Читать книгу Das Vermächtnis des Heilers - Tuya Salina - Страница 5

Erster Teil 1

Оглавление

Baden, an einem Vorfrühlingstag des Jahres 1993: Ich sitze im »Buvette«, dem Bahnhofsrestaurant, und warte auf meinen Kaffee und meinen Zug. Die meisten Leute, die hier rumhängen, sind nicht der Bahn wegen hier. Ihre Reisepläne beschränken sich auf das Studieren der bunten Plakate in den Schaufenstern von Ferienveranstaltern oder der Postkarten, die, hinter dem Tresen an die Wand gepinnt, von anderen Welten künden. Vom Alkohol zerfurchte Gesichter schweben im Zigarettenqualm über den großen Kübeln Bier. Am Spielautomaten kämpft sich ein verkrampftes Wesen durchs hoffnungsvolle Rattern und Klingeln der neckisch bunten Anzeigen, die Gewinn versprechend anzüglich blinken.

Die Blicke der Anwesenden schweifen immer wieder kurz vom Spielenden zu mir herüber. Die Gesichter sind mir nicht unbekannt, und so bin ich mir sicher, dass auch sie mich schon des Öfteren bemerkt haben, schließlich wohne ich schon seit etlichen Jahren hier in der Stadt, und – mein Gesicht vergisst man nicht so leicht. Sobald ich ihre Blicke erwidere, zucken sie schnell wieder in die Betrachtung ihrer Biere zurück, verschreckt durch meinen grüngoldenen Silberblick. Es macht mir nichts aus, dass mich die Leute anstarren. Ich habe mich daran gewöhnt und nehme es ihnen nicht übel. Ich kann die geile Anziehungskraft verstehen, die das merkwürdige Narbengeflecht bei ihnen auslöst, das meine Gesichtszüge merkwürdig entstellt. Die Narben lassen mein Gesicht aussehen, als ob nicht alles an dem Platz liegt, an dem es liegen sollte. Mich selbst erinnern die Andenken meiner gefährlichen Kindheit an Stammeszeichen ehrwürdiger Krieger. Mein silberweißes Haar, das federngleich bis zu den Schultern wuchert, unterstreicht nur noch meine andersartige Erscheinung. Ich würde mich wahrscheinlich auch angaffen, wenn ich mir auf der Straße begegnete.

So tue ich, als sei ich ein ganz normaler Mensch und mir meines Äußeren nicht bewusst, und warte ganz normal auf meinen Zug, während meine Blicke wieder und wieder zum Zifferblatt der großen Uhr hinaufwandern. Wie immer, wenn ich auf eine Reise gehe, bin ich viel zu früh dran. Trotzdem kann ich diese irrationale Angst, den Zug doch noch zu verpassen, nicht abschütteln. Es muss wohl an meiner Lebensgrundeinstellung liegen, dass ich ständig das Gefühl habe, ich könnte versäumt haben, etwas Wichtiges zu tun, und deswegen zu spät kommen. Früher habe ich mich oft gefragt, wo diese unangenehmen Gefühle wohl herrühren. »Das ist doch nicht normal!«, habe ich mit mir geschimpft. »Nimm dir Zeit, dann hast du auch welche!«

Aber immer waren da die dunklen, bösen Vorahnungen, die mich mein Leben lang begleiteten und derer ich nicht Herr werden konnte und die da lästerten: »Du hast keine Zeit. Hättest nie welche haben sollen. Du warst im großen Plan gar nicht vorgesehen. Du bist ein Irrtum!«

»Aber denk doch positiv, dann wirst du auch das Positive anziehen«, hieß es rundherum, von unzernarbten und gradgliedrigen, wohl behüteten Leuten.

Nun, heute weiß ich, dass, wenn ich nicht die ganze Zeit stets so positiv mit dem Schlimmsten gerechnet hätte, ich schon lange tot wäre. Auch meine besten Freunde mussten mit den Jahren zugeben, dass ich ein Paradebeispiel eines Pechvogels bin, um es gelinde auszudrücken. Aber ich bin noch da und habe nicht vor, den Löffel so schnell abzugeben.

Ich reiße mich los von meinen düsteren Gedanken und schaue zu den Fenstern hin, die die betonierte, verpfuschte Umgebung des Bahnhofs, die in schönstes Sonnenlicht getaucht ist, meinem Blick frei geben. Wieder packt mich diese seltsame Erregung, die mich gestern Nacht aus heiterem Himmel (oder woher auch immer) ereilt hatte, und ich greife zum Tässchen Espresso, das die Bedienung eben vor mich hingestellt hat. Wieder ein Blick zur Uhr. Noch eine Viertelstunde – dann würde ich den Schnellzug nach Zürich besteigen, der mich meinem »Rendezvous« näher bringt.

Wie habe ich als junges Menschenkind diesen Zügen entgegengefiebert! Aber damals waren sie immer mit der Hoffnung verbunden, mich meiner großen Liebe näher zu bringen oder anderen Glück bringenden, verheißungsvollen Momenten, die mein späteres, gutes Leben vorbestimmen würden. Damals war alles zukünftig. Und jetzt, in diesem kleinen, düsteren Lokal, schwebe ich gewissermaßen zwischen den Zeiten – denn ich habe eine Verabredung mit einem wichtigen Teil meiner Vergangenheit, von der ich hoffe, dass sie Licht in meine Gegenwart bringen und auf meine Zukunft werfen könnte. Ich habe eine Verabredung mit dem Tod!

Zürcher Oberland, im Februar 1955:

Ergeben scheppernd tat das zerbeulte Glöckchen seinen Dienst, als der kleine Metallbolzen an seinen Rand schlug. Dieser Metallbolzen schlug nicht etwa aus Boshaftigkeit, sondern aus Bestimmung und war eigens dafür erschaffen, das Letzte aus dem alten Glöckchen herauszuholen. Damit er diesen Auftrag auch stets und prompt erfüllen konnte, stand er, am oberen Rahmen der Tür fest eingeschraubt, aufrecht an seinem Platz. Als sie so heftig aufgestoßen wurde, wimmerte die Ladentüre leise in den Angeln und ließ ihre Glasscheibe, beinahe aus der Fassung geratend, erzittern.

Der junge Mann, der diese Aufregung verursacht hatte, bemerkte weder das Kreischen noch das Wimmern. Nicht einmal das Keuchen des altersschwachen Glöckchens hatte er vernommen. Ungeachtet ihrer Mühsal hatte er die Tür auch schon wieder hinter sich zugeworfen und stand nun im überheizten Vorraum des Geschäfts. Auf den zerkratzten Spitzen seiner für die Jahreszeit viel zu leichten, ausgetretenen Stadtschuhe verwandelten sich Schneebröcklein sogleich in dicke, fette, schmutzige Wassertropfen, die sich auf den blank gescheuerten Holzdielen zu kleinen Lachen zusammentaten. Auch auf dem dunkelbraunen Haar des Mannes schmolzen die Flocken dahin, wodurch es fast schwarz wirkte.

Der junge Mann schien aufgeregt, sein Atem presste sich dergestalt aus seinen Lungen, dass man denken konnte, er sei den Weg hierher gerannt. Seine rehbraunen Augen schauten sich suchend um. Ihr Blick glitt über bauchige Töpfchen und farbige Glasflakons, deren Inhalt im von den Spiegeln an den Wänden vervielfachten Licht in allen Farben eigentümlich leuchtete.

Flaschen und Tuben reihten sich in wirrem Durcheinander auf Simsen und Regalen. Auf einem runden, abgewetzten Holztischchen stand ein Korb, in dem sich Bürsten und Kämme häuften. Wie winzige Tierchen lagen sie da beieinander. Die einen mit stacheligen, wehrhaften Borsten, die anderen mit flauschigem Pelzchen, dazwischen buckelte das weiße Gerippe eines winzigen Sauriers – eine moderne Plastikbürste. Im rückwärtigen Teil des Ladens warteten die beiden großen, schweren Sessel, fest im Boden verankert, auf Kundschaft.

Der Besucher hatte sich den Schal vom Hals gewickelt. Sein Atem ging ruhiger jetzt. Mit einer fahrigen Bewegung zog er ein zerknautschtes Taschentuch aus den faltigen Tiefen seiner Hose und schnäuzte sich geräuschvoll die rot angelaufene Nase. Sogleich bestürmten die Gerüche aus den Flakons, Töpfchen und Tiegeln ungehindert die befreiten Kanäle des gesäuberten Riechorgans, um dem Eindringling die Sinne zu betören, ihn einzuwickeln in hoffnungsschwangere Wolken von Flieder und Vanille, Veilchenblüten, Rosenknospen, Jasmin, heimischen Harzen und exotischen Hölzern. Eben wandte sich die schlanke Gestalt dem rot verhangenen Durchgang zum Hinterzimmer zu, als der schwere Stoff von einer bleichen Hand, an deren Ringfinger ein wuchtiger, dunkler Stein grell aufblitzte, beiseitegehoben wurde. Dahinter rückte ein Gesicht in den farbenreichen Lichterkreis des Frisiersalons.

»Matthias, da bist du ja«, kam es voller Erleichterung über die lächelnden Lippen des jungen Mannes. »Ich dachte schon, du seiest ausgeflogen.«

Es leuchtete kurz und freudig in Matthias’ dunklen Augen auf. Er breitete seine Arme aus, um seinen Freund hart an die Brust zu reißen. »So, sieht man dich auch wieder einmal. Gut siehst du aus, Rudolf, etwas müde, aber gut.« Das bleiche Gesicht des Friseurs zeigte viele Falten der Freude.

Abwartend stand Matthias nun vor dem jüngeren Mann, den Kopf leicht schief gelegt.

Hätte ein Passant von draußen hereingespäht in den Laden, wäre ihm die Ähnlichkeit der beiden Männer sicherlich sofort aufgefallen. Wie zwei Brüder hätten sie dem Betrachter erscheinen müssen. Dieselbe Form des Schädels, der Schwung des dunklen Haars, die starke Nase und das eigenwillige Kinn.

»Na«, forderte Matthias Rudolf auf. »Nun sag schon. Du hast doch etwas auf dem Herzen und bist bestimmt nicht den weiten Weg von Basel hergereist, um mir meinen Fußboden zu ruinieren.«

Betreten senkte Rudolf den Kopf und blickte auf seine billigen Schuhe. »Oh, entschuldige bitte. Das habe ich gar nicht bemerkt. Aber es ist wichtig. Es … es hat wirklich geklappt, es hat funktioniert!«

»Was hat funktioniert?«, wollte Matthias jetzt in forschem Ton wissen. Er hatte nicht viel übrig für Umschweife.

»Ich werde Vater!« Jetzt war es heraus. Die Fäuste des jungen Kerls waren in die Höhe geschossen und verharrten für einen Moment über den Köpfen der beiden im Licht. Rudolf machte eine Bewegung in Richtung des Hinterzimmers, aus dem der Freund gekommen war, aber er wurde von Matthias am Arm zurückgehalten.

»Hör, das geht jetzt nicht. Ich habe eine Kundin.«

»Aha, ach so. Ich verstehe.« Der junge Mann war stehen geblieben und schaute dem Friseur unsicher in die Augen. Angesichts des enttäuschten Hundeblicks musste Matthias lachen. »Komm Alter, es ist keine große Sache. Geh du rüber in den ›Sternen‹, und trink schon mal auf mein Wohl oder besser gesagt auf das Wohl unseres Kindes. Ich komme so schnell ich kann nach. Den Laden werde ich dann schließen. Komm, komm. Es ist schon gut. Es hat sich niemand mehr angemeldet, und es ist ja auch schon reichlich spät. Bei dieser Kälte und der Dunkelheit kann ich sowieso nicht mit Laufkundschaft rechnen.«

Rudolf zögerte. Er wollte noch etwas sagen, aber die Worte konnten ihren Weg nicht finden, dabei vollführten seine Hände eine unbeholfene, hilflose Bewegung.

»Ah, kein Problem.« Matthias steckte die Hand in seinen schwarzen Kittel und zog sie sogleich mit einem zerknautschten Zwanziger darin wieder heraus. »Nun mach aber, dass du wegkommst. Dann bin ich auch schneller fertig hier.«

»Danke«, murmelte Rudolf leicht verlegen. Er machte auf dem Absatz kehrt und grüßte zum Abschied mit erhobener Hand, aus der noch der Geldschein hervorlugte. »Und ciao, ciao.« Schon hatte er die Ladentüre aufgerissen und ließ das ganze Wimmern, Klirren und Scheppern mit einem harten Rums hinter sich. Das Glöckchen gab noch ein zaghaftes letztes »Zlihng« von sich und war still.

Wieder alleine im Frisiersalon atmete Matthias einmal tief durch, machte wie sein Halbbruder eben auf dem Absatz kehrt und wollte ins Hinterzimmer zu seiner Kundschaft. Aber beim Korb mit den Bürsten und Kämmen darin blieb er einen Moment stehen. Mit seiner beringten Hand strich er beinahe liebevoll über eine rosa Babybürste mit weißen, flauschigen Borsten. Als er wieder aufblickte, lächelte ihm sein Gesicht wissend aus dem Friseurspiegel entgegen.

Die Wirtschaft »Zum Sternen« war ein ehrwürdiges, gutbürgerliches Haus. Der Schankraum, ganz in alte Täfelung gekleidet, bot dem Gast heimeligen Komfort. Breite Holzbänke verliefen ringsum an den Wänden entlang. An den langen, blank polierten Tischen hatten sich bereits einige Gäste, mit einer Zeitung und einem Glas Wein oder Bier ihren Feierabend genießend, niedergelassen. Auch der obligate, große, runde Stammtisch fehlte nicht. Rudi überlegte, sich dazuzusetzen, entschied dann aber anders, als er die heruntergekommene, abstoßende Gestalt einer feisten Frau über ihrem Bier kauern sah. Ein stumpfes Lauern schien ihm da entgegenzuschlagen aus diesen mit Tränensäcken verunzierten Augen. Er wollte jetzt um keinen Preis mit angetrunkenen, hässlichen Frauen Saufgespräche führen. In Ruhe wollte er Matthias alles über die gute Neuigkeit berichten, und dafür wäre der runde Tisch nicht geeignet gewesen.

Ganz in der Nähe des großen, goldfarbenen Kachelofens kuschelte sich Rudolf in die Ecke der abgewetzten Holzbank und wartete auf seinen Kaffee mit Schnaps. Ein leichtes, hoffnungsvolles Wundern durchströmte ihn, und er wurde sich erst jetzt des Hämmerns seines aufgeregten Herzens bewusst. Wild klopfte es an seine Rippen, als ob es ihn aufrütteln und ihm sagen müsste, dass sich etwas Neues, Unbekanntes einen Weg in sein Leben bahnen will. Natürlich hatte der junge Mann seine Vorstellungen davon, was so ein Kind alles mit sich brachte. Er würde das schon schaffen. Wäre ja gelacht. Millionen von Vätern schafften es auch. Trotzdem beschlich ihn ein leises Ziehen in der Magengegend, das sich unten im Bauch zu einem zähen Kloß verdichtete.

Gertrud, seine Frau, hatte keinerlei Ängste vor der Zukunft, schien ihm. Sie war überglücklich. Jetzt waren sie fest aneinandergeschweißt. Durch das Kind würde sich alles zum Guten wenden. Sie würden glücklich sein, und die unkenden, alten Tanten müssten endlich ihre Mäuler halten.

Ja, die Tanten! Die Schwestern von Rudolfs längst verstorbener Mutter hatten die Verbindung mit Gertrud gar nicht gerne gesehen. Die Frau schien ihnen billig. Schon wie sie sich kleidete, dazu kam ihr rot gefärbtes Haar, und um dem Ganzen das Tüpfelchen auf dem i zu verpassen, arbeitete sie damals auch noch im »Tessinerkeller«, im Volksmund Räuberhöhle genannt, wo sie von der obskuren Klientel einfach »die Rote« gerufen wurde. Es war den hellhörigen Tanten auch noch zu Ohren gekommen, dass die rote Trudi sich des Öfteren dazu hinreißen lasse, für die Saufbrüder zu singen und zu tanzen.

Tante Emma hatte missbilligend den Kopf geschüttelt. »Wie eine Zigeunerin benimmt die sich, und mit ihrer Hakennase und den stechenden Augen würde es mich nicht wundern, wenn sie eine wäre.«

Rudi hatte zum x-ten Mal erklärt, dass sie aus einer soliden Bäckersfamilie aus der Innerschweiz stamme. Aber die Tante wollte das nicht gelten lassen. Energisch hatte sie den Kopf geschüttelt. »Ich sehe, was ich sehe, und das tun andere brave Leute auch. Sie passt einfach nicht zu uns. Eine Geschiedene! Und das lass dir gesagt sein, diese Person will ich nie mehr in meinem Haus empfangen müssen!«

Und als er die Frau, die um sieben Jahre älter war als er, auch noch heiraten wollte, hatten die Tanten nicht mehr an sich halten können. Offen taten sie dem Jungen kund, dass sie ihm, wenn er weiterhin solche Flausen im Kopf hätte, den Geldhahn abdrehen würden. Nichts mehr könne er dann noch von ihnen erwarten.

»Weiß Gott«, hatte Tante Berta verkündet, während sie zu jedem Wort mit einem knotigen, harten Finger den Takt auf die Tischplatte klopfte. »Bub, du zeigst dich undankbar. Und das warst du schon immer. Aber das Schlimmste mit dir ist – du weißt immer alles besser! Hör nur einmal auf uns. Diese Frau ist nicht gut für dich. Da wird nichts Gescheites dabei herauskommen. Weißt du, was wir, meine Schwestern und ich, alles für dich getan haben, war nicht selbstverständlich. Bedenke, was aus dir geworden wäre. Wir hätten dich ja auch in ein Waisenhaus geben können. Aber nein, wir haben uns um dich gekümmert wie um unseren eigenen Sohn. Das darfst du niemals vergessen!«

Ja, sie hatten sich um ihn gekümmert damals. Nach Ursulas Tod hatten sich die drei Tanten, Emma, Berta und Frieda, abwechselnd des unehelichen Sohnes ihrer Schwester angenommen. Rudi sollte bald seinen neunten Geburtstag feiern können, hätte nicht der Krebs die Mutter endlich für immer dahingerafft und wäre da nicht der Umstand gewesen, dass seine Geburtstage überhaupt noch nie gefeiert worden waren. Sicherlich würden auch diesmal keine Anstalten getroffen, den Tag von Rudis peinlicher Geburt zu zelebrieren. Ein mageres, unansehnliches Bürschchen hatte Ursula ihren Schwestern da hinterlassen und das zu einem Zeitpunkt, wo ihrer aller Leben sich in erfreulicheren Bahnen bewegte als bisher.

Apropos Bahnen; da war zuerst einmal Frieda, die Mutter von Matthias, der etliche Jahre vor Rudi das Licht der Welt, die ihn gar nicht haben wollte, erblickte. Über den Vater schwieg sich Frieda hartnäckig aus, und bald schon, kaum konnten ihn die Füßchen tragen und das Hälschen das Gewicht des klugen Köpfchens balancieren, wurde der kleine Matthias in die Obhut einer Pflegefamilie im Zürcher Oberland gegeben. Unehelich, wie er war, zeugte der kleine Bastard von Friedas unzüchtigem Verhalten Männern gegenüber. So war man allerseits zur Übereinkunft gekommen, dass es das Beste wäre, den Kleinen, weitab von Nachbarn und Bekannten, zu versorgen. Nach diesem Zwischenfall nahm Frieda eine Stellung als Serviererin in einem Speiserestaurant an, das in einer Seitenstraße hinter dem Zürcher Hauptbahnhof lag und dessen Speisekarte täglich viele Angestellte aus der geschäftigen Umgebung anlockte. Unter den vorwiegend männlichen Mittagsgästen befand sich auch Theodor, ein dem Staatsdienste auf Lebenszeit verschriebener Bahnbeamter. Ein paar tausend Franken auf der Bank, einen stattlichen Schnauzer und eine garantierte Rente hatte er zu bieten. Da griff die kluge Frieda zu und war versorgt. Den Kontakt zum Söhnchen hatte sie trotz der Heirat und des bald darauf folgenden Sohnes, Theodor junior, nicht aufgegeben. Aus schlechtem Gewissen oder Christenpflicht heraus steckte man dem unerwünschten Knaben hin und wieder etwas zu oder kleidete ihn neu ein. Und mit der Zeit duldete es der Beamte sogar, dass das Kind seine Mutter besuchte. Trotzdem war der Bub ein ständig mahnender Dorn im schwachen Fleische der Schwestern.

Dann war da Berta, die Eiserne. Sie hatte es hingegen erst gar nicht so weit kommen lassen, dass ihr Fehltritt auf dürren Beinchen störend in ihrem Leben herumstakste. Sie war hart im Nehmen. Die Zähne fest zusammengebissen, legte sie sich damals auf den mit geblümtem Wachstuch bedeckten Küchentisch jener Frau, über die man allgemein hinter vorgehaltener Hand tuschelte. In einen Kokon aus Eis gehüllt, ließ sie den Eingriff stoisch über sich ergehen. Später sollte sich herausstellen, dass sie nie mehr Kinder haben könnte. Sie hatte, wie Frieda, Ursula und Emma auch, als sie vom Rheintal nach Zürich gekommen war, den Beruf einer Serviererin – kurz Kellnerin – ergriffen. Dessen schleppende Aufgaben bewältigte sie wie die Abtreibung des Kindes verbissen und ohne zu wanken. Nach dem verpfuschten Eingriff an ihrer Mütterlichkeit aber und einer von eigenartiger, unerfindlicher Traurigkeit erfüllten Zeit sattelte Berta zum Schwesterndienst um. Zurück ins Rheintal zog es sie, wo sie bald in einem kleinen Spital, unweit des eigenen Geburtsortes, so unerbittlich mit Bandagen, Waschlappen und Bettpfannen hantierte, wie sie es vorher mit Bierkübeln, Tellern und Besteck getan hatte.

Nie sprach sie darüber, warum sie von der großen Stadt Abschied genommen und sich ins heimatliche Wartau gerettet hatte. War es möglich, dass die weggeschmissene Kindheit des in ihrem Leib eingebetteten Babys etwa eine unerkannte Schuld in ihr hatte keimen lassen? Dass sie in der alten Umgebung, in Erinnerungen der eigenen Unschuld schwelgend, Linderung der sich nie selbst eingestandenen Schmerzen suchte? Oder gab es andere Gründe, dunkel und geheimnisvoll, die ihre Flucht ins Rheintal erklärten? Auf alle Fälle hatte sie, wie sich herausstellen würde, mit dem Krankenhausdienst eine gute Wahl getroffen. Denn in ebenjenem kleinen, heruntergekommenen Hospital lernte Berta einen Patienten mit dem sonderbaren Namen Gallbier kennen, dessen Unfähigkeit, Kinder zu zeugen, geschweige denn den dafür nötigen Akt zu vollziehen, ihr Interesse weckte. Dieser ungefährliche Mann war im Besitz einer kleinen Stickerei in der Wartau. Hoch oben über dem Tal, durch das sich der Rhein milchig blau und manchmal abgrundtiefgrün schlängelte, stand sein Häuschen inmitten eines Kirschbaumgartens. Nach der getroffenen Abmachung solle Berta einst das Häuschen mit dem Land und der Stickerei erhalten, nachdem der kränkliche Gallbier das Zeitliche gesegnet haben würde. So war es Berta möglich, ohne sich zu kompromittieren, im gleichen Haus zu leben wie der kleine, leidende Sticker. Sie besorgte ihm den Haushalt, pflegte ihn, wenn er krank war und ging ihm in der Stickstube zur Hand. Und wenn jemand Augen hatte, zu sehen, dann sah er, dass sie ihn liebte.

Emma, die Zweitälteste der Müllerschwestern, schien mehr vom Glück begünstigt zu sein als die anderen. Einen Prokuristen, einen weltgewandten Mann, hatte sie geheiratet, und insgeheim waren alle der Ansicht, dass sie diejenige sei, die das wirklich große Los gezogen hatte. Sie bewohnte mit ihrem Mann eine kleine Villa im besten Kreis Zürichs. Ein eigener Garten gehörte zum Anwesen, das an den weiten, von uralten Bäumen beherrschten Park des Theodosianums, ein Heim für alte und rekonvaleszente Nonnen, angrenzte. Stille und zurückhaltende Vornehmheit prägten das Quartier.

Emma verstand es bestens, den Hang zur Völlerei, das Wetten und Trinken, die prahlerisch verschwenderische Lebensweise ihres Mannes zu verschleiern. Immer trug sie ein damenhaftes, zufriedenes Lächeln zur Schau, das besagte: »Uns geht es gut, wir können es uns leisten, ein distinguiertes Leben zu führen, wir haben keine Probleme.«

Zu Anfang ihrer Ehe war sie, als Charles sein wahres Gesicht zeigte, zutiefst enttäuscht gewesen. Er hatte Geheimnisse, an denen er sie nicht teilhaben lassen wollte – hohe Ausgaben, über die er keine Rechenschaft ablegte, Zusammenkünfte mit Leuten, die sie nicht kennen lernen sollte. Hilflos sah sie sich dazu verdammt, ein Schattendasein neben ihrem vielgesichtigen Gatten zu führen. Aber dann regte sich ihre gesunde Kämpfernatur, und sie dachte, dass sie den Mann schon noch zurechtbiegen könne. Charles aber ließ sich nicht biegen. Mit Fug und Recht lebte er sein Leben, wie es ihn gutdünkte. Verdiente er doch genug, um, so seine Überzeugung, von ihr Stillschweigen und Unterstützung erwarten zu können. Und dem war dann auch so. Falls ihre Geschwister etwas vom tadeligen Lebenswandel des Schwagers bemerkt haben sollten, ließen sie es sich nicht anmerken und folgten ungehemmt den Einladungen zu den sonntäglichen, opulenten Mittagessen im Haus von Charles und Emma. Bei Schweinsbraten mit Kartoffelpüree, dazu einem alten, teuren Burgunder, ließ man es sich gut gehen, und der feine Kaffee mit Kirschschnaps zum Schluss tat das seinige. Sogar dass Emma selbst an heißen Sommertagen langärmlige, hochgeschlossene Kleider trug, wurde mit leicht säuerlichem Ausdruck im sich verhärtenden Gesicht geflissentlich übersehen. Eines Tages aber sah sich Emma wegen einiger blauer Flecken im Gesicht doch gezwungen, hinsichtlich des Temperamentes ihres Mannes ein paar Worte fallen zu lassen. Er neige eben manchmal, wenn die Arbeit allzu anstrengend sei, zu Wutausbrüchen. Cholerisch nenne man das wohl, sagte sie bedächtig und fügte dann schnell verteidigend hinzu, dass er aber sonst ein guter Mann sei.

Einige Monate später wurde wieder eine Schwesternversammlung anberaumt, die sich anfänglich in ähnlichen Bahnen bewegte, aber zu dem »ansonsten ist er ja ein guter Mann« wurde noch der Nachsatz hinzugefügt: »Und er wird bestimmt ein vortrefflicher Vater sein!«

Jetzt war es heraus – auch sie war schwanger geworden, was mit steifen Glückwünschen und spitzen Hurrarufen aufgenommen wurde. Emma schien, als ob die ganze schwesterliche Sippe eine Art Rehabilitierung erlangte, da durch Charles ein ehrwürdiger Name und hoher Stand die Familie aufwertete. Alle waren ruhiger geworden und gesetzter, hatten ihre festen Positionen fürs künftige Leben bezogen und waren willens und fähig, das Beste aus der Situation zu machen. So sah man allgemein mit viel Wohlwollen der Ankunft des neuen Erdenbürgers entgegen. Gar hatte man sich mittlerweile mit Matthias’ und des kleinen Rudis Existenz abgefunden, wenn nicht sogar ein Plätzchen für die Jungen im eigenen Herzen bestimmt und dies mit guten Vorsätzen gepflastert.

Aber dann kamen die Komplikationen. Emma fing an zu leiden. Viele Untersuchungen waren nötig, um endlich die Ursache der schlecht verlaufenden Schwangerschaft bestimmen zu können. Syphilis lautete die harte Diagnose! Emma würde das Kind nicht austragen können. Man entfernte also die Eierstöcke und die Gebärmutter mitsamt dem Häufchen winzigen Lebens darin. Beinahe, hieß es im Nachhinein, wäre es zum Schlimmsten gekommen. Penicillin wurde ihr verabreicht, und die Medizin konnte schon die ersten Erfolge mit Bestrahlungen verbuchen, oder zumindest war man in dieser Hinsicht zuversichtlich. Radium, hieß es, würde helfen. Über Monate besuchte die kleine, elegante Emma das Ambulatorium, um sich bestrahlen zu lassen. Die Metallhülse mit der Dosis von diesem wunderbaren Radium darin, die man ihr in den ausgeräumten Unterleib schob, erfüllte sie mit Hoffnung, aber noch mehr mit Angst und Schrecken. Während sie so dalag, auf dem Tisch im isolierten Zimmer der Röntgenabteilung, jagten sie die grässlichsten Bilder. Sie stellte sich vor, wie das radioaktive Material ihren Bauch versengen und ihn aushöhlen würde, um nur noch eine dürre Grotte zu hinterlassen, worin verkohlende, sich zersetzende Innereien grünlich glommen.

Bei diesen schweren Gängen zur Universitätsklinik war sie immer darauf bedacht, von niemandem erkannt zu werden. Traf man in der Straßenbahn einmal eine Nachbarin, neigte man höflich grüßend den Kopf, worauf das neue Hütchen selbstgefällig wippte, und plauderte über die Unbill des Wetters oder ebendessen Herrlichkeit. Irgendwie verstand es Emma, die Gespräche bei solchen Gelegenheiten immer auf einem oberflächlichen, vornehmen, unverfänglichen Niveau zu halten. Nicht auszudenken, man käme dahinter, dass sich die Frau des Prokuristen wegen der Syphilis – der Lues – behandeln lassen musste!

Endlich, eines Tages beschied man ihr, die Krankheit sei für immer ausgemerzt und die Gefahr gebannt. Jetzt könne sie getrost heimgehen und ein normales Leben führen. Was auch immer die Ärzte darunter verstanden, so viel stand fest: Das Schlimmste war überstanden! Aber dann brachte Ursulas Tod und damit die Frage, wohin mit Rudolf, wieder neuerliches Ungemach und lästige Probleme mit sich.

Ursula, die Jüngste der Vier, hatte sich ebenso wie Frieda über die Identität des Vaters ihres unehelichen Sohnes schmallippig ausgeschwiegen. Auch sie heiratete bald einen anderen Mann als den Vater ihres Sohnes. Aber eigenartigerweise lebte sie nicht mit dem Ehemann zusammen. Mit ihrem unehelichen Sohn führte sie ein einsames, freudloses Leben in einer kleinen Wohnung in Zürichs Kreis vier. Sie kellnerte weiter wie zuvor – arbeitete hart, wie sie immer wieder dem kleinen Jungen und anderen gegenüber betonte. Ab und zu erschien der Stiefvater Rudis zu Besuch, um bald wieder so sang- und klanglos zu verschwinden, wie er gekommen war. Rudi fürchtete sich vor diesem Mann – und er fürchtete sich vor seiner Mutter. Streng war sie und böse. An allem gab sie ihm die Schuld, und er wurde wegen der kleinsten Kleinigkeit von ihr verprügelt. Ihre schönen Züge hatten sich im Laufe der Jahre verhärtet, und wenn sie dann in Rage geriet, verwandelten sie sich in Furchen von Hass und Wut. Ihre Augen blitzten ihn vernichtend an, und ihr harter Handrücken fand immer wieder zielsicher sein vorlautes Maul – sodass das Blut spritzte. Nein, Ursula konnte sich nicht damit abfinden, diesen Bengel alleine großziehen zu müssen, aber Kyrilian, ihr Mann, bestand darauf, dass sie ihr Leben so lebte, wie er es wünschte. Mit Charles zusammen hatte man diese Übereinkunft getroffen, nicht ganz freiwillig, aber was blieb ihr anderes übrig, als sich in dies dunkle Bündnis zu fügen. Berta und Frieda hatten auch ihr Stillschweigen und ihre Unterstützung zugesichert. Man hatte einiges zu verlieren. »Wer A sagt, muss auch B sagen«, hatte C gewichtig versichert. Nun, Berta hatte sich ins Rheintal zurückgezogen, und Frieda war mit ihrem neuen Mann und dessen Spross beschäftigt. Ursula sah sich alleingelassen mit diesem kleinen Bastard. Sie hatte niemand anderen, mit dem sie sich hätte aussprechen können, als ihre beiden Schwestern – denn die dritte, Emma, hatte von alledem keine Ahnung. Ursula konnte kaum glauben, dass dem wirklich so war. War doch Emma von ihnen allen immer die Findigste, logisch Denkende gewesen, der man nur schwer etwas vormachen konnte. »Du kannst mir nicht erzählen, dass Emma nicht weiß, wem du verpflichtet bist.«

»Wenn du nicht augenblicklich Ruhe gibst und ich nur das leiseste Flüstern hören sollte, wirst du mich und jenen anderen kennen lernen.« So hatte ihr also Charles gedroht, und Kyrilian hatte zwar nicht gedroht, aber sie zur Vernunft gebracht. Sie war Kyrilian hörig, diesem unheimlichen, geheimnisvollen Mann, den sie durch Charles kennen gelernt hatte und dem ihr ganzes Wesen gehörte. In den Zeiten seiner Abwesenheit verwandelte sich ihre unerfüllte Leidenschaft zu einem bösartigen Pochen in ihrem Leib, wie von einer Zecke, die sich in ihr festgebissen hatte und, von Ursulas Hass nährend, größer und größer wurde. Sie folgte also ihrem Hass und ließ den Jungen die ganze dunkle Macht spüren, von der sie besessen war – und die Zecke gedieh. Und dieses neue, bösartige Leben in ihrem Leib wurde immer hungriger und fetter, schwoll an zu einem Klumpen eigensinnigen, wuchernden Fleisches, bis es an der Zeit war, auch ihm einen Namen zu geben. Und – man nannte es Krebs.

Charles, der sich endlich und mit knapper Not von der Syphilis befreit glaubte, war nicht bereit, weitere Einschränkungen in seinem Lebensstil hinzunehmen. Laut verkündete er dies – und sich um ein Kind zu kümmern, dessen Vater er nicht einmal sei, lehne er rundherum ab –, und leise zählten seine verbliebenen Hirnzellen alle seine Sprösslinge. Denn da musste er noch den Unterhalt bestreiten für ein anderes Kind. Olympia, die Tochter aus erster Ehe, wollte versorgt sein und ebenso die elegante Mutter des kleinen Mädchens mit dem großen Namen.

Die Schweiz war gegen Kriegsende eifrig damit beschäftigt, sich mit Schamesröte im abgewandten, biederen Gesicht die Wunden zu lecken, jetzt, da die deutsche Sache sich im Chaos verloren hatte. Man trug weiß Gott immer noch genug Sorgen in den bösen Jahren der allgemeinen Verknappung mit sich herum. Geschäftliche Umorientierung war angesagt, Flüchtlinge mussten durchgefüttert werden, und wer Arbeit hatte, war darauf bedacht, diese mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

Weitere Entbehrungen auf sich zu nehmen, war man nicht bereit, und ganz sicherlich nicht Charles, der alte Hurenbock, der er war. Er fühlte sich schon zur Genüge beschnitten in seinen Freiheiten und dies nicht zuletzt durch den mahnenden Fingerzeig in Form der überwunden geglaubten Krankheit.

Sein Aufbegehren richtete sich aber nicht gegen sich selbst, die eigene Fahrlässigkeit und die verantwortungs- sowie hemmungslose Hingabe an seine fleischlichen Gelüste. Vielmehr richtete sich seine Enttäuschung und Wut gegen Emma, der er unbewusst die Schuld an all seiner Unbill zuwies. Dass er seine Geheimnisse nicht mit Emma teilen durfte, ließ einen leise brodelnden Sumpf des Selbstmitleids in ihm gären, der seine verkaufte Seele allmählich vergiftete. Kyrilian wollte ihm in dieser Sache nicht mehr weiterhelfen. Die Bruderschaft habe genug getan, und er solle froh sein, dass es nicht noch zu Schlimmerem komme.

Es musste also endlich etwas geschehen und unternommen werden. Die Frage »Wohin mit dem Buben?« galt es ein für alle Mal zu klären. Es war an der Zeit, wieder einmal eine Familienzusammenkunft einzuberufen.

Man traf sich in der guten Stube der Villa, in der Rudi seit dem Tode Ursulas vorerst untergebracht worden war. »Fürs Erste und provisorisch«, hatte Charles damals schon laut verkündet.

In Tante Emmas Nähzimmer hatte man dem Kleinen ein Lager bereitet, wo er grübelnd, auf einem harten Diwan liegend, die Nächte verbrachte. Auch an jenem Sonntagabend der Zusammenkunft war er wie üblich sehr früh zu Bett geschickt worden. Kleine Jungen hätten nichts verloren bei den Erwachsenen, wenn diese ihre schwierigen und wichtigen Gespräche zu führen hätten, hieß es.

Draußen, im goldenen Lichte des Sommerabends, pfiffen die Spatzen um die Wette. In den Wipfeln der Baumriesen des Theodosianums konzertierte es fröhlich und unbekümmert. Eine Amsel hatte sich auf der Tanne, die sich neben dem Balkon des Nähzimmers in den glühenden Abendhimmel schraubte, niedergelassen und sang herzzerreißend eines ihrer schönsten Lieder. Von der Stube nebenan drangen die Stimmen der Erwachsenen durch die Holzwände zu Rudi. Noch waren sie beim Essen. Gläser klirrten, und Gabeln kratzten auf dem guten Porzellan der Tante. Das allgemeine Gemurmel wurde immer wieder durch Charles’ heiseres Schnarren unterbrochen, worauf der bestätigende Bass Bertas, die eigens zu diesem Anlass aus dem Rheintal angereist war, zustimmend nachunkte. Theodors wohl klingendes Organ produzierte ab und zu ein »Jawohl« oder ein »Ganz recht«. Er wollte seine Ruhe haben und überließ es den anderen, ein Problem, das ihn im Grunde nichts anging, zu lösen. Er hatte, als es um Friedas unehelichen Sohn ging, weiß Gott schon genügend Großmut und Verständnis an den Tag gelegt. So hatte ein jeder in der Schar seine Situation zu verteidigen und die richtigen Karten auszuspielen. Alle waren darauf bedacht, am Schluss nicht mit dem schwarzen Peter dazusitzen.

Während die Großen drüben also feilschten, ließen in der Nähstube den Kleinen seine bangen Gedanken nicht los und führten ihn zum großen Cousin, dem Matthias. Was er wohl jetzt machte? Lag er auch schon im Bett und hörte der Welt draußen zu? Unwillkürlich musste er an die gemeinsam verbrachten Ferientage in Tante Emmas Haus oder bei Frieda, der Mutter Matthias’, denken. Genau wie die Dunkelheit langsam aus den Winkeln der Nähstube herangekrochen kam, schlich sich die Erinnerung an einen anderen Sommerabend in des Buben Geist.

Matthias und er sollten einige Tage bei Charles und Emma verbringen. In diesen heißen, stillen Sommertagen spielten die beiden Jungen Fußball auf der leeren Straße vor der Villa, oder sie planschten heimlich im theodosianischen Goldfischteichlein, das von urigen Fichten umstanden, im hintersten Teil des Parks friedlich vor sich hindöste und nur ab und zu durch ein kurzes »Flapp« eines springenden Goldfisches in seiner Ruhe gestört wurde. Selten verirrte sich eine der alten Nonnen hierher. Natürlich war es flegelhaften Buben bei höchster Strafe verboten, den Park zu betreten, geschweige denn über den hohen Maschendrahtzaun zu klettern, um auf der anderen Seite herunterpurzelnd die gepflegten Rosenbeete zu zertrampeln.

Bei einer dieser verbotenen Spielereien im weitläufigen Park hatte sich Rudi bei der harten Landung im dornenbespickten Rosenbeet den Boden seiner kurzen Hose aufgerissen. Tante Emma war nicht sehr erbaut darüber, dass sie schon wieder die Beinkleider des Jungen würde flicken müssen. Den Onkel um Geld für eine neue Hose bitten wollte sie nicht. Der Kleine hatte nur die eine kurze Spielhose dabei, und die gute Sonntagshose, welche säuberlich im Schrank am Bügel hing, war tabu. Also musste sie sich noch an diesem Abend an die mühselige Stopfarbeit machen.

Natürlich gab es, als der Onkel von der Arbeit nachhause kam, eine peinliche Befragung. Sie wurden in die gute Stube beordert. In ihren abgetragenen Pyjamas standen sie verzagt zwischen Plüsch, Kristall, Porzellan, Häkeldeckchen und der ehrwürdigen Ständerlampe vor dem großen, bordeauxfarbenen Plüschsessel, worin der Onkel mit gespreizten Beinen dickbäuchig, zurückgelehnt hockte. Sein feistes Kinn hatte er fordernd vorgereckt, und auf seinem kahlen Schädel zeigten sich widerwillige Falten. Die rot geäderten, wässrig blauen Äuglein troffen vor Empörung. Aufgebracht stellte er die Jungen zur Rede. Die beiden hatten sich wohlweislich auf dem Heimweg eine Geschichte zurechtgelegt. Um wenigstens bei der halben Wahrheit bleiben zu können, erzählten sie, dass der Ball beim Spielen in hohem Bogen in den klösterlichen Garten gefallen sei und sie sich gedacht hätten, es sei wohl das Beste, rasch über den Zaun zu klettern und den Ball ohne großes Aufheben sofort zurückzuholen. Matthias habe dem Kleineren dann über den Zaun geholfen, aber leider sei Rudi im Rosenbeet gelandet. Der Onkel hörte sich die Geschichte mit dem Ausdruck höchst ernst zu nehmender Konzentration im feisten Gesicht an, während die Tante geräuschvoll in der Küche hantierte. Als sie geendet hatten und Schlimmes befürchtend auf ihre nackten Zehen starrend das Urteil erwarteten, gab es, zu ihrer Überraschung, gar kein Donnerwetter. Ganz im Gegenteil! Der Onkel wollte umgehend sicher sein, dass die bösen Dornen dem dummen Kleinen auch keine entzündlichen Kratzer hinterlassen hatten. Die Wunden mussten gereinigt und desinfiziert werden. Emma wurde geheißen, den Schnaps und einen sauberen Waschlappen herbeizuholen, worauf der wohl meinende Onkel mit dem Kleinen im Badezimmer verschwand. Rudi konnte sich nur noch daran erinnern, dass es höllisch geschmerzt und er, zappelnd in des Onkels eisernem Griff, fürchterlich geschrien hatte.

Die Nacht war nun vollends hereingebrochen. Die Vögel schliefen, die Köpfchen unter dem Gefieder versteckt, in ihren Nestern. Die Straßenlaternen, die dem Quartier des Nachts Sicherheit und Schutz vor lichtscheuem Gesindel hätten vermitteln sollen, blieben ausgeschaltet. Immer noch war nachts allgemeine Verdunklung angesagt. Durch die großen Fenster der Nähstube drang ein milchig weiches Mondlicht, das im weißen Salon, wie das Nähzimmer gerne vornehm genannt wurde, für den kleinen, verängstigten Betrachter eine unheimliche Welt erwachen ließ. Allerlei Schatten hatten sich im großen Zimmer festgekrallt, und aus den schwarzen Abgründen, die unter Kommoden und Schränken lauerten, wisperte es leise. Unruhig warf sich der Kleine auf dem Diwan herum. Bedrohlich schimmerten die goldenen Lettern auf dem schwarzen Buckel von Tantes Nähmaschine. Wie ein kauerndes Monster hob sie sich gegen die hellen Wände ab. Auf der blankpolierten Arbeitsplatte des Ungetüms lag ein samtener Zauberschuh. Rudi konnte das winzige Ding kaum noch erkennen, aber er wusste, was es war. Es gab ihm Halt und beruhigte ihn. Tante Emma war nämlich im Besitz des wundersamsten Nadelkissens, das man sich vorstellen konnte. In der Form eines winzigen, weinroten Schuhs bot es einem hübsche, farbige, perlengleiche Nadelköpfchen an. Mit seinem spitz zulaufenden Schnabel und den goldenen Börtlein hätte es gut und gerne aus einer der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht entsprungen sein können. Mit so einem Schühlein, überlegte Rudi, könnten kleine Elfen bequem reisen. Natürlich müsste man die Nadeln herausnehmen. Aber das weiche Kissen hätte ein wunderschönes Reisekissen abgegeben, worauf sich gut fliegen ließe. Die silbernen Kleidchen des Elfleins würden dann im Flugwind hinter dem Pantöffelchen herflattern, während es selber sicher in seinem Kissen geborgen, über die Goldborte hinausgelehnt, auf die schlummernde Erde hinunterblicken würde. An glitzernden Wasserläufen entlang und über silberne Seen. Weit, weit weg fliegen könnte so ein Elf. Ja, sogar bis zum Mond, der ihm mit einem bleichen Strahl den Weg wies.

Eine laute Männerstimme holte ihn aus seinem angenehmen Traum. Im Halbschlaf meinte er zuerst, es sei Onkel Charles, der von ihm verlangte, dass er gefälligst stillhalten solle, wenn er ihn schon verarzte und den Popo mit der guten Salbe einreiben wolle.

Endlich rutschte Rudi wieder herüber in die Realität und merkte, dass es nur Onkel Charles war, der Tante Emma anschrie: »Ich habe dir gesagt, Emma, wie ich dazu stehe, und möchte mich nicht tausendmal darüber äußern.« Die leise Stimme der Tante ließ es nicht zu, dass der Bub verstehen konnte, was sie ihrem brüllenden Mann entgegnete. Dann wurde sie vom raunenden Bass Bertas abgelöst und schließlich endete der Moment mit einem zustimmenden Geraune Theodors. Der Kleine in seiner Verwirrung ahnte: Die Großen werden jetzt bestimmen, was mit ihm werden soll. Und er versuchte so fest er konnte hineinzuhorchen in die Stube drüben. Er horchte so angestrengt, dass er darüber einschlief.

In jener Nacht beschloss die Sippe, Rudi erst mal zu einem Bauern im Thurgau zu schicken. Tante Frieda – sie reiste inzwischen in Sachen Heiltränke durchs Land, hausierend mit einem Allerweltsmittel, das reißenden Absatz unter der einfachen Bevölkerung fand – kannte da eine Bauernfamilie, die den Rudi sicherlich nehmen würde. Er müsse halt für seinen Unterhalt auf dem Hof mit anpacken, aber das habe noch niemandem geschadet. Tante Berta nickte grunzend zu den Ausführungen ihrer Schwester. »Das tut dem Buben gut da auf dem Land und in einer ordentlichen Familie. Da kann er gleich lernen, wie man sich einfügt, dann hat er was fürs Leben.«

Alle am Tisch, außer Emma, nahmen diesen, von Eigennutz umflatterten Entschluss dankbar auf. Emma schien es nicht richtig, sagte sie, und nötig habe man es auch nicht, das Kind zu verdingen. »Aber was redest du denn daher, von Kinderarbeit kann doch keine Rede sein!« Charles’ Speichel rutschte aus den wabbernden Mundwinkeln. Auch Frieda wehrte sich und bekräftigte, dass es sich hier um eine nette, ehrliche Familie handle und Emma nicht gleich so daherreden solle.

Aber Emma sollte Recht behalten. Nach einem halben Jahr sahen sich die Schwestern gezwungen, den inzwischen völlig unterernährten, entkräfteten Rudi wieder aus dem Thurgau zurückzuholen. Das wäre dann doch zu weit gegangen, bei diesen Mostindern. Und so kam Berta auf die Idee, der Junge solle erst mal zu ihr kommen, rauf ins Rheintal. Dem Gallbier werde es schon recht sein. Da wolle sie dann den Kleinen wieder richtig aufpäppeln. Der Anblick des abgemagerten, bleichen Kerlchens hatte ihr tief ins versteckte Herz geschnitten und es aufgewühlt. Längst verschüttete Gefühle wurden wieder bloßgelegt und da hatte sie, den Kleinen an der festen Hand, den Zug nach Sargans bestiegen, um ihn mit fürsorglicher Strenge zu lieben. Gallbier erwies sich als ein ruhiger, gutmütiger Pflegevater, der immer einen Scherz – ein kleines Zauberkunststück oder einen Bauernwitz – parat hatte.

So war es fürs Erste allen recht.

Aber der Bub musste ja auch in die Schule, und was das kleine Fontnas zu bieten hätte, war nicht das, was sich jetzt auf einmal und völlig überraschend ein Charles vorstellte. Wieder kam man überein, dass es doch am besten wäre, den Jungen nach Zürich zurückzubringen und ihn da in die Schule zu schicken. In den Ferien könne er dann wieder ins Rheintal zu Berta, schließlich sei er ja irgendwie auch ein wenig sein und Emmas Sohn. Dies hatte der alternde Charles gesagt, während ihm ein zäher Tropfen im Augenwinkel klebte. Der Rudi könne dann einmal – wie er selbst vor langer Zeit – eine kaufmännische Lehre machen und es vielleicht zum Prokuristen bringen.

Das Vermächtnis des Heilers

Подняться наверх