Читать книгу Das Vermächtnis des Heilers - Tuya Salina - Страница 6

2

Оглавление

Zur Feier des Anlasses habe ich mir eine Fahrkarte erster Klasse gegönnt. Ausnahmsweise. Aber es scheint mir wichtig, besondere Begebenheiten mit einem Ritual zu feiern. Angenehm still ist es hier im Abteil und die Polster leuchten einladend in weichen, warmen Rottönen. Mit einem wohligen Seufzer lasse ich mich in den sauberen Sitz sinken, entledige mich meines Mantels und werfe ihn mitsamt meiner Handtasche auf den Platz gegenüber. Ich bin völlig allein in dem Raucherabteil. Die Zigaretten habe ich schon auf das Tischchen gelegt. Mit einem Ruck nimmt der Zug seine Fahrt auf. »Es geht los!«, sage ich mir und greife nach den Zigaretten.

Der Zug hat Fahrt aufgenommen. Wir gleiten in den Tunnel unterhalb von Schloss Stein. Baden verabschiedet sich. Im Fenster, hinter dem die Gewölbe vorbeisausen, blickt mir mein Gesicht entgegen, verzerrt und irgendwie zwiefach. Ein Innen und ein Außen der Glasscheibe mit einem wandelbaren Antlitz, inmitten der glatten Flächen gefangen. Die Furchen auf der Stirn des Gesichts zittern im Gleichtakt mit dem nervösen Wabbern der Wangen. Die große Narbe über dem rechten Auge scheint zu glühen, ein pochender Halbmond, fast unbeweglich in all dieser verwirrenden Schnelligkeit. Das Licht am Ende des Tunnels zeigt sich – kommt näher – wird größer, und da fließt sie, die Limmat, links unter mir, mein geliebtes, malträtiertes Scheusal von einem Fluss.

Erinnerungen kommen auf, mein Vater und ich mit unseren Angelruten unten am Ufer. Verzweiflung und Freude verbinden mich mit ihm. Immer warteten wir auf den ganz großen Fang.

Wettingen rauscht draußen, jenseits des Wassers, vorbei.

Gerade hier, in dieser kleinen Stadt, hatte ich gestern nach der Arbeit noch zu tun. Ich sollte mir ein paar Stücke ansehen – einen Wasserspeier, eine Marionette und ein paar Tanzschuhe. Aber es war nur Plunder, der sich in den Hirngespinsten des Anbieters zu außergewöhnlichen Raritäten aufgebläht hatte. Nichts, was sich gelohnt hätte, in mein Angebot aufgenommen zu werden. Hinterher bin ich ausgelaugt und etwas deprimiert in den Bus gestiegen. Todmüde habe ich mir, endlich zuhause, etwas Aufschnitt und Brot, dazu ein Bier mit vor den Fernseher genommen und mich durch die Kanäle gezappt.

Und genau dann passierte es. Auf einmal beschlich mich dieses seltsame Gefühl. Ich glaubte, wieder einen meiner Anfälle zu bekommen. Sieh nicht immer alles so negativ … Ich war müde und eigentlich zufrieden und wollte nur fernsehen. Alles normal, alles in Ordnung. Ich sah verdammt noch mal nichts negativ! Aber da war es wieder. Die Wände verschoben sich, Dimensionen gaben ihr Recht auf Gültigkeit auf, das bläuliche Schimmern der Mattscheibe wurde von tanzenden goldenen Punkten überlagert, und der Raum meines Wohnzimmers verdichtete sich zu einer watteähnlichen Substanz.

