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Goldener Käfig

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Die kalten Monate auf dieser Verbannungsinsel sind nur schwer zu ertragen. Die Villa lässt sich nicht hinreichend heizen, und die ungewohnte Kälte setzt mir zu. Aber es ist nicht nur die äußere Kälte. Trauer um Jullus und das Gefühl eines unermesslichen Verlusts lassen mich auch innerlich frieren. Wärme finde ich nur, wenn ich mich in Gedanken in die Vergangenheit versenke.

Ich versuche, dem schmerzhaften Gedenken an Jullus und der Vorstellung seines gewaltsamen Todes zu entfliehen, indem ich mir die Anfänge unseres gemeinsamen Lebens in die Erinnerung rufe. Sollte es meinem Vater wirklich gelingen, mich durch die Verbannung mundtot zu machen, so gelangen diese Aufzeichnungen doch vielleicht irgendwann einmal in die Hände von Freunden, die dafür sorgen werden, dass der Skandal, der mich nach Pandateria verbannt hat und Jullus das Leben kostete, nicht nur in politisch korrekter Sprache bekannt wird, in der Sprache, die mein Vater und seine beflissenen Hofberichterstatter so perfekt beherrschen.

Meine Erinnerungen an Jullus beginnen mit unseren kindlichen Spielen im kaiserlichen Haus, zunächst unter der liebevollen Obhut meiner Tante Octavia. Octavia ersetzte mir für lange Jahre die Mutter, nachdem sich mein Vater wegen angeblicher Sittenlosigkeit am Tag meiner Geburt von Scribonia hatte scheiden lassen, um Livia zu heiraten: Schon damals diente der moralische Vorwurf dazu, politische Interessen zu verschleiern.

Augustus und Livia bestimmen bis heute das gesamte häuslichprivate Leben auf dem Palatin, sofern dies überhaupt einen solchen Charakter haben kann. In ihrem konsequenten Erziehungsprogramm sind sich beide absolut einig. Allein schon deshalb hielten wir Kinder uns, wo immer es ging, an Octavia. Wir – das war eine elfköpfige Kinderschar, in der ich als einziges Kind des Kaisers natürlich eine Sonderstellung einnahm. Aber auch die fünf Kinder Octavias waren sich ihres Ranges und ihrer Herkunft bewusst. Da waren die drei Kinder aus ihrer ersten Ehe mit Gaius Claudius Marcellus: als Ältester Marcus Claudius Marcellus (der später mein erster Mann werden sollte) und die zwei Mädchen namens Marcella (von denen die ältere später zuerst mit Agrippa, meinem zweiten Mann, und dann mit Jullus verheiratet wurde). In seiner zielgerichteten Heiratspolitik verband mein Vater später ja die meisten dieser Kinder miteinander in verschiedenen Ehen oder trennte sie, wie es ihm gerade passte, voneinander – durch Scheidungen. Persönliche Wünsche, Neigungen oder Abneigungen spielten dabei für ihn nie eine Rolle.

Mit uns wuchsen aber auch die beiden Kinder aus Octavias zweiter Ehe mit Marcus Antonius auf: die ältere und die jüngere Antonia.

Neben diesen fünf leiblichen Kindern hatte Octavia nach dem Tod von Antonius und Kleopatra in der ihr eigenen Hochherzigkeit auch deren zwei verwaiste Kinder bei sich aufgenommen. Ihre Liebe zu Antonius war trotz seiner Leidenschaft für Kleopatra (und obwohl er Octavia auf demütigende Weise verlassen hatte) auch nach seinem Tod so stark, dass sie die Kinder, die ihm die ägyptische Königin geboren hatte, wie ihre eigenen aufzog. Helios und Selene zeigten sich zu meinem Erstaunen wenig belastet durch die schrecklichen Vorgänge, die zum Tod ihrer Eltern in Alexandria geführt hatten, und fügten sich gern der Fürsorge Octavias.

Auch einen Sohn des Antonius aus dessen früherer Ehe mit Fulvia hatte Octavia aus Liebe zu Antonius in ihr Haus geholt.

Das war Jullus.

Sie bevorzugte Jullus vor allen anderen Kindern, und wenn er, wie es hieß, seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, kann ich Octavia und Kleopatra nur zu gut verstehen. Aber während Antonius bei allem Ehrgeiz und Machtwillen nur allzu gern den Göttern der Liebe und des Weins huldigte und ihn immer wieder plötzliche Stimmungsschwankungen überkamen, zeigte sein Sohn Jullus bei aller Großzügigkeit eiserne Selbstdisziplin und zielstrebigen Ehrgeiz. Diese Eigenschaften fesselten mich von Anfang an und machten ihn später zum Kopf unserer Verschwörung.

Während ich mich auf besondere Weise zu Jullus hingezogen fühlte, ließen mich die andern, fast gleichaltrigen Jungen völlig gleichgültig. Zu diesen gehörten neben Marcellus auch Tiberius und Drusus, die beiden Söhne aus Livias erster Ehe. Die beiden waren nach dem Tod ihres Vaters auf Geheiß Livias und meines Vaters von Perusia nach Rom gebracht worden. Tiberius, mein späterer dritter Mann, war damals etwa zehn Jahre alt, im Alter also von Marcellus. Drusus war drei Jahre jünger, in meinem Alter. Während Drusus sich meist freundlich gutmütig unseren Spielen anpasste, zeigte Tiberius schon früh jene eigenbrötlerische Schroffheit und Verschlossenheit, die später den Umgang mit ihm so erschwerten und die ich auch nach unserer Heirat kaum glätten oder mildern konnte. Ich bin eben keine Octavia.

Denn Octavia war, ähnlich wie Julia, die einzige Tochter des großen Julius Caesar, eine der seltenen Frauen unseres julischen Geschlechts, die ohne Feinde leben und selbst dort, wo sie Feindschaften vorfinden, zu vermitteln und zu schlichten versuchen. Deshalb hatte sich Octavia seinerzeit zur Heirat mit Antonius bereit erklärt, um diesen und ihren Bruder miteinander zu versöhnen. Beide waren schon bald nach Caesars Tod zu feindlichen Rivalen geworden: Antonius betrachtete sich als Caesars Erben aufgrund seiner alten kriegserprobten Freundschaft mit ihm, mein Vater aufgrund seiner Adoption durch Caesar.

Aber das mehrfach wiederhergestellte, fragwürdige Freundschaftsbündnis zwischen den beiden Rivalen zerbrach endgültig, als Antonius wie ein „lüsterner Sklave“ in die Netze der „ägyptischen Hure“ geraten war, wie mein Vater sich öffentlichkeitswirksam entrüstete. Er rief damals geradezu einen „Kampf der Kulturen“ zwischen dem „freien Westen“ und dem „despotischen Osten“ aus.

Nach ihrer Scheidung von Antonius verließ Octavia dann das gemeinsame Haus und bezog mit ihren Kindern einen Seitentrakt des kaiserlichen Hauses auf dem Palatin. Hier wuchsen wir Kinder gemeinsam auf.

Da wir alle etwa gleichaltrig waren, lernten wir zunächst weitgehend gemeinsam. An unserer Erziehung waren zahlreiche Personen beteiligt, anfangs natürlich die üblichen Ammen, dann die Lehrer für Grammatik, die uns Lesen und Schreiben sowie die Werke Homers beibrachten. Zusammen mit den heranwachsenden Jungen erlernten dann auch wir Mädchen die Grundzüge der Rhetorik. Mein Vater, der nichts dem Zufall überlässt, hatte zu diesem Zweck den Freigelassenen Verrius Flaccus mit dessen ganzer Schule in ein Haus direkt neben dem Palast geholt, damit wir die denkbar beste Erziehung erhielten. Dieses Ziel hat er zweifellos erreicht, wenngleich auch mit etwas anderen Folgen, als er bezweckt haben dürfte. Denn Flaccus zeichnete sich im Gegensatz zu seinen Kollegen dadurch aus, dass er seine Schüler zu selbstständigem Denken anhielt. Beispielsweise mussten wir, statt die Fabeln des Äsop auswendig zu lernen, eigene Fabeln erfinden, oder statt die vom Lehrer vorgetragene Interpretation einer Homerstelle einfach zu übernehmen, einen eigenen Kommentar verfertigen. Wenn wir dann die unterschiedlichen Ergebnisse verglichen, lernten wir, auf den genauen Wortlaut zu achten, und erkannten, wie abhängig eine Interpretation vom Interpreten ist. Auch in den rhetorischen Übungen angesichts bestimmter Krisen- oder Entscheidungssituationen lehrte uns Flaccus, wie unterschiedlich ein und derselbe Vorgang bewertet werden kann.

Ich erinnere mich, dass die ältere Marcella und ich einmal in Streit gerieten, als wir die Liebesgeschichte von Dido und Aeneas behandelten. Marcella konnte ich am wenigsten leiden. Vielleicht ahnte ich, dass sie jeweils vor mir die Frau von Agrippa und Jullus werden sollte – der beiden Männer, die ich, jeden auf seine Weise, am meisten geliebt habe. Marcella also schlug sich ganz auf die Seite der karthagischen Königin Dido und verurteilte den treulosen Aeneas, der sie einfach verlassen habe um eines angeblich göttlichen Auftrags willen. Ich dagegen verteidigte den Ahnherren unseres Geschlechts, weil er zu beidem bereit gewesen sei: zum leidenschaftlichen Liebesgenuss ebenso wie zum Verfolgen eines hohen politischen Ziels. Während Marcella missmutig eiferte, fühlte ich mich beflügelt durch Jullus’ zustimmende Blicke und Gesten. Im Nachhinein erscheint mir diese Szene fast wie eine symbolische Vorwegnahme dessen, was später geschah.

Alles, was wir lernten, wurde sorgfältig überwacht von meinem Vater und begleitet von seinen unermüdlichen Forderungen. Er bestand darauf, dass wir Mädchen nach dem Vorbild und unter Anleitung Livias Wolle spinnen und weben lernten. Zur Belohnung oder weil dies tatsächlich seinem Wunsch entsprach, legte er dann die von uns gewebte Kleidung an, so wie er es heute noch mit den von seinen Enkelinnen gewebten Tuniken und Mänteln hält. Wir waren vermutlich die erste Generation, die diese veralteten Vorstellungen nicht mehr teilte. Meine Töchter haben unter dieser Erziehung nach der Vätersitte wohl noch mehr gelitten als ich. Aber vor dem Willen dieses Vaters und Großvaters gab und gibt es kein Entkommen.

Bei allem, was wir sagten oder taten, hatten wir darauf zu achten, dass nichts geschah, was sich nicht zur Veröffentlichung in den Hofberichten eignete. Selbst Einzelheiten kontrollierte mein Vater. Nicht nur, dass er uns so lange üben ließ, bis unsere Handschrift gut lesbar und sauber wurde, wir mussten dabei die seine imitieren, was unsere kalligraphischen Neigungen natürlich nicht eben beflügelte. Dankbar bin ich ihm dagegen dafür, dass er uns unnachsichtig zu präziser Wortwahl und einer klaren Sprache anhielt. Er ist ja selbst ein Meister der Sprache, sowohl des treffenden als auch des verschleiernden Wortes, und wusste, warum er uns immer wieder ermahnte, verbesserte und anspornte – was bei Jullus allerdings kaum erforderlich war und bei Tiberius wiederum kaum fruchtete, der sich schon damals gern hinter dunklen, vieldeutigen Worten versteckte.

***

Der heutige Gang über die Insel verlief erstmals anders als die anderen. Ich war nicht mehr vorrangig in verworrenen Gedanken gefangen, sondern blickte auf meine Umgebung mit ruhigen, nüchternen Augen. Ich sah die unbeholfene Verlegenheit, mit der mir meine Bewacher zu folgen versuchen, und empfand kurzfristig fast so etwas wie Mitleid mit diesen armseligen Kreaturen. Zum ersten Mal stellte ich auch fest, dass der Villenkomplex größer ist, als ich bisher vermutet hatte. Offenbar wirkt das Schreiben tatsächlich beruhigend und klärend.

Zurückgekehrt, musste ich mich zum ersten Mal nicht überwinden, meine Aufzeichnungen fortzusetzen.

Uns Heranwachsenden war die unausgesetzte Kontrolle natürlich lästig. Wenn mein Vater später nach denselben Prinzipien auch bei seinen Enkeln und Enkelinnen verfuhr, so sehe ich diese Bemühungen inzwischen in einem etwas anderen Licht, wenn ich bedenke, wie viel Zeit und Mühe er angesichts seiner vielfältigen politischen Aufgaben allein auf die Spracherziehung all jener Kinder verwandte, die in seinem Haus aufwuchsen.

Hinter und über allem aber wachte die alterslos schöne, immer beherrschte Livia mit kühlem Blick und unbewegtem Gesicht. Vergeblich versuchten wir Mädchen, gegen sie aufzubegehren, indem wir mitunter geradezu verzweifelt darum baten, uns wie andere Mädchen unseres Alters auch einmal unbeaufsichtigt außerhalb des Palastes bewegen zu dürfen. Während die Jungen, allen voran Jullus, täglich zu ihren sportlichen Übungen und Wettspielen auf das Marsfeld zogen, um anschließend begeistert zu erzählen von den bunten Menschenmassen, exotischen Verkaufsbuden und hübschen Prostituierten, war für uns Mädchen der Palast ein goldener Käfig, außerhalb dessen Unsittlichkeit und Verworfenheit auf uns lauerten. Umso begieriger wurden wir natürlich, diese unbekannte, gefährliche Welt kennen zu lernen. Meine Neigung, nach selbstgesteckten Zielen zu leben, mag auch ein Erbteil meines Vaters sein. Entscheidend gefördert aber wurde dieses Erbteil durch meine überstrenge Erziehung – und durch Jullus.

Von Jullus lernte ich, was außerhalb des Erziehungsprogramms meines Vaters lag: einen realistischen, nüchternen Blick auf das, was der gegenwärtigen Friedensära vorangegangen ist und was sich hinter der Maske des Friedenskaisers verbirgt. Jullus war es, durch dessen Erzählungen ich vom Schicksal Octavias und vom Ende seines glücklosen Vaters Antonius erfuhr. Mit Jullus’ Augen begann ich meinen Vater genauer zu beobachten, wobei sich meine bis dahin kindlich stolze und schwärmerische Verehrung zusehends abkühlte. Der Tag, der hierbei den ersten, entscheidenden Einschnitt brachte, steht deutlich vor meinem inneren Auge.

Etwa zehnjährig erlebte ich den Triumphzug, mit dem mein Vater seinen Sieg über Antonius und Kleopatra feierte. Als unter dröhnendem Hörner- und Tubengeschmetter die kostbaren Beutestücke aus Alexandria an uns vorbeigetragen wurden, Schätze von einem Luxus und einer Pracht, wie sie in Rom bis dahin unbekannt gewesen waren, klatschte und schrie ich zunächst, fast berstend vor Stolz und angesteckt von der mitreißenden Begeisterung und dem tobenden Beifall und Jubel, in der Menge mit – vor allem, als ich erfuhr, Kleopatra habe alle diese Schätze, die edelsten, reichsten Weihgeschenke und Prunkstücke, aus ihren Palästen und Tempeln in ihrem Grabmal aufgehäuft, um für den Fall ihrer Niederlage meinen Vater günstiger zu stimmen. Ausgerechnet meinen Vater, den ich dafür bewunderte, dass er sich weder durch Bitten noch durch Gefühlsregungen von einem einmal gefassten Vorhaben abbringen lässt. Da Kleopatra sich dann aber nach dem Scheitern all ihrer Hoffnungen und nach dem Tod des Antonius durch einen Schlangenbiss selbst getötet hatte, konnte mein Vater sie nicht als lebende Beute in seinem Triumphzug mitführen. Deshalb ruhte nun ein ihr ähnliches, wunderschönes Wachsbild auf dem gold- und purpurgeschmückten Wagen, der den Schätzen folgte. Neben dem Wagen aber schritten langsam mit niedergeschlagenen Augen und erhobenen Köpfen ihre Kinder Helios und Selene. Der Schmerz und die stolze Haltung der beiden beeindruckten mich tief und ließen mich innehalten. Ich fragte den neben mir stehenden Jullus nach den Lebensumständen der beiden Kinder.

Und nun erfuhr ich die Hintergründe dieses Sieges und die Vorgeschichte dieses Triumphzuges. Umgeben von lauter Jubelwütigen, berichtete Jullus mit vorsichtig gedämpfter Stimme, wie mein Vater nach dem Seesieg bei Actium mit den Besiegten verfahren war. Sein erstes Opfer war der Sohn Caesars und Kleopatras, Caesarion. Die Rechte und Ansprüche von Caesars Sohn hätten meinen Vater als Erben Caesars unweigerlich in die zweite Reihe verwiesen. Jullus schloss seinen Bericht mit den knappen Worten: „Und so ließ er Caesarion ermorden.“ Ich hatte zunächst Verständnisschwierigkeiten: „Der Rächer Caesars ermordet Caesars Sohn?“, was Jullus bitter lächelnd kommentierte: „Der adoptierte Sohn ermordet den leiblichen Sohn.“

Auch Jullus’ älteren Bruder Antyllos, den ältesten Sohn von Antonius und Fulvia, hatte mein Vater umbringen lassen. Antyllos hatte zusammen mit dem jungen Caesarion soeben die Männertoga angelegt. Deshalb galt er meinem Vater wohl als der geborene Rächer des besiegten Antonius. Dass er mich als Zweijährige einst mit Antyllos verlobt hatte, um das zeitweise Bündnis mit Antonius zu beglaubigen, scherte ihn dabei natürlich nicht. Auch mich nicht; ich hatte Antyllos nie gesehen. Aber Octavia – sie hatte ja nicht nur dazu herhalten müssen, das Scheinbündnis der beiden Rivalen durch ihre Ehe mit Antonius zu besiegeln. Sie hatte wiederholt und mit großem persönlichen Einsatz zwischen ihrem Bruder und ihrem Mann zu vermitteln versucht. Für sie bedeuteten der Tod des Antonius und die Ermordung dieser jungen Männer einen nie verwundenen Schmerz. Aber gerade die nächsten Verwandten sind für meinen Vater nur Spielsteine, die er nach Belieben auf einem Brett hin- und herschiebt in einem Spiel, das – jedenfalls bisher – immer in seinem Sinne verläuft.

Julia

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