Читать книгу Die letzte Beichte von Maria Magdalena - Tullio Aurelio - Страница 9
Satan und Jesus
Оглавление„Von Jesus hast du die ganze Zeit nicht gesprochen“, sprach Maria Magdalena weiter. „Bei deiner Beschreibung der zwei Hälften des Universums, der einen Hälfte, in der Gott herrscht, und der zweiten Hälfte, in der du deine erloschene Fackel im Dunkel herumträgst, hast du seinen Namen vergessen, oder vielleicht verschwiegen, weil er dir wohl Schwierigkeiten bereitet. Was denkst du über ihn?“
Satan, der einstige Luzifer, mit dem Familiennamen Dämon, ‚Teufel’ im Volksmund, und dem Vornamen Beelzebub, hatte Jesus gar nicht vergessen, eher verdrängt und verschwiegen. Er war sich, als Jesus in Palästina lebte, lange nicht sicher gewesen, wer Jesus wirklich war. War er wirklich der Messias, ein Prophet, sogar ein Sohn Gottes?
Er antwortete Maria Magdalena, er hätte damals ihre gleichnamige Maria von Magdala gefragt, ob sie schon mal von diesem Jesus gehört hätte. Ja, sie hätte von ihm wohl gehört, gesehen hätte sie ihn aber noch nicht, er wäre noch nicht hier vorbei gekommen und deshalb hätte sie noch nicht das Vergnügen gehabt, ihn kennenzulernen.
„Aber du kennst ihn wohl sehr gut. Seit einiger Zeit flirtest du in deinem Florentiner Kloster mit ihm“, grinste der Teufel Maria Magdalena an. „Du nennst ihn deinen Gott und deinen Freund, ja deinen Gemahl.“
„Das ja, ich dachte aber, du könntest über ihn aus der Zeit reden, als er in Palästina lebte“, wendete Maria Magdalena ein.
„Es gibt komplizierte Persönlichkeiten. Ich zum Beispiel bin ich eine solche, weil keiner genau weiß, woran man bei mir ist“, sagte der Teufel. „Und du bist auch eine solche Persönlichkeit. Mal bist du die Karmelitin Maria Magdalena, mal Maria von Magdala? Jesus war auch nicht ganz einfach einzuordnen. Es war für mich schwierig zu sagen, was Jesus wirklich war. Damals war es so. Heute habe ich wohl eine Meinung über ihn. Auch der Teufel kann sein Wissen im Laufe der Zeit erweitern, wenn er zielstrebig nach der Wahrheit sucht.
Fangen wir damit an: Dieser Jesus ging mir zu Beginn unserer Bekanntschaft wegen der Angeberei seiner Mitläufer einfach auf die Nerven. Ich dachte: Die Menschen betrachten ihn als Propheten, sogar als einen ‚Sohn Gottes’, also als einen Bruder von mir — da wären wir also wenigstens zu zweit. Er verspricht, die Welt vom Bösen zu befreien — und er meint bestimmt hauptsächlich mich. Soll er es nur versuchen. Nach der bestehenden Weltordnung — sollte er tatsächlich ein anderer Gottessohn und im Auftrag meines Gegenspielers tätig sein — wäre er dann in die mir zugedachte Hälfte des Universums, in die Hemisphäre der Finsternis, eingedrungen.
Um mehr über ihm zu erfahren, habe ich ihn, als er gemächlichen Schritts durch die Gegend lief und mit mächtigem Mundwerk den Zuhörern, die ihm zujubelten, Glück und Seligkeit versprach, auf die Probe gestellt.“
Der Teufel erzählte Maria Magdalena, wie er Jesus in Versuchung bringen wollte. Dreimal, an drei verschiedenen Stellen versuchte er das.
„Das erste Mal war es in der Wüste, nachdem Jesus vierzig Tage lang gar nichts — nicht mal Manna — gegessen hatte. Ich forderte ihn auf, Steine zu Brot zu verwandeln. Er hatte sich ja vor seinen Jüngern gebrüstet, er könnte es. Und später soll er es auch theatralisch vorgeführt haben, um seinen hungrigen Zuschauer zu essen zu geben und sie damit zu beeindrucken. Weil er aber von mir, vom Dämon, wie mich die Leute dort nannten, keine gute Meinung oder gar keine große Ahnung hatte, stellte er sich auf die Hinterbeine. Er wollte nicht richtig auf meine Frage eingehen.