Aus einem der sich entfremdenden Winkel der Stube kam ein sirrendes Geräusch. Ein Flüstern, ein Hauchen. Da war etwas und es wollte etwas! Was sollte ich tun? Angst hatte ich keine. Es ist ja nur ein ganz normaler Wahnsinn, der mich immer wieder all diese Dinge erleben lässt. Ich habe mich daran gewöhnt und messe ihnen nicht mehr allzu viel Bedeutung bei. Andere Leute werden auch von solchen Dingen heimgesucht, nur sie nehmen sie nicht wahr. »Ist doch irgendwie alles normal«, sagte ich mir, schob zur Bekräftigung nochmals ein Stück von meinem Wurstsandwich in den Mund und spülte mit einem Schluck Bier nach. Das Sirren verdichtete sich zu einem Singsang. Morsezeichen gleich kam es abgehackt aus meiner Wohnzimmerecke. Ich beschloss, ein wenig hinzuhören. Ja, es war wieder einmal eine Stimme. Na toll! Ich zappte weiter. Die Nachrichten des Tages trugen auch nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Ich konnte mich nicht auf die Beiträge konzentrieren. Das Morsen hörte nicht auf. Es war stur und ging mir langsam auf die Nerven. Was sollte ich tun? Mich ins Bett legen und einmummeln, um acht Uhr abends schlafen? Warum nicht? Ich ging ins Bad und widmete mich ganz der körperlichen Pflege. Gebadet und in einen sauberen, nach Frische duftenden Pyjama gehüllt, schlug ich mein Bett auf. Ich versuchte noch ein wenig zu lesen. Vergeblich, der Störsender am Rande meiner Wahrnehmungsmöglichkeiten funkte weiter. Die Stimme rief und rief. »Was willst du?«, fragte ich die Zimmerdecke.

»Komm zu mir. Komm mich besuchen! Komm deinen Patenonkel besuchen.«

Wie, meinen Patenonkel? Ich hatte den Mann das letzte Mal vor dreißig Jahren gesehen. Es war das erste und das letzte Mal, dass ich meinem berühmt-berüchtigten Patenonkel begegnet bin. »Das kann doch nicht sein«, sagte ich mir.

Ich muss tatsächlich schizoid sein, kam ich wieder einmal zu der Überzeugung.

Ich beschloss, die Stimme zu ignorieren. Kurz entschlossen griff ich wieder zur Fernbedienung und suchte nach einem Film. Irgendwo musste doch für rechtschaffene, arbeitende Leute ein netter Film laufen!

»Alle Fahrscheine ab Baden«, holt mich die Stimme des Schaffners wieder in mein Zugabteil zurück. Eifrig legitimiere ich meine gespenstische Anwesenheit auf den weichen Polstern durch das Erste-Klasse-Ticket. Nach einem skeptischen Blick auf mich und dann auf meinen Fahrschein knipst er die erste Strecke meiner Reise ab.

*

Die Bedienung war an den Tisch getreten und stellte das Glas, in dem die dampfende, bernsteinfarbene Flüssigkeit kurz aufschwappte, vor Rudi hin. »Zum Wohl«, wünschte sie.

Rudolf war aus seinen Erinnerungen gerissen worden. Zu spät erkannte er, dass kein »Danke« über seine Lippen gekommen war. Seine Augen auf das weiße Schürzchen geheftet, das am Bauch der Serviertochter das große Portmonee verdeckte, kam er sogleich wieder ins Grübeln. So würde auch Gertruds Bauch bald aussehen. Nur da wäre eben kein Geld darin, sondern ein kleines, forderndes Wesen.

Er nahm ganz vorsichtig, mit spitzen Lippen, einen Schluck vom heißen Kaffee – und hätte sich trotzdem beinahe den Mund verbrannt. Einen Fluch abwürgend suchte er nach seinem Taschentuch, um sich den klebrigen, streng nach Schnaps riechenden Kaffee vom Kinn zu wischen. Die Tür neben dem langen Buffet wurde aufgestoßen und Matthias trat herein. Ohne sich weiter umzublicken oder zu grüßen, steuerte er direkt den Tisch seines Freundes an. »So, da bin ich schon. Hast nicht lange warten müssen, gell?«

»Was war denn mit der Frau?«, wollte Rudolf, ein lüsternes Flackern in den Augen, neugierig wissen.

