konnte förmlich sehen, wie sein Freund mit dem Gedanken rang, in eine halbseidene Absteige ziehen zu müssen.

»Also schön«, sagte Grayson widerwillig. »Shaja, kontaktiere diskret, wen du für geeignet hältst, aber gib Mack die Namen vorher durch. Ich will mir sicher sein, dass wir nicht plötzlich irgendwelche Handlanger der Verschwörer vor uns sitzen haben.«

»Die, an die ich denke, sind allesamt sauber«, versicherte Shaja. »Sie haben nicht viel für die Lex Nebula übrig, aber keiner von ihnen würde bei so etwas wie den Anschlägen der letzten Jahre mitmachen, egal wie hoch die Bezahlung wäre.«

Grayson war nach dieser Beschreibung nicht wirklich beruhigt, beließ es aber bei einem schwachen Kopfnicken.

»Bitte fahre zu dieser Adresse«, sagte Mack, dem man seine Vorfreude anhörte, und im Navigationsgerät des SUV blinkte eine Markierung auf.

»Letti perfetti«, murmelte Richard. »Perfekte Betten? Klingt wirklich nach einer Absteige.«

Mack nickte enthusiastisch. »Sie ist sogar in den gängigen Suchmaschinen zu finden, wenn man die passenden Parameter einstellt. Ein Stern bei über tausend Bewertungen. Die perfekte Tarnung als Touristenfalle. Kein normaler Mensch, der alle Sinne beisammen hat, würde hier ein Zimmer buchen«

»Oh, wie schön«, seufzte Morgan griesgrämig. »Zeit, meine Reinigungszauber zu üben.«

Nebula Convicto. Grayson Steel und das Blutsiegel von Rom

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