‚Nicht von Brot allein lebt der Mensch’, weissagte er. Als ob ich, Satan, wie er mich selbst nannte, das nicht wüsste. Ich habe nie einen Brotkrümel zum Überleben gebraucht. Aber ich dachte, wenn er der ist, für den ihn seine Zuhörer halten, dann müsste er von mir wohl eine Ahnung haben. Wenn er sogar ein Sohn Gottes ist, dann müsste er wohl wissen, dass ich auch einer bin. Es wäre interessant, wenn man sich nicht mal in derselben Familie kennen würde. Offensichtlich aber ahnt er gar nicht, dass ich sogar ein älterer Sohn Gottes und sein älterer Bruder sein könnte. Man erzählt sich von mir, dass ich, der Lichtträger Luzifer, vom Himmel gefallen sein. Ich soll ein gefallener Engel sein — und trotzdem bin ich immer noch ein Engel.
Warum gibt Jesus so an, fragte ich mich. Er wird Gottes Sohn genannt und ‚Licht der Welt’. Anscheinend sind mehrere Gottessöhne oder Söhne Gottes Lichtträger, oder vielleicht hat sich Gott nach meinem Hinsauwurf aus seinem Reich einen neuen Lichtträger gesucht. Wenn er tatsächlich das Licht der Welt ist, dann ist auch er ein Luzifer. Jesus, ein Luzifer! In deinen Ohren mag es blasphemisch klingen. Aber das entspräche wohl den Tatsachen. Man erzählte, dass er vom Himmel herabgestiegen sei, um das Licht Gottes in die Welt, also in meine Finsternis, zu bringen. Er soll zwar nicht wie ich heruntergestürzt worden sein, er soll herabgestiegen sein. Gleichwohl wären wir beide Engel und Gottessöhne, die nicht mehr im Himmel weilen, sondern uns in der dunklen Seite des Universums herumtreiben.
Sollte er tatsächlich ein Gottessohn sein, dachte ich, also ein Engel, dann muss er sich, anders als ich, eine Fleischhülle zugelegt haben, die ich nicht habe, denn aussehen tut er keinesfalls wie ein Engel. Und seine Fleischhülle macht ihn, ich muss zugeben, gar nicht hässlich, im Gegenteil, es gibt viele Frauen, die von ihm angetan sind. Aber seitdem er in dieser Fleischhülle durch die Welt läuft, ist er mächtig gehandicapt: Er kann nicht überall sein wie ich, und er hat nur zwei Augen zum Lesen und zum Sehen, der Arme!
Platon meint, wenn eine geistige Idee — in unserer Sprache: ein Engel vom Himmel — herunter kommt, fühlt sie sich wie in einem Gefängnis, und ihren irdischen Zustand empfindet sie wie eine Strafe. Vielleicht kannte Jesus Platon gar nicht, obwohl dieser lange vor ihm gelebt hat. Aber Platon scheint den Zustand, in dem sich Jesus befindet, gut zu beschreiben: Ein Engel in einem Gefängnis aus Fleisch — wenn er überhaupt ein Engel, ein Gottessohn war, was ich ja herauszufinden versuchte.
Jesus hatte also keinen Grund, so anzugeben, meinte ich. Wenn er jetzt hier in einem Fleischkloß weilen muss, ist er, zwar anders als ich, auch bestraft worden. Mir scheint es, er ist sogar noch härter bestraft worden als ich. Jedenfalls hatte er es nicht besser als ich.
Ich wollte eben wissen, ob er nach vierzig Tagen Fasten Brot brauchte. Nein, er brauchte keins. Nach vierzig Tagen Fasten bekommt er keinen Hunger — ein Zeichen, dass er die Fleischhülle nur zum Schein herumträgt. Er ist ein Geist wie ich und hat nur zum Schein gefastet. Oder er hat nur vorgegeben, dass er nicht vom Brot, sondern vom Wort Gottes satt werden kann, und später, wenn er mich los hatte, wie sonst oft Brot und Fisch gegessen hat. Ich hatte ihn in eine Falle locken wollen, aber er ließ sich davon nicht beeindrucken. Ich wusste also genau so viel wie davor.
Ich versuchte es anders. Eitelkeit ist keine rein menschliche Eigenschaft, auch Engel sind davon nicht gefeit. Mir zum Beispiel hat man sie oft vorgeworfen: Ich sei stolz und eitel, deshalb hätte ich gegen Gott rebelliert. Totaler Unsinn! Aber natürlich bin ich doch manchmal eitel, muss ich zugeben. Also versuche ich, Jesus von dieser Seite zu packen, seine Eitelkeit zu kitzeln. Ich brachte ihn flugs auf die Zinne des Tempels Jerusalems und flüstere ihm ins Ohr: ‚Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, wie manche von dir behaupten — zugegeben, das kommt nicht von dir, aber du widersprichst dem Palaver auch nicht —, dann stürze dich von hier herunter auf den Tempelvorplatz. Ich bin mir sicher, dass dein und — wenn du erlaubst — mein Vater im Himmel, schleunigst Engel schicken wird, um dich auf Händen herunter zu tragen.’
Es klappte wieder nicht. Er sagt weder ja noch nein dazu. Es bleibt immer noch alles offen: Ist er nun ein Gottessohn oder nicht? Ist er ein Engel in einer Fleischhülle oder ist er ein gewöhnlicher Mensch? Auch da weder eine positive noch eine negative Antwort. Er antwortet sibyllinisch: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen’. Wen meinte er mit ‚dem Herrn, deinen Gott’? Sich selbst oder Gott im Himmel?
Wie steht es mit der Macht? Kann man ihn eher damit korrumpieren? Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass auch den Geistern, auch uns Engeln, der Geschmack der Macht nicht abgeht. Macht regiert die Welt, und zwar nicht nur die für euch Menschen sichtbare, sondern die ganze Welt, die sichtbare und die unsichtbare, dieses und alle Paralleluniversen. Seit Anbeginn beanspruchte Gott die Macht über alles. Deshalb revoltierte ich, und deshalb wurde ich aus Gottes Hof hinausgeworfen. Seitdem versuche ich, meinen Machtbereich zu erweitern, Stück für Stück Gott Macht zu entreißen. Mit gutem Erfolg, aber bisher eigentlich ausschließlich bei den Menschen. Das scheint aber Gott gar nicht gleichgültig zu lassen.
Die Frage war also: Spürt Jesus den Appeal der Macht? Er hätte mir nur ein kleines Zeichen geben sollen: eine kleine Kniebeugung als Zeichen der Huldigung. Keiner hätte es bemerkt, so, ganz oben auf dem hohen Berg, auf den ich ihn getragen hatte. Aber auch das interessierte ihn nicht. Zwar sagte er, die Macht und die Herrlichkeit gehören nur Gott und huldigen sollte man nur Gott, aber ich hatte den Eindruck, die Begründung war vorgeschoben. Er wollte einen Wall zwischen mir und ihm bauen. Er wollte sich selbst zwischen mich und Gott setzen und mir die Vorherrschaft in dieser Welt und in den Herzen der Menschen streitig machen. Ein ganz harter Knochen, dieser Jesus.
Ich nahm die Herausforderung an. Leicht zu nehmen ist auch Satan nicht.
Dostojevski schildert in einer eindrucksvollen Erzählung, dass Jesus, einige Zeit vor deiner Geburt in Florenz, wieder auf die Erde gekommen sei und in Spanien vor dem Großinquisitor nach alter Manier einige Wunder gewirkt habe. Er soll zum Beispiel die Tochter von einem einflussreichem Mann mit den gleichen Worten geheilt haben, die er in Palästina für die Auferweckung der Tochter des Jairus verwendet hatte: Talita Kumi ...“
„Steh auf, Mädchen“, unterbrach ihn Maria Magdalena. „Das heißt ja wohl dieser Spruch. Warum weiß ich nichts davon, dass Jesus kurz vor meiner Geburt dieses Wunder gewirkt hat? Er hat mir nichts davon erzählt. Und die Geschichte hatte ich auch nirgendwo gehört oder gelesen.“
„Das ist russische Fiktion“, sagte der Teufel. „Du hast aber wohl Recht. Du kannst diese Geschichte gar nicht kennen und ihren Autor auch nicht. Die Geschichte hat nie wirklich stattgefunden, Dostojevski hat sie erfunden. Dostojevski wird erst im neunzehnten Jahrhundert geboren werden, und du lebst erst im sechzehnten. Er stellt sich vor, dass Jesus gegen das Unrecht der Inquisition, von der du wohl bestimmt gehört hast, ein Zeichen setzen wollte. Typisch Jesus: Er setzt Zeichen. Er löst keine Probleme, aber er setzt Zeichen. Also Jesus geht nach Sevilla und wirkt Wunder. Eines erreicht Jesus, wie einst in Palästina: Die Umstehenden gerieten zuerst in Erstaunen, dann in Jubel.
Der Großinquisitor ließ es sich aber nicht länger bieten, dass Jesus bejubelt wurde. Er fühlte sich bei seiner Arbeit gestört, fürchtete, dass die Menschen bald nicht mehr ihm folgen, sondern Jesus. Er ließ ihn kurzerhand gefangen nehmen. Im Gefängnis besucht er ihn und wirft ihm Ordnungsstörung vor. Das zieht bei der Inquisition normalerweise die Todesstrafe mit sich. Er soll nicht glauben, er könne die Menschen so an sich ziehen wie in Palästina, damals sei er ein Naivling gewesen, aber nun soll er endlich aus seinen Träumereien erwachen. Für die Menschen sei nicht die Freiheit oder die Moral wichtig, sondern das Brot. Er soll es endlich kapieren. Gib den Menschen Brot, meinte der Großinquisitor, und sie werden dich anbeten.
Irgendwie wusste der Großinquisitor von den Versuchungen, denen ich Jesus unterzogen hatte, denn er sagte zu Jesus, hätte er damals in der Wüste Steine in Brot verwandelt, dann hätte ihm die ganze Welt gehorcht.
Dostojevski hat meine Absicht bei den drei Versuchungen allerdings falsch gedeutet, mit Sicherheit absichtlich, um der Intention seiner fiktiven Erzählung zu dienen. In Wirklichkeit ist Jesus nach seinem Tod nirgendwo wieder aufgetaucht. Und damals, zu seiner Zeit in Palästina wusste er genau, wann er Steine in Brot verwandelt musste. Nebenbei: Er hat auch Wasser in Wein verwandelt. So erzählt man es sich.
Nein, naiv war er nicht, ganz schön gerissen war er sogar. Bei meinen Versuchungen ging es mir darum, zu erfahren, mit wem ich es zu tun hatte. War er nun ein Gottessohn oder nicht? Er gab mir keine Antwort. Und vielleicht wusste er es auch nicht.“
„Wäre ich du, wäre ich mir nicht ganz sicher, dass Jesus nach seinem Tod nicht mehr auf Erden gewesen ist. Ich kann dir das Gegenteil beweisen“, unterbrach ihn Maria Magdalena.
„Ich kenne deine Bettgeschichten mit dem lieben Jesus“, grinste Satan. „Ich muss dir beichten, ich habe oft — als Geist kann ich überall sein, wo ich will — neben deinem Bett gestanden, um Jesus bei dir zu erwischen, gelungen ist es mir bis heute nicht. Ich habe meine Theorie, um mir diese Visionen zu erklären, aber wir kommen bestimmt darauf zurück. Nur eine Bemerkung dazu: Frauen wie du — denn es sind meistens Frauen, die solche Visionen haben — werden entweder als Heilige, meistens aber als Hexen betrachtet, und Hexen werden von der Inquisition verfolgt, die sich auch heilig nennt.
Das Wort ‚Heilig’ im Zusammenhang mit dem Wort ‚Inquisition’ schreiben die Menschen im Übrigen mit einem großem H. Ich verrate dir ein Geheimnis, das nur ein Teufel kennen kann: Wenn die Menschen das Wort ‚Heilig’ mit dem großen H schreiben, dann glauben die Menschen selbst nicht, dass die Personen oder die Institutionen wirklich heilig sind. So zum Beispiel ‚Der Heilige Stuhl’. Wie kann ein Stuhl heilig sein, auch wenn darauf der Heilige Vater sitzt. Im Übrigen schreibt man ‚der Heilige Vater’ auch groß. Das schreibt man so, auch wenn man von Alexander VI. spricht, obwohl viele ihn für einen Teufel, hm, für mich halten! Bei den vermeintlich richtigen Heiligen, wie der heilige Franz von Assisi, schreiben die Menschen ‚heilig’ klein.“
„Sehr scharfsinnig deine feine Differenzierung zwischen dem großen und dem kleinen H. Du hast ja anscheinend mit den Heiligen viel gemein, natürlich mit dem großen H“, unterbrach Maria Magdalena die lange Rede des Satan, fürchtete aber gleichzeitig, dass jedes weitere Wort von ihr eine weitere lange Geschichte des Teufels provozieren könnte. „Dostojevski kenne ich nicht. Du hast Recht. Ich muss ihn auch nicht kennen. Ich kenne Jesus. Er ist weder mit einem kleinen noch mit einem großen H heilig. Er ist das Heilige selbst, wie Gott, denn er ist sein Sohn.“
„Ich komme auf deinen Einwand gern zu sprechen zurück“, erwiderte Satan, „möchte aber kurz meinem Gedankengang abschließen.“
„Ob Jesus ein Sohn Gottes war: das wollte ich herausfinden, als ich ihn auf die Probe stellte“, folgte Satan seinem Gedanken weiter. „Mein Interesse war doppelt begründet. Alle Engel und alle Boten Gottes sind Gottessöhne. Ursprünglich war ich selbst beides. Nun bin ich kein Bote Gottes mehr, weil er mich nicht mehr in Anspruch nimmt, aber ein Engel bin ich immer noch. Hätte Jesus gemeint, dass er ein Gottessohn war, dann hätte ich gewusst, dass er ein Bote Gottes oder sogar ein Engel war. Dann hätte ich gewusst, dass er mein Konkurrent war, und hätte mich auf Kampf eingestellt. Leider habe ich von ihm nichts herausbekommen ...“
„Jetzt weißt du es aber besser: Es gibt nur einen Gottessohn“, unterbrach Maria Magdalena den Teufel. „Das ist Jesus Christus, die zweite Person der Dreifaltigkeit.“
„Amen!“, rief Satan dazwischen. „Noch bevor Jesus geboren wurde, gab es in fast allen Religionen Gottessöhne. Mal entstanden sie aus der Vereinigung von Göttern und Menschen, wie etwa die, die im Buch Genesis erwähnt werden, mal waren sie Statthalter des Sonnengottes auf Erden ... Man könnte sogar behaupten, es gab und es gibt keine Götter ohne Gottessöhne. Die Götter sind diesbezüglich, und nicht nur diesbezüglich, Widerspiegelungen der Menschen. Die Menschen fabrizieren sich Götter und deren Söhne und Töchter selbst. Der Glaube, dass es nur einen Sohn Gottes gibt, ist nur geringfügig älter als du, liebe Maria Magdalena.“
„Aber wozu brauchen Götter Söhne?“, fragte Maria Magdalena.
„Du stellst eine ganz gefährliche Frage“, sagte der Teufel, „denn damit stellst du indirekt auch die Existenzberechtigung Jesu als Gottessohn in Frage. Da könnte dir die allgegenwärtige Heilige Inquisition auf die Pelle rücken. Überlass es mir, deine Frage genauer zu formulieren. Die Heilige Inquisition kann mich nicht verbrennen. Ich brenne schon seit einer Ewigkeit im Höllenfeuer. Also wozu braucht Gott Söhne? Damit stelle ich nicht nur in Frage, dass Jesus oder ich Gottessöhne sind, ich frage, ob es überhaupt Gottessöhne gibt. Meine Antwort? Gott braucht keine Gottessöhne, die Menschen brauchen sie. Soll ich meine Theorie weiter ausführen?“
„Ich bin ganz Ohr“, sagte Maria Magdalena.
„Dostojevski ist einer der besten Schriftsteller, die ich kenne“, begann der Teufel seine Ausführung.“
„Unser Teufelchen liest auch Bücher“, scherzte Maria Magdalena.
„Es ist eine ganz neue Leidenschaft von mir“, bestätigte Satan. „Die Geschichte vom Großinquisitor befindet sich in seinem Roman ‚Die Brüder Karamazov’, der sich auch mit einem anderen wichtigen Thema beschäftigt: Die Brüder Iwan und Aljoscha debattieren, wie Gott, wenn es einen gibt — aber daran zweifelt Iwan gar nicht —, das Böse in der Welt erlauben kann. Iwan, ein zweifelnder Intellektueller, aber keinesfalls ein Teufel, stellt seinem Bruder Aljoscha, der ein sogenannter geweihter Mann, also ein Mönch, ist, diese Frage. Iwan glaubt an die Existenz Gottes und sogar an meine Existenz. Iwan möchte verstehen, wie Gott es sich leisten kann zuzuschauen, dass ein unschuldiges Kind gequält und ermordet wird. Bruder Aljoscha kennt keine Antwort. Geweihte Menschen scheinen es nicht besser zu wissen als die Zweifler.
Gott und das Böse — das ewige Thema, mit dem sich die Menschen seit der Geburt des ersten von ihnen befassen. Adam, Eva und die Schlange. Die Geschichte kennst du bestimmt. Man kann behaupten, das Thema ist ein ein immer wiederkehrendes Leitmotiv in der Geschichte der Menschheit. Nicht nur die Philosophen sind sich uneins, auch die Religionen geben unterschiedliche Antworten. Es gibt sogar Religionen, die behaupten, dass in Gott selbst das Gute und das Böse verankert sind, und dass beides von ihm stammt, er sei eins mit seiner Schöpfung. Nach dieser Auffassung wäre Gott alles in allem, in dir, in der Kuh, im Baum, in Papst Alexander VI. und sogar in mir. Gott wäre in mir, Satan, anwesend. Er wäre sozusagen Gott und Teufel zusammen.“
„Du sollst nicht blasphemisch werden“, schrie fast Maria Magdalena.
„Ich kann es mir wohl erlauben. Schlimmeres kann man mir nicht antun, als man mir schon angetan hat.
Die Religion, die dich geprägt hat, vertritt hingegen eine einfache, klassische Lösung, die auch für Hirne, die nur Schwarz und Weiß wahrnehmen können, verständlich ist: Gott ist das Gute in Person, er hat die Menschen und die Welt erschaffen, er hat dabei alles perfekt gemacht, er hat für alles und alle vorgesorgt. Leider hat er den Menschen auch die Freiheit geschenkt. Das war eventuell sein einziger Fehler, oder er wollte in seiner unergründlichen Weisheit die Menschen auf die Probe stellen.
Und diese Freiheit hat die Menschen ins Verderben geführt. Natürlich nur indirekt, denn es war die Schlange, Satan, der ewige Gegner Gottes, also ich, der die Menschen zum Ungehorsam gegen Gott verführt hat. Und ich soll nicht nur Adam und Eva verführt haben — ich soll mich zu diesem Anlass als Schlange verkleidet haben —, ich verführe die Menschen immer wieder, jeden Tag und ohne Unterlass. Die Menschen sind zwar frei, aber leider schwach, und ich nutze ihre Schwäche aus, um sie zum Ungehorsam gegen Gott und zum Bösen zu verführen. Dadurch kommt das Böse in die Welt.
Diese Vorstellung haben die Christen vom Judentum übernommen. Dabei stellen sich weder die Juden noch die Christen die entscheidende Frage, warum in der guten Welt Gottes ein böser Geist wie ich existiert. Bin ich auch Teil seiner Schöpfung, dann hat er nicht alles gut gemacht. Bin ich nicht Teil seiner Schöpfung? Dann ist er nicht Gott des ganzen Universums.
Wie auch immer, die Christen haben auch heute noch eine sehr einfältige Vorstellung des Universums. Oben ist der Himmel, hier ist die Erde, und unterhalb der Erde ist die Unterwelt. Gott wohnt im Himmel, die Menschen sind hier, und Gott hat mich in die Hölle geschickt.“
„Warum soll diese Vorstellung des Universums einfältig sein?“, fragte Maria Magdalena. „Seit Jahrtausenden wissen die Menschen um diese Dreiteilung des Universums. Und wir wissen auch, dass die Erde und mit ihr der Mensch die Mitte des Universums darstellt. Noch vor kurzer Zeit hat Galilei, ein renommierter Wissenschaftler aus unserer Gegend, versucht, eine neue, gefährliche Sicht des Universums durchzusetzen. Er meinte, nicht die Sonne kreise um die Erde, sondern umgekehrt die Erde kreise um die Sonne. Das war eine gefährliche Ansicht, weil dadurch der Mensch nicht mehr die Mitte des Universums wäre, sondern ein durch das Universum getriebenes Wesen wie die toten Sterne. Ein Glück, dass er sich später wieder der Meinung der Theologen angeschlossen hat, dass das, was in der Bibel steht, der Wirklichkeit entspricht. Wir machen uns durchaus Gedanken über die Welt, und unsere Vorstellungen des Universums sind nicht so einfältig, wie du meinst.
Gott wohnt im Himmel. Aber Gott ist Geist, und der Himmel Gottes ist nicht der Himmel der Sterne. Der Himmel, in dem Gott wohnt, ist weiter weg, unerreichbar. Im Übrigen müsstest du am besten wissen, wo der Himmel Gottes ist, denn du wurdest doch davon verbannt.“
„Müsste ich wissen. Da hast du Recht. Aber anscheinend wissen es die Menschen besser als ich“, antwortete Satan. „Der Himmel, in dem Gott wohnt, soll sich also oberhalb oder außerhalb des Raumes befinden, in dem sich Sterne und Planeten bewegen, denn sie sind alle seine Geschöpfe und Gott vermengt sich ungern mit den von ihm erschaffenen Wesen.
Du musst zugeben, diese gängige Darstellung des Universums mit einem guten Gott in seinem eigenen Himmel, einem bösen Teufel und den armen Menschen, die zwischen Gut und Böse hin und her gerissen werden, ist primitiv und einfältig und sie vermag das Problem des Bösen nur scheinbar zu lösen. Diese Darstellung bringt sogar Gott in eine schwierige und nachteilige Lage: Er bleibt in seinem Himmel und kann bei den Menschen nicht direkt wirken, wie der Teufel. Also muss er Gesandte auf die Erde schicken, die seine Anweisungen befolgen und das tun, was er wegen seiner Entfernung von dieser Welt, nicht selbst erledigen kann.
Diese naive Sichtweise der Welt steckt auch in deinen Kopf, wenn du ehrlich bist. Versuche selbst, eine Antwort zu finden auf die Frage: Wozu braucht Gott Engel, Abgesandte, Propheten, Söhne? Die Antwort ist: Weil der Mensch meint, Gott lebe abgeschottet in einem fernen Himmel und kommuniziere nicht gern selbst mit euch.
Andererseits glaubt ihr gleichzeitig, Gott sei überall, im Himmel und auf der Erde. In diesem Fall ist die Frage, wozu Gott Gottessöhne und Abgesandte braucht, umso berechtigter: Wenn er überall ist, dann wäre es für ihn doch einfach, direkt Einfluss zu nehmen, anstatt andere zu schicken.
Ich will mich einmal wiederholen: die radikale Meinung, dass Gott in allem sei, finde ich faszinierend, auch wenn sie die Frage nach dem Bösen nicht löst. Denn dann ist er auch in mir. Ich bin Teufel und Gott, Satan und Gegensatan, Gott und sein Widersacher. Nach dieser Ansicht stammten das Böse und das Gute beide von Gott.“
„Ich kann wenig dazu sagen“, antwortete Maria Magdalena. „Mein bisheriges Leben war zu kurz, um solch grundlegende Überlegungen anzustellen. Ehrlich gesagt, Gott ohne Jesus würde mir nicht reichen. Und ich sage dies nicht nur, weil sich Jesus mir liebevoll zuwendet. Wir Menschen sind doch aus Fleisch und Blut, und selbstverständlich brauchen wir Gott als Grund unseres Daseins, aber wir brauchen ihn auch als leiblichen Ausdruck, damit er mit uns kommunizieren kann. Wäre er nur Geist, dann wären wir Menschen ewig unsicher, ob wir mit Gott oder mit uns selbst reden. Deshalb bin ich froh, und das werden alle Christen bestätigen können, dass uns Gott Jesus, seinen Sohn, geschenkt hat, der als Gott Fleisch angenommen hat, mit einem menschlichen Mund uns den Willen Gottes verkündet hat und uns in der Eucharistie seine ewige Gegenwart in der Welt geschenkt hat.“
„Wunderbar!“, erwiderte Satan. „Seit Stunden rede ich mit dir. Ich bin auch nur Geist. Zweifelst du etwa, dass ich mit dir rede?“
„Manchmal schon“, bestätigte Maria Magdalena. „Das ist durchaus der Fall. Bei dir wäre ich aber nicht ganz traurig, wenn du nicht da wärest. Bei Gott doch wohl.“
„Meine Meinung ist: Wenn Gott überall ist, dann braucht er keine Engel und keine Söhne zu schicken. Auch Jesus nicht.
Zu der Zeit, als Jesus in Palästina lebte, geschah allerdings etwas Merkwürdiges. Die halbwegs friedliche Teilung des Universums zwischen Gott und mir wurde irgendwie aufgehoben. Bisher hatte ich immer wieder versucht, Gott Menschenseelen zu entreißen und sie in mein Reich zu bringen. Das Prinzip war klar: Der helle Teil des Universums gehört Gott, der finstere mir. Gott beanspruchte zwar auch meine Aktionssphäre, aber der Anspruch blieb bislang rein theoretischer Natur. Ich konnte mich bewegen, wie ich wollte, durfte es aber nicht wagen, in die Hemisphäre Gottes einzudringen. So wie auf der Pforte des Gartens Eden hatte Gott auch am Himmelstor seine zahlreiche Engelschar aufgestellt. Warum den Frieden stören? Viele Jahrtausende verlief alles auf der Basis einer bewaffneten, aber friedlichen Koexistenz. Bis Jesus auf der Erde erschien. Es entstand da ein regelrechtes Durcheinander.
Wie bereits erzählt, er tauchte in einer Fleischhülle in meinem Reich auf. Ich war mir zwar sicher, dass er ein ganz normaler Mensch war. Und er war nur das, darauf wette ich. Aber viele, die mit ihm zu tun hatten, fingen an, ihn zu idealisieren. Es begann damit, dass er als Prophet angesehen wurde, dann als Messias. Als er starb, schworen viele, dass er wieder oder weiter lebte, Maria von Magdala hätte ihn wieder gesehen, dann die Apostel, dann viele andere. Die alleingelassene Jüngerschar brauchte einen neuen Glauben, um fortbestehen zu können, und zwar abseits und gegen das alte Israel. Jesus wurde plötzlich zum alleinigen Gottessohn, zum Herrn. Und es entstand ein fürchterlicher Kampf zwischen seinen Anhängern und mir.
Der alte Glaube, dass ich, der Teufel, an allem Bösen schuld sei, erwachte zu neuer Stärke. Jesus, der Gottes Sohn, musste kommen, um die Menschen von der Sünde von Adam und Eva zu erretten. Denn durch diese Sünde waren das Böse und der Tod in die Welt gekommen. Und wer hatte die Menschen zu dieser Sünde verführt? Natürlich ich. Der fleischgewordene Sohn Gottes musste in den finsteren Teil des Universums, in meinen Teil, wo auch die sündige Menschheit lebte, kommen und Licht hineinbringen. Jesus ist plötzlich der neue Luzifer, der Fackelträger Gottes, während ich, der wahre Luzifer, der Prinz der Finsternis wurde. So gründlich haben sich die Verhältnisse verändert.
Dem harmlosen Ungehorsam von Adam und Eva maß Gott ein solches Gewicht bei, dass Jesus sterben musste, um die Sünde aus der Welt zu tilgen. Und wer hat den Tod Jesu verursacht? Am Anfang der Welt soll ich Adam und Eva verführt haben. Beim letzten Abendmahl soll ich Judas dazu verführt haben, Jesus zu verraten.
Man sieht schon: Die Menschen achten nicht auf die Logik: Wenn es stimmt, dass ich Judas dazu verführt habe, Jesus zu verraten, und wenn dieser Verrat zum Tod Jesu führte, der wiederum die Menschheit von der Erb- oder Ursünde erlöst hat, dann habe ich eigentlich eine riesige gute Tat vollbracht: Ich habe dafür gesorgt, dass die Sünde der Menschheit getilgt wird. Und was tun die Menschen? Sie vermaledeien mich vom Morgen bis zum Abend und bekämpfen mich.
Dieser Kampf wurde zeitweilig sehr blutig, aber er wurde nicht zwischen Jesus und mir ausgetragen, denn wir zwei haben uns zeit seines Lebens respektiert, und seit seinem Tod habe ich ihn nicht mehr gesehen. Der Kampf wurde zwischen den Menschen, die zu Jesus hielten, und den Menschen, die angeblich auf meiner Seite standen, ausgetragen.
Fort war die Koexistenz zweier getrennter Hemisphären. Ich musste sehr darüber staunen, dass die Menschen, aufgrund eines neuen Glaubens, dazu fähig wurden, sich gegenseitig mitleidlos zu schlachten, beim Versuch, mich — den Teufel — zu vernichten. Aber es gelang ihnen bisher nicht, so sehr sie sich anstrengen. Ich erzähle dir einige interessante Geschichten.“