»Ach, eine kleine Sache nur. Aber du weißt ja, wie Frauen sind.« Matthias schälte sich aus seiner alten braunen Winterjacke und hängte sie an einen Haken. Mit einem wohligen Seufzer glitt er auf den Platz Rudi gegenüber.

»Ja wie sind sie denn?« Rudolf konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Schließlich war ja wohl eher er der Experte in Sachen Frauen, seiner Ansicht nach zumindest.

»Sie sind eben zart und zerbrechlich in ihrem Innersten, obwohl sie Ungeheuerliches leisten und ertragen können. Sie sind fähig, jede Erniedrigung und das ganze Leid der Welt auf ihren schmalen Schultern zu tragen. Sie sind zu allen Opfern bereit. Das Erschreckende ist, dass sie, die Gepeinigten, noch dankbar die Hand des Peinigers küssen und diesen immer wieder gewähren lassen. Sie lassen sich Schmerz zufügen, den sie unbewusst wieder und wieder suchen. Ich weiß nicht, wieso sie dazu ausersehen sind, diese Opfer zu bringen. Vielleicht wachsen sie daran. Aber sie benötigen etwas Unterstützung und Zuspruch.«

Obwohl sein Freund offensichtlich kein Wort von dem verstand, was er da sagte, fuhr Matthias mit seinen Ausführungen unbeirrt fort. »Diese da hatte immer Schmerzen in der Herzgegend. Die Ärzte aber konnten nichts finden, und trotzdem kamen die Schmerzen immer wieder. Ich habe gemerkt, dass ihre Seele Kummer hat. Sie wird nicht geliebt von ihrem Mann. Er ist ein böser Mensch, glaube ich, mit einer dunklen Seele, die sich selbst und andere ins Verderben reißen will. Eigenartig, wie sich Frauen immer wieder zur Dunkelheit hingezogen fühlen.« Eine Pause – sein Blick glitt kurz durch den Saal, um sich sogleich scharf und schmal wieder auf seinen Tischgenossen zu legen.

»Immer und immer wieder begehen sie denselben Fehler und entscheiden sich für einen dunklen Menschen.« Versonnen hielt er wieder einen Moment inne.

»Wahrscheinlich«, fuhr er fort, »müssen sie das tun, um das Dunkel mit ihrem weiblichen Licht zu erhellen.«

»Soso.« Rudolf hatte darauf nichts weiter zu sagen gewusst. Einmal mehr wunderte er sich über seinen Cousin. Nie konnte er genau verstehen, was im anderen vorging, geschweige denn, woher Matthias all dies eigenartige Wissen, diese Anschauungen und seine besonderen Fähigkeiten besaß. Immerhin war er ja nur sieben Jahre älter als er selbst. Aber schon immer war er ihm sehr reif erschienen, viel flinker und auch gescheiter. Immer schon hatte er sich mit eigenartigen Schriften und dicken Wälzern herumgeschlagen und gescheites Zeug geredet. Auch zu jener Zeit, als er Rudi mitgenommen hatte auf seine Streifzüge durch die Bars und Kneipen der Stadt. Matthias war ja längst schon verheiratet und betrieb seinen Frisiersalon, aber trotzdem hatte er es sich nicht nehmen lassen, dem Jungen die dunklen Seiten der Stadt zu zeigen um, wenn auch sturzbetrunken, im hintersten Puff noch über die Wesensart der Menschen zu sinnieren. Rudolfs Gefühle schwangen ins Melancholische bei diesen Erinnerungen. Und dass er Trudi kennen gelernt hatte, ging ja auch auf das Konto von Matthias. Er war eben erst aus seiner Haft entlassen worden und Matthias war sogleich zur Stelle, um mit ihm eine gewaltige Sauftour zu unternehmen. Schließlich landeten sie dann im Kasino, bei Boogie-Woogie und Bier und massenhaft Weibern. »Schau dir die an«, hatte er ihn lachend auf Trudi aufmerksam gemacht, die ungehemmt tanzte und die Refrains der Gassenhauer lautstark mitsang. »Die wär doch was für dich, bei der kommt sicherlich keine Langeweile auf.« Und dann war er eben hingegangen und hatte sie aufgefordert. Es war so leicht. Sie war gleich hin und weg. Und er? Ach, was soll’s. Er hatte jetzt seinen Platz und überhaupt, es hatte keinen Wert, sich über Vergangenes den Kopf zu zerbrechen.

Rudolf beobachtete, wie der Freund seine Handschuhe feinsäuberlich nebeneinander auf den Tisch legte und sie mit seiner weißen Hand glattstrich, wobei er seinen Blick auf der Suche nach der Bedienung durchs Lokal schweifen ließ. Diese hantierte gerade am Buffet mit einer Schnapsflasche, drehte sich aber in diesem Moment um, als ob sie gespürt hätte, dass man sie beobachtete. Als die junge Frau Matthias’ Blick auf sich gerichtet sah, wurde sie rot. Matthias nickte ihr freundlich zu. Als sie an den Tisch trat, hatte sich ihr Teint immer noch nicht erholt und zeigte nach wie vor zwei hübsche, runde, rote Bäckchen.

»Was ist gefällig?«, fragte sie scheu.

»Guten Abend, Agnes, bitte bring mir doch einen halben Liter von dem guten Roten mit zwei Gläsern.«

Fragend schaute er kurz zu seinem Cousin hinüber. Als dieser nickte, fügte der Friseur in aufgeräumtem Ton hinzu: »Und dann können wir noch etwas in den Magen vertragen. Sei doch so nett und organisiere uns eine Platte mit allerlei Fleisch, Gürklein und etwas Käse.«

Die Kellnerin nickte eifrig und wollte sich eben abwenden, da wurde sie von Matthias am Handgelenk zurückgehalten. Er lächelte sie versonnen an. »Und wie geht es dir, mein Liebes? Ist es besser geworden?«

»Ja, ja, es ist glaube ich schon besser geworden«, stotterte sie und nickte eifrig, wobei sich ihre Wangen schon wieder röteten.

»Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Am Anfang kann es zuerst schlimmer werden, das ist ganz normal. Aber nach ein paar weiteren Behandlungen fühlst du dich wieder ganz wohl.«

»Nein, nein, das ist gar nicht nötig. Ich fühle mich bereits schon viel besser, wirklich«, beteuerte sie.

Als das Mädchen durch die Tür zur Küche verschwunden war, konnte Rudolf seine Neugierde nicht mehr zügeln. »Und was hat der gefehlt?«, platzte er heraus.

Aber Matthias schüttelte nur den Kopf. »Was denkst du dir? Ich darf doch nichts herumerzählen. Du musst verstehen, mein Lieber, und das habe ich dir schon einmal gesagt: Diese Leute müssen mir unbedingt vertrauen können. Sie brauchen jemanden, der sie sicher über die Abgründe der eigenen Ängste führt. Sie benötigen einen Menschen, dem sie alles anvertrauen können, sogar ihre tiefsten Geheimnisse. Sicherlich, eigentlich wäre hier die Kirche zuständig, ein Beichtvater oder sonst ein christlicher Seelsorger. Aber viele Menschen haben ihren Glauben an die Kirche verloren, und trotzdem oder besser gesagt gerade deswegen suchen sie Halt. Sie suchen Sinn, sie haben nicht gelernt, ihre eigene Existenzberechtigung zu akzeptieren. Und da kommen sie zu mir. Sie wissen, dass ich sie heilen kann und erlösen von ihren innersten Schmerzen. Aber um meine Arbeit richtig und gewissenhaft zu erledigen, muss ich verschwiegen sein. Versteh doch, ich mache dies nicht aus Neugier oder um mich wichtig zu machen, sondern aus Berufung.«

Rudolf nickte. »Ja, ich weiß schon ungefähr, was du meinst, obwohl ich nicht verstehen kann, wie du das machst, und ehrlich gesagt verstehe ich auch nicht immer ganz genau, was du sagst. Wie zum Beispiel: Jemanden über die Abgründe der eigenen Ängste führen. Wo sind denn diese Abgründe?«

»Na, nun denk doch mal nach. Wie viele Male hast du dich vor etwas gefürchtet und im Nachhinein ist dir dann klar geworden, dass du dir selbst Angst gemacht hast? Du kanntest dich eben noch nicht so gut in dieser oder jener Situation, aber mit der Zeit und den Fehlern, die du unausweichlich machen musstest, hast du gelernt, mit gewissen Problemen umzugehen, und fürchtest dich nicht mehr, weil du eben an Selbsterfahrung gewonnen hast.«

»Das leuchtet mir irgendwie ein«, sagte der Jüngere, sich seiner Grübeleien von vorher erinnernd.

»Aber schau, da kommt ja unser Wein.« Rudolf, froh, sich leichterer Kost zuwenden zu können als den tiefschürfenden Gedanken seines Cousins, streckte seinen Rücken durch, der vom Sitzen auf der harten Bank ganz steif geworden war, und schaute den kleinen Händen der Bedienung zu, wie sie, den Hals der Karaffe würgend, den rubinroten Wein in die Gläser plätschern ließ.

Die beiden Männer hoben nun feierlich die Kelche, darin es sündhaft schön funkelte, zum Prosit.

»Auf unser Kind, Rudolf, und auf seine gesunde Seele!« Matthias’ Augen leuchteten triumphierend. Die Worte seines Freundes ließen Rudis Stolz aufkeimen. Eine warme Welle öffnete ihm die Brust, und es wurde ihm ganz leicht.

»Auf meinen Sohn. Ich werde Vater!« Mit einem dankbaren Blick zu Matthias nahm er einen tiefen Schluck und setzte darauf das Glas mit einem übermütigen Knall hart vor sich auf den Tisch.

»So, jetzt musst du mir aber von Anfang an alles erzählen«, forderte der Friseur seinen Cousin auf. Sie rückten noch ein wenig näher zusammen, damit die wenigen anderen Gäste hinter ihnen im Schankraum keine langen Ohren bekamen. Und eingehüllt in die familiäre Wärme, die die beiden Männer verband, fing Rudi an zu berichten, wie es dazu gekommen war, dass es bei der Trudi endlich doch noch eingeschlagen hatte.

»Du weißt doch noch, welche Probleme wir wegen der Tanten hatten. Ach, du warst es ja selbst, der riet, erst einmal zu heiraten und zu warten, bis sich die Wogen geglättet haben würden«, holte Rudolf eifrig aus. Aber da wurde er auch schon von Matthias gebremst: »Ja, mein Lieber, du musst mir nicht erzählen, was ich schon weiß, sondern was ich noch nicht weiß. Du kamst vor einem halben Jahr zu mir und hast mir gesagt, dass es bei euch nicht richtig weitergehen will. Trudi hat um der Tanten willen die Räuberhöhle verlassen und hat sich mit dir in der Zürcher Waschanstalt vorgestellt. Die haben euch auch genommen, aber ich muss sagen, ich habe es vorausgesehen. Trudi war die Arbeit zu schwer. Immer in der Nässe da und im Dampf. Also wurde sie krank, und da bist du zu mir gekommen, um Rat zu holen. Die Tanten piesackten euch ja immer noch, und das kommt noch dazu, Trudi wurde nicht schwanger, obwohl ihr euch doch so sehr ein Kind gewünscht habt. Immerhin wart ihr da schon, lass mich nachrechnen, gut zweieinhalb Jahre verheiratet. Wenn eine Frau nicht schwanger wird, hilft in den meisten Fällen eine Luftveränderung, erst recht aber eine gesunde Distanz zu weiteren Unannehmlichkeiten – in diesem Fall den Tanten. So weit, so gut. Ihr habt euch meinen Rat zu Herzen genommen und euch in Basel um eine Stelle als Haushälterehepaar bemüht.«

»Butler«, warf Rudolf ein.

»Was hast du gesagt?«

»Wir haben eine Stelle als Butler-Ehepaar.«

»Ja, ja, das ist der modernere und elegantere Name dafür.« Matthias’ rechte Augenbraue hatte sich missbilligend in die Höhe geschraubt, um sogleich wieder ihre gewohnte Stellung einzunehmen. »Ehrlich gesagt finde ich das eine etwas eigenartige Weise, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Nun gut, ihr dient auf eine Weise und ich auf eine andere. Aber lassen wir das. So, dann wollen wir doch weiterfahren mit dem zweiten Teil. Ah, aber erst mal eine Unterbrechung. Da schau, welch schöne Wurstplatte uns die Agnes bringt!«

»So, bitteschön. Ist es recht so?« Agnes wrang unbeholfen ihre Hände.

»Aber sicher, wunderbar sieht das aus, nur ein wenig Brot hätten wir schon noch gern dazu, gell?«

»Oh, das habe ich ganz vergessen.« Schon eilte die verwirrte Bedienung wieder davon. »Und Senf«, rief ihr der jüngere Gast nach. Das Wippen von Agnes’ Wuschelkopf bestätigte die Bestellung. Erst jetzt, als die schön dekorierte Fleischplatte vor ihnen stand, merkte Rudolf, wie hungrig er war. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Am Morgen waren Trudi und er früher als gewöhnlich aufgestanden, um alles für den heutigen Tag, den Gertrud alleine würde bestreiten müssen, vorzubereiten.

Als der Wecker klingelte, war es sechs Uhr. Gertrud hatte sich, leise vor sich hinwetternd, aus dem warmen Bett geschält. Im Licht der kleinen Nachttischlampe streifte sie sich ihren wattierten Morgenrock über, schlüpfte in ihre Hausschuhe und fuhr sich mit den Händen übers verschlafene Gesicht.

»Also, dann mach ich mal Kaffee«, brummte sie und mühte sich aus dem Schlafzimmer. Rudolf blieb noch einen Moment liegen. Er gab sich, in die weichen Kissen gekuschelt, der Vorfreude auf den Freitag und die kleine Reise hin, die sich wie ein heimlicher Besucher angeschlichen hatte. Bevor aber das schlechte Gewissen ihn wieder aus seinen wohligen Reisefiebereien holen konnte, gab er sich einen Ruck und machte, dass auch er aus den Federn kam. In den Pantoffeln schlurfte der junge Butler den langen, gewölbten Kellergang entlang, um der Zentralheizung einen Besuch abzustatten, die nach der nächtlichen Pause eben erst wieder ihren Dienst aufgenommen hatte. Er kontrollierte den Stand der Anzeigen über Druck, Temperatur und Öl. Alles war in Ordnung. Auch dem hochherrschaftlichen Boiler wurde eine Prüfung zuteil. Nachdem auch diese zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war, huschte Rudolf zu seiner Frau in die Küche. Fröstelnd stand er für ein Weilchen neben ihr am Gasherd und beobachtete die kleinen Bläschen des Kaffeewassers, die vom Pfannenboden zur Oberfläche heraufdrängten. Draußen vor den beiden Oberfenstern hing immer noch das Dunkel der Nacht. Außer dem Summen der Heizung nebenan, dem leisen Fauchen der blauen Gasflamme und dem Sieden des Wassers war es im Haus noch völlig still. Ein Hauch von Gas schwebte im Raum, zusammen mit dem Duft des frisch gemahlenen Kaffees. Von der hohen Decke hing eine verschnörkelte Glastulpe, darin eine Sechzig-Watt-Birne, die die blitzblanke Küche ins rechte Licht rückte. Wie sie so nebeneinanderstanden und dem Wasser zuschauten, wie es langsam zu brodeln begann, schien es fast, als seien sie beide alleine auf der Welt, abgeschirmt und wohl behütet hier unten im Bauch der Villa. Das eindringliche Brodeln des Wassers riss sie aus ihrer warmen Zweisamkeit und drängte sie ihren Pflichten entgegen.

Rudolf eilte ins etwas muffig riechende Badezimmer und unterzog sich einer Blitzreinigung mit Waschlappen und etwas Seife. An den ausladenden Bauch des Waschbeckens gelehnt, ließ er den Zipfel des Lappens durch seine Zehenzwischenräume gleiten, auf der Suche nach Fusseln und abgestorbenen Hautpartikeln. Ob der Waschlappen fündig geworden war, interessierte ihn eher wenig. Rudolfs sehnsüchtiger Blick hatte sich bereits narzisstisch an seinem Spiegelbild festgesogen, um sich eingehender mit Bart- und Nasenhaaren zu beschäftigen. Gründlich seifte er sich mit dem breit schmatzenden Rasierpinsel ein, bis nur noch die dunklen kleinen Höhlen seiner Nüstern im weißcremigen Schaum zu sehen waren. Mit einer winzig kleinen, spitzen Schere, die ihm die Baronin zu ebendiesem Zweck wohlwollend überlassen hatte, schnippelte er in seinen Nasenlöchern herum. Er verzog das Gesicht nach links und rechts, um besser an die auf diese Weise entblößten Stellen zu gelangen. Als nichts Haariges mehr die Aussicht auf seine nasalen Atemwege störte, schabte er den Bart ab. Zum Schluss wusch er sich nochmals so heiß wie möglich das Gesicht. Jedes Mal, wenn er zu diesem Stadium der Prozedur gelangte, erfüllte ihn Genugtuung ob der eisernen Disziplin, mit der er den brennenden Schmerz, den das heiße Wasser auf seiner Haut hinterließ, wegsteckte. Stolz darauf, ein ganzer Kerl zu sein, blickte er in sein krebsrotes Gesicht und ließ seine gut ausgebildeten Brustmuskeln spielen. Dann waren die Nackenmuskeln dran, am Ende atmete er zur Entspannung und Erholung ein paar Mal tief ein und aus. Das diente auch der Vorbereitung zum Griff nach der Halbliterflasche Rasierwasser, ebenfalls ein Präsent der Baronin. Ein letztes Mal den Atem anhaltend, schwappte er sich das scharfe Zeug mit beiden Händen ins Gesicht. Fluchend machte er, dass er aus dem Badezimmer kam.

Zum Frühstück nahm er sich in der großen, herrschaftlichen Küche eine Tasse Kaffee, den Trudi gerade in die bauchige Silberkanne goss. Peinlich darauf bedacht, seinen Dienstanzug nicht zu bekleckern, schlürfte er im Stehen den heißen Kaffee, um gleich darauf die Herrschaft zu bedienen. Für den Rest des Tages hatte Rudolf ohne Umstände frei bekommen. Die Frau Baronin konnte ihm nichts abschlagen. Normalerweise nahm sie ihr Frühstück im Bett ein, nachdem ihr Mann, Doktor von Murlott, schon das Haus verlassen hatte. Er hingegen schien Spaß daran zu haben, mit dem Dienerehepaar in der Küche zu frühstücken. Aber heute war für die Herrschaften im kleinen Salon aufgetragen worden. Die Frau Baronin hatte erklärt, sie müsse zu einer frühen Anprobe beim Schneider und nachher zu einer Visite. Auch zu Mittag speise sie auswärts, und Trudi könne sich getrost den Tag in aller Ruhe einteilen. So war alles bestens geregelt.

Später dann, im Zug, das triste Fricktal huschte draußen vorbei, begann Rudolfs Magen zu knurren, und die restliche Fahrt nach Zürich schien ewig zu dauern. In der Eile hatte er nicht daran gedacht, sich etwas Reiseproviant einzupacken, und um im komfortablen Speisewagen etwas zu essen, fehlte das Geld. Schon die Fahrkarte hatte ein Loch ins Budget gerissen.

»Warum musst du auch ins Zürcher Oberland fahren«, hatte Trudi gemault, »du könntest genauso gut mit deinem Busenfreund telefonieren.«

»So etwas bespricht man nicht am Telefon«, entgegnete Rudi, wobei er einen Anflug von schlechtem Gewissen mit Erfolg niederkämpfte. Wenn er ehrlich war, hatte er es so richtig nötig, wieder einmal von allem hier wegzukommen. Die Butlerstelle war ja eigentlich eine gute Sache. Sie beide, er und Gertrud, in ihrer eigenen hübschen kleinen Kellerwohnung, meist ganz für sich – und weit weg von den unkenden Tanten.

Und trotzdem fühlte er sich zwischen Trudi und der Baronin eingekeilt. Die langersehnte Schwangerschaft Trudis machte sie sehr gereizt. Seit ein paar Wochen schon nörgelte sie ständig an allem herum. Jetzt wusste er, weshalb. Aber noch vor einem Monat hatten sie keine Ahnung von ihrem Elternglück in spe. Trudis Menstruationen kamen und gingen, wie es ihnen passte. Seit sie nach Basel gezogen waren, kannte Trudis innere Uhr sowieso keinen Rhythmus mehr. Die Frau Baronin, verwöhnte Tochter eines Großbankiers, forderte äußerste Aufmerksamkeit. Rudi war zu ihrem speziellen Kammerdiener geworden und musste, ständig des Läutens der Dienstglocke gewahr, auf der Hut und erreichbar sein. Der Umstand, dass er keinen Führerschein besaß, hatte die Einstellung der beiden erschwert. Schließlich besaßen die von Murlotts einen eierschalenfarbenen Mercedes. Aber die Bereitschaft der jungen Leute zu harter Arbeit und nicht zuletzt die geringen Lohnforderungen schienen die Herrschaft überzeugt zu haben. Trudis Ansicht, dass der Herr Doktor von Murlott die einfache Kost der anspruchsvollen Haute Cuisine vorziehe, weil er eben ein bescheidener, in seinem Herzen schlichter Mensch sei, wollte Rudi nicht so recht gelten lassen. Eher schien ihm, dass der Herr wenn schon nicht geizig, so doch sehr sparsam war, da ihm jede kleine Ausgabe ein schmerzliches Verziehen seiner Gesichtsmuskulatur abverlangte. Rudolf rechnete sich in seinen skeptischen Momenten aus, wie viel mehr Lohn sie einem wirklich gelernten hochherrschaftlichen Butler hätten zahlen müssen.

Die Baronin hatte es sich nicht nehmen lassen, ihnen persönlich alles von der Pike auf zu erklären und einzubläuen. Unermüdlich korrigierte sie die jungen Leute beim Bedienen am Tisch, sie erinnerte an ihre Haltung (»Gertrud, auf die Fußspitzen achten und den Bauch einziehen«) und hielt sie an, sich einer etwas geschliffeneren Sprache zu befleißigen. Gertrud erwies sich (sie war schon immer ungeduldig gewesen) auf die Dauer als zu ungeschickt und strapazierte mit ihren lauten Protesten über so ein kompliziertes Theater die Nerven der Baronin über Gebühr. So wurde schließlich der Bauerntrampel, wie sie von der Herrschaft in einem fiaskoschwangeren, unliebsamen Moment betitelt worden war, in die Küche verbannt, wo ihr der Herr Doktor gerne bei Kaffee und, wenn möglich, einer einfachen Rösti Gesellschaft leistete.

»Rudolf«, hatte die Baronin am ersten Arbeitstag zu ihrem Diener gesagt, »Sie tragen zwar einen sehr schönen, um nicht zu sagen adelig anmutenden Namen, heißt doch ein lieber Großonkel von mir genauso«, dabei blinzelte sie ihm wohlwollend zu, »aber wir hatten stets nur Stephane in unseren Diensten. Ich möchte mich nicht an neue Namen und andere Sitten gewöhnen müssