Читать книгу Das Vermächtnis des Heilers - Tuya Salina - Страница 7

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Der Zug vermindert sein Tempo. Ratternd lassen wir das Schlierener Gaswerk hinter uns. Bald schon in Zürich, wo ich fünfzehn Minuten zum Umsteigen haben werde. Kein Grund zur Panik also, ich habe genügend Zeit. Ich freue mich darauf, wieder einmal dem See entlangzufahren. Ich freue mich auf Rapperswil. Zwar habe ich keine Zeit für einen Stadtbummel, aber das Schloss, die Altstadt und den Hafen werde ich sehen. Meine Erinnerungen an die kleinen Reisen mit dem Vater und die gruseligen Geschichten, die er mir erzählt hat, werden wieder zum Leben erwachen. An dieser Stelle erinnere ich mich plötzlich daran, dass wir wohl ein paar wenige Male nach Oberried gefahren sind, aber nie meinen Patenonkel getroffen haben. Und bei ebendiesen Fahrten machten wir jeweils in Rapperswil Halt.

Gestern Abend wollte es mir lange nicht in den Sinn kommen, wo denn genau mein Pate gelebt hatte oder wie er überhaupt hieß. Ich musste herausfinden, was der ganze Wirrwarr in meinem Kopf bedeutete. Außerdem war ich zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, dass sich etwas Ungeheuerliches abspielte, etwas Wichtiges, etwas, das vielleicht mein ganzes Leben verändern würde. Mein Verstand war aber ganz auf Vorsicht und Überlegung eingestellt. Es wäre schrecklich für mich, zu erfahren, dass ich, zum Spott aller, nur meinen eigenen Hirngespinsten nachgegangen war, um schließlich ein trauriges Kopfschütteln meines Hausarztes zu ernten.

Aber da, ich besorgte eben den kleinen Abwasch, fiel mir auf einmal, wunderbar klar, wieder alles ein. Er hieß Matthias Keller und war im Städtchen Oberried Friseur! Eilig trocknete ich meine Hände am Geschirrtuch ab, jagte durch die Stube zum Telefon und wählte die Auskunft. Die Frau am anderen Ende bedauerte, dass die Nummer von Matthias Keller nicht mehr vergeben sei. Aber sie habe noch einen Karl Keller in dem Ort. Ich bedankte mich bei der Frau und erbat dessen Nummer. Natürlich streikte der Kugelschreiber und ich musste nach einem anderen Stift suchen. Schließlich habe ich es aber geschafft und vor mir stand die Nummer in meiner krakeligen Schrift auf dem zerknautschten Zettelchen. Das musste einer der Söhne von Matthias sein oder vielleicht sonst wer dieses Namens, der mir Auskunft geben könnte.

Aber wie sollte ich es anstellen? Hier einfach wie eine Irre in der Gegend herumtelefonieren und den Leuten erzählen, dass ich Stimmen höre? Auf gar keinen Fall! Das Leben ist schon so hart genug. Eigentlich will ich ja nur meinen Frieden. Das heißt für mich lediglich, vielleicht mal ein paar Jahre lang Ruhe zu haben vor Unglück – Krankheit, Unfall, Diebstahl, Schlägen und Todesfällen. Ich verlange nicht viel. Ich bestehe nicht einmal auf meinem menschlichen Recht auf die große Liebe (wobei …) oder einen gut bezahlten Job, geschweige denn auf Glück im Spiel oder derlei unglaublicher Dinge.

Jetzt war es schon 21 Uhr vorbei. Ich musste mir meine Wortwahl genau überlegen. Ganz vernünftig musste ich klingen. Ach, er war sowieso wahrscheinlich schon lange gestorben und da würde so ein Anruf nur traurige Erinnerungen und Schmerzen heraufbeschwören. Nein, ich konnte das nicht tun.

Wieder wandte ich mich der Fernbedienung zu und versuchte mich auf das Geschehen auf dem Bildschirm zu konzentrieren. Aber es war aussichtslos. Das Rufen wurde zu einem Hämmern in meinem Schädel und es wollte nicht nachgeben. Kurz überlegte ich noch, ob ich anstatt der Nummer auf dem Zettelchen vor mir besser die des psychiatrischen Notfalldienstes wählen sollte. Aber das konnte ich ja immer noch tun, wenn der Anruf mit diesem Karl Keller völlig danebenging. Ich atmete ein paar Mal tief durch, räusperte meine Kehle sauber und tippte die Nummer ein.

*

Wohlig in eine dicke Jacke gehüllt, der Schnee knirschte unter seinen Schuhen, sein Atem kam in kleinen Wölkchen, schritt Matthias durchs dunkle Dorf. Hie und da glitzerte es am Himmel wie auf dem Boden. Mit der klaren Nacht war wiederholt erbitterte Kälte über dem kleinen Ort hereingebrochen und hatte die oberste Schneeschicht gefrieren lassen. Matthias wich einem Stück des Weges aus, das ihn, von den müden Straßenlaternen angeleuchtet, gefährlich durch die Dunkelheit anblitzte. Er war mit sich zufrieden. Alles war gut verlaufen und sie hatten es geschafft. Matthias musste unwillkürlich lächeln, wie er sich Rudolfs glückliches Gesicht in Erinnerung rief, als dieser im Salon unerwartet und völlig aufgedreht vor ihm stand. Ein unverbesserlicher Morgen-ist-alles-besser-und-ich-kann-das-dann-schon-Junge, der Rudi. Ein wenig ausgefuchst und schwächlich. Immer den Weg des geringsten Widerstandes gehen und dann blauäugig mit den braunen Augen aus der Wäsche gucken. Der würde sich noch wundern, was es heißt, ein Kind großzuziehen. Matthias fragte sich, ob es dem jungen Spund nicht in den Sinn gekommen war, sich zu hinterfragen und seinem eigenen Glück, von dem er vorher nie sehr begünstigt worden war, zu misstrauen. Außerdem war er ein Meister im Verdrängen. Das stand fest. Immer weiter und schneller und so fort, und morgen wird sich dann schon alles einrenken. Ja, so einer war der Rudi.

Matthias wusste, dass die Hochzeit mit Trudi, ja die ganze Geschichte selbst, mit dieser unmöglichen Frau, für Rudolf ein Strohhalm gewesen war, nach dem er verzweifelt in allerletzter Sekunde gegriffen hatte, um nicht endgültig den Boden unter den Füßen zu verlieren und elend im Sumpf, in den er sich geritten hatte, zu ersaufen. Auch verstand der Friseur vollauf, dass in Rudis Augen jetzt alles verklärt erscheinen musste, nur damit er sich selbst nicht eingestehen musste, dass er versagt hatte. Auch die Tanten verdrängten die Tatsache, dass Rudi, der Zuchthäusler und Alkoholiker, der er nun mal war, nur durch die Verbindung mit der »Zigeunerin« nicht völlig abrutschte.

Der Autodiebstahl wurde im Kreise der Familie niemals erwähnt, auch die folgenden sieben Monate im Gefängnis in jenem hässlichen Koloss in Regensdorf hatte man anscheinend vergessen. Und die Bewährungsauflage, dass Rudolf dem Blauen Kreuz beitreten musste und in den ersten Monaten nach der Entlassung streng durch dieses beobachtet wurde, schien niemanden daran zu erinnern, dass der Junge selbst in der Freiheit kein freier Mann sein würde. Nur durch diese Heirat hatte er sich von Kontrollstellen und dem Vormund befreien können, um endlich sein Leben in die vom Alkohol zittrigen eigenen Hände zu nehmen.

Dies zu tun, hatte der Junge mit einem Berg guter Vorsätze angefangen, aber den Biss der Erkenntnis mit dem dazugehörigen Schmerz hatte er nie erfahren, und so, das konnte Matthias sehen, schlitterte Rudi wieder in seine alte Denkweise und Lebensart zurück.

Es war Matthias nicht entgangen, wie sehr dem anderen der große Lebensstil, dessen er da in Basel teilhaftig wurde, gefiel und auch nicht der aufkeimende Stolz in Rudis Stimme, als er von der Zuneigung der Frau Baronin und der Episode mit der Prinzessin erzählte. Rudis Geschichten sprachen Bände. Ihm, Matthias, war klar, dass diese Frau Baronin mit dem jungen Mann ein wenig spielte, um sich zu zerstreuen und selber mit der Möglichkeit einer Liaison zu liebäugeln. Selbstverständlich würde es niemals wirklich zu einer näheren Beziehung kommen, aber die lichten, delikaten Momente einer intimen Zweisamkeit, und sei es auch nur ein Hauch davon, mussten der alternden »Grande Dame« doch über die grauen Tatsachen ihres Ehelebens mit dem vertrockneten, abgeklärten Doktor hinweghelfen. Armer Rudi. Auch hatte er heute wieder ungehemmt getrunken und er würde, da war sich Matthias sicher, erst gegen Morgen seinen Schlafplatz auf der Couch im weißen Zimmer von Charly und Emma aufsuchen.

Den Kopf tief im Jackenkragen versenkt, stapfte der Friseur weiter und ließ die letzten Häuser des Dorfes hinter sich im Dunkel versinken. Die von der eisigen Winterluft gefrorenen Härchen kitzelten in seiner Nase, die er immer wieder rümpfte, um das störende Gefühl loszuwerden. Jetzt lag die kleine Anhöhe, die das Haus verdeckte, vor ihm. Einen leichten Bogen beschreibend, zeichneten die Laternen, sanft an ihren Drähten schaukelnd, das letzte Stück des Weges.

Da lag sein Heim am Ende der kleinen Biegung, dunkel und, wie es schien, von allen guten Geistern verlassen. Der Gartenzaun, vernachlässigt und schief, hätte auch im Sommer nichts zu beschützen gehabt. Den Garten hatte seine Frau völlig verwildern lassen und jetzt hielten die mageren Latten die Haufen von Schnee zusammen, die er, um das Weglein zum Haus begehbar zu machen, links und rechts hingeschaufelt hatte.

Im Dunkeln schloss er die Haustüre auf und zog sie mit einem Ruck gleich wieder hinter sich zu. Der Geruch nach altem Schweinefett und gebratenen Nierchen, nach kaltem Rauch, Urin und Petroleum hüllte ihn sogleich wie ein dicker Nebel ein.

Ohne aus den nassen Schuhen zu schlüpfen, ging er den Korridor entlang, an der Küche vorbei, geradewegs in die Stube. Hier drehte er endlich das Licht an und setzte sich seufzend auf den Fauteuil, der ausschließlich ihm vorbehalten war. Die alte Lampe, ein Hochzeitsgeschenk von Tante Berta, die sie irgendwo auf ihrem Dachboden gefunden haben musste, hatte Mühe, ihr Licht im Raum zu verteilen. Die Winkel des Raumes lagen in diffusem Dunkel, wo sie Schmutz, kaputtes Spielzeug und Flecken unbestimmbarer Herkunft verbargen. Auf dem Sofa dem Friseur gegenüber lag eine graue Wolldecke, worauf ein dicker Stoffhase aus grünem, abgewetztem Plüsch saß, der ihn stumpf durch das eine ihm noch verbliebene Auge anstarrte. Einen Moment lang blieb Matthias in sich zusammengesunken sitzen. Die Augen geschlossen – eine kleine, pulsierende Ader an seinen Schläfen zeugte vom Pochen in seinem Kopf – horchte er ins stille Haus hinein. Das Zigg, Zigg der Küchenuhr, ein Seufzen der Holztreppe, ein verhaltenes, feuchtes Atmen, ein kleines Schnarchen und so etwas wie das Zittern von jemandem, den man nicht hören sollte, jemandem, der den Atem anhält und dessen Herzschlag, so laut, wie er dröhnte, den Unsichtbaren entlarvte.

Fledermausflügeln gleich, schlug Matthias plötzlich die Augenlider auf, ein winziges Zucken störte seine Mundwinkel. Der leicht seitlich nach vorn gebeugte Kopf hob sich langsam, begleitet von einem schmerzlichen Stöhnen, das sich, aus der Tiefe seiner Brust, seinen Weg in die Nacht bahnte.

Im oberen Stock, da! Ganz deutlich verspürte Matthias, wie sich Cecile im Bett unter der Steppdecke zusammenzog. Er konnte die spitzen Beckenknochen fühlen, wie sie sich hart unter dem schmuddeligen Nachthemd abzeichneten, und auch das leise Schlottern nahm er wahr, das von ihrem dünnen Körper ausging, durch die Bettstatt und das ganze Haus zu ihm herunterdrang. Ah, sie war also tatsächlich wach! Die Bürde seiner Hellsichtigkeit wog schwer auf seiner sensiblen Seele.

Wie konnte er ihr nur helfen, den rechten Weg zu finden? Sein müdes Herz tat einen schmerzhaften Sprung bei diesem Gedanken.

Er würde sich dieser Aufgabe stellen, immer und immer wieder, das hatte er sich vorgenommen. Er wusste, dass er am Schluss Recht behalten und alle Widrigkeiten und Hindernisse besiegen würde. Einen kleinen Moment noch wollte er haben, nur einen winzigen Moment noch für sich allein und für seine Gedanken, und dann würde er sich um seine Frau kümmern.

Leise erhob er sich vom Fauteuil und schritt hinüber zum alten Geschirrschrank, worin es leise klirrte. Es quietschte, als er das Flügelchen der Vitrine öffnete. Ein kleines Gläschen stand auf einem gehäkelten Untersatz neben einer bauchigen Flasche mit goldenem Inhalt. Er nahm beides heraus und schenkte sich ein. In einem Zug leerte er das Glas und ließ das wohlige Feuer von seinen Gedärmen Besitz ergreifen. Dann schenkte er nochmals ein und starrte, das Glas in der Hand, durch die Lücke zwischen den vergilbten Gardinen, auf die sich leicht wiegenden Lichter der Straßenlaternen hinter dem Garten und weiter hinein ins Dunkel, das außerhalb der Lichtkegel lag.

Wo lebte Cecile wohl wirklich? Da, im oberflächlichen Schein der Lampen oder jenseits davon? »Aber, die Unendlichkeit ist mein«, flüsterte er die Nacht an.

Den Cognac hinunterkippend, wandte er sich vom Fenster und den dahinterliegenden Mysterien ab, stellte das Glas auf das Deckchen zurück und schloss den Schrank wieder zu. Langsam, tief durchatmend, ging er ins Badezimmer, knipste das Licht an und blinzelte einen Moment irritiert in die nackte Birne, die an einem Draht von der Decke hing. Sofort ließ er den Blick zu Boden gleiten, auf den Flickenteppich aus roten und blauen Streifen. Daneben, auf einem ausrangierten Nachttischchen, stand das Gefäß mit dem Schläuchlein daran und darunter im Kästchen, das wusste er, stand das Nachtgeschirr. Seufzend bückte sich der Friseur, um die Dinge an sich zu nehmen und in die Küche zu tragen. Als er in den Flur kam, hörte er ihr Wimmern.

»Bald, mein Kleines, ich komme ja.«

*

Zu dieser Zeit etwa torkelte Rudolf von der Kneipe her in die Gasse hinein, die ihn mit einem Schwall aus Musik und menschlichen Stimmen angelockt hatte. Der »Wolf« hatte noch auf! Die Zwanzigernote! Wo hatte er die Zwanzigernote hingesteckt? Die suchenden Finger ertasteten ein Stück zusammengeknülltes, weiches, freundliches Papier in der rechten Hosentasche. Erleichtert näherte er sich dem Eingang zum Lokal. Schon wollte er den Arm ausstrecken, um den eisernen Türgriff zu fassen, als die Türe von innen her aufgestoßen wurde und ein Mann, den Rücken durchgebeugt, gurgelnde Laute von sich gebend, an ihm vorüberflog, um zügig in der dunklen Nische zwischen zwei Hausmauern an die Regentraufe zu kotzen.

Rudi nahm, den Betrunkenen ignorierend, nochmals einen Anlauf. Biertriefende Schunkelstimmung; Musikfetzen ländlicher, bayerischer Musikkultur, begleitet von animiertem Frauengekreische und stierigem Männergebrüll, schlugen ihm entgegen.

Das Lokal war brechend voll. Von einem der hinteren Tische winkte eine weiße, kleine Hand nervös zu ihm her. Durch die Alkoholschleier in seinem Schädel behindert, konnte er die zur Hand gehörige Person nicht sogleich erkennen. Den Kopf etwas vorgeschoben, näherte er sich ihrem Tisch. Sie kam ihm bekannt vor, aber nein, das konnte nicht sein. Helen hatte doch keine blonden Haare.

»Was ist Rudeli, erkennst du mich nicht wieder?«, rief sie ihm durch den Lärm entgegen. Doch, sie war es! Jetzt ging ihm auf, dass sie ihr Haar gefärbt haben musste. In hübsch angelegten Locken umrahmte es wasserstoffblond das gepuderte, fein geschnittene Gesicht mit den großen, grauen Augen, die ihn wie dunkle, feuchte Sterne anschimmerten. »Helen! Ich hab dich wirklich nicht sofort erkannt. Siehst so anders aus!«, brüllte er ihr über den Tisch zu. Sein Blick verfing sich in anerkennendem Staunen am weit ausgeschnittenen Dekolletee.

»Du bist wohl schon ein Weilchen unterwegs?«, kam es leicht spöttisch über die lächelnden, grellrot geschminkten Lippen. »Komm, setz dich zu mir. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.« Sie klopfte auf den Platz neben sich, der aus unerfindlichen Gründen leer war. Ihre Augen leuchteten in echter Freude.

Gerne folgte er der Aufforderung seiner einstigen Flamme. Wie schön sie aussah! Ungewollt musste er sie mit seiner kurzbeinigen, drallen Trudi vergleichen und die Frage, was ihn wohl geritten haben mochte, diese hier wegen Trudi zu verlassen, durchkreuzte unangenehm seine Erregung. Wie lange war das doch her!

Damals hatte er Geld in den Taschen, und feinste italienische Kleidung brachte seine schmale Taille und die breiten Schultern zur Geltung. Er war gerade zwanzig Jahre alt und eben mündig geworden. Wie aus heiterem Himmel, ganz ungeahnt, geschweige denn erhofft, war der Brief vom Anwalt gekommen – die Mutter habe, damals als sie starb, ganze zweitausend Franken auf der Bank liegen gehabt, und diese würden nun, mit Zins und Zinseszinsen, dem mündigen Sohne ausbezahlt. In seinem nach Möbelpolitur und Begonien riechenden Büro drückte wenige Tage später ein jovial wirkender, älterer Mann dem lebenshungrigen Rudi seine Erbschaft in die feuchte Hand. Am Strand von Jesolo geaalt, in Venedig Tauben gefüttert, klopfenden Herzens den genuesischen Hafen im Seemannsschritt durchstreift, Übermut mit heimgenommen und immer noch schwebend in all dem Glanz und der lichten Hoffnung, das Flair des Mannes von Welt zu verströmen, hatte er nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt die Bekanntschaft dieser wunderschönen Helen gemacht. Bei einer der Jazztanzveranstaltungen im Kasino Zürich war das gewesen. Und irgendwie so unendlich lange her. Doch jetzt, auf einmal, war die Zeit wie weggeblasen und Helen war gegenwärtig und fassbar, als ob keine vier Jahre seit ihrer letzten Begegnung vergangen wären.

»Ja wirklich, es kommt mir wie eine Ewigkeit vor«, beeilte er sich zu sagen. Er zögerte noch eine Sekunde und dann zeigte er auf den leeren Platz an der Göttin Seite. »Kommt da vielleicht gleich noch jemand zurück?« Auf ihr Kopfschütteln hin glitt er mit Pochen im Herzen und Unterleib neben sie.

»Ach der, den habe ich heimgeschickt. Der war zu betrunken«, sagte sie dicht an seinem Ohr. Eine zartbittere Wolke ihres Parfüms stieg ihm kitzelnd in die Nase. Aufgeräumt fischte Rudi die Zwanzigernote aus der Tasche und knallte sie vor sich auf den Tisch. Er setzte die Miene eines befehlsgewohnten Grandseigneurs auf und ließ seinen Blick, nach der Bedienung suchend, über die roten Köpfe der Anwesenden gleiten. Sie mussten, trotz Rudis autoritärem Blick, eine gute Weile warten. Helen rutschte an Rudis Seite nervös hin und her, und als er endlich seine Bestellung losgeworden war, legte sie ihm ihre bleiche, kleine Hand auf den Arm. Die roten Nägel gruben sich in den festen Stoff seiner Jacke. Eben wollte sie etwas sagen, da wurde sie vom Sänger zurückgehalten, der sich für die Aufmerksamkeit des werten Publikums bedankte und für diesen Abend das letzte Lied ankündigte.

Diese Drohung wurde durch laute Protestrufe der Gäste quittiert und Bestellungen wurden durch den Raum geschleudert. Eine Art Panik schien sich breitzumachen. Mit einem Seufzer zog Helen die Hand wieder zurück. Rudi blickte sie erwartungsvoll mit hochgezogenen Augenbrauen an. Als er merkte, dass es wirklich noch ein Weilchen dauern würde, bis sie einander hören und miteinander reden könnten, blinzelte er ihr aufmunternd zu. Endlich wurde es ruhiger, und Helen schoss in anklagendem Ton los: »Ach Rudi. Was hast du die ganze Zeit über gemacht? Wo hast du dich versteckt? Und was macht, ach wie hieß sie noch gleich?«

Rudi musste sich erst einen Augenblick sammeln. Es war alles so schnell gegangen und der langsam sinkende Alkoholspiegel verursachte ein Wummern in seinem Kopf. Wo sollte er anfangen? Und vor allem, wie sollte er anfangen? Von der Bühne her kam immer noch das Schrumm-Schrumm und Tata-Tata. Der Sänger pries lautstark die Vorzüge seines blauäugigen Mädchens in den höchsten Tönen.

Die zwei jungen Leute steckten die Köpfe zusammen. Durch den Alkohol gelöst, gab seine Zunge Dinge preis, die er vielleicht einmal bereuen würde, gesagt zu haben. Helens offene Augen und ihre warme Nähe ließen ihn, alle Bedenken von sich stoßend, erzählen. Sich windend beschrieb er, was alles, nachdem er im Suff das Auto jenes Industriellen gestohlen hatte, passiert war. Er habe es ja nur für eine Spritztour ausleihen wollen, aber leider war dann am Bahnhof auf einmal der Alfred-Escher-Brunnen da und im Weg. Die Polizei war im Nu zur Stelle und habe ihn sofort mitgenommen.

Es sei ein schweres Vergehen, dessen er beschuldigt werde, hatte der Richter gesagt. Entwendung eines Automobils, das Fahren in betrunkenem Zustand und das Fahren ohne Führerschein hatte er aufgezählt. Obwohl der Autobesitzer seine Klage zurückgezogen hatte – er wolle einem jungen Menschen die Zukunft nicht verderben –, wollte der ehrwürdige Richter ein abschreckendes Exempel statuieren und verurteilte ihn zu sieben Monaten Gefängnis, und zwar in der Strafvollzugsanstalt Regensdorf. Schließlich sei er des Öfteren schon in volltrunkenem Zustand unangenehm aufgefallen und aufgegriffen worden und habe offenkundig nicht die Absicht, sich zu bessern. Habe der Delinquent seine Strafe abgesessen, folgten zwei Jahre auf Bewährung, in denen er den regelmäßigen Besuch bei einer Vertretung des Blauen Kreuzes nachweisen müsse. So habe er also seine Strafe abgesessen und alle darauf folgenden Auflagen erfüllt. Aus Scham, ein Zuchthäusler zu sein, brachte er es nicht mehr fertig, den Kontakt zu ihr, Helen, wieder zu suchen. Was sollte sie denn von ihm denken? Ja, und da habe er dann diese Trudi kennengelernt, und die war offensichtlich gerne bereit, ihn so, wie er war, zu nehmen. »Natürlich habe ich das mit dem Blauen Kreuz durchgezogen, und dann eben die Trudi geheiratet. Jetzt bin ich aus allem raus«, endete er mit tiefer Überzeugung in der Stimme.

Nun war der schmachvolle Teil beendet und er konnte sich wieder ins rechte Licht rücken. Er erzählte breit und lang, in schillerndsten Farben, von der Stelle als Butlerehepaar und schloss tollpatschig: »Und stell dir vor, jetzt hat es endlich bei Trudi eingeschlagen und ich werde Vater.« Er hob das Glas, vermeinte darin einen Schimmer solider Zukunft zu sehen und prostete in den Tabakqualm hinein. In diesem Moment ließ die Kapelle mit ihrem endgültigen Abschiedstusch das Lokal erzittern. Und dann war es, mit einem Mal, sehr ruhig. Die Gäste waren zu müde oder zu betrunken, um nochmals zu protestieren, und schon wurden hier und da Tische und Stühle gerückt.

Polizeistunde!

Helen wirkte ernüchtert. Scheinbar hatte sie ihren Schal verlegt und suchte aufmerksam um sich herum die Plätze ab, wobei sie den Augenkontakt mit Rudi vermied. Langsam drapierte sie ihre Sachen – Handschuhe – Schal – Wintermantel neben sich auf die freigewordene Bank. Rudi, der die Umtriebe Helens mit aufkeimendem Unbehagen verfolgte, fühlte leise Panik in sich aufsteigen. »Helen, aber du bleibst doch noch bei mir, bis sie uns hier rausschmeißen!«, sagte er hektisch. »Wir haben ja noch eine halbe Flasche Wein.«

»Ja, sicher«, erwiderte sie leichthin. Und schnell fügte sie mit belegter Stimme hinzu: »Ach, weißt du, Rudeli, ich, ich hab dich schon sehr lieb gehabt damals!«

»Aber Helen, ich dich doch auch.«

Das Vermächtnis des Heilers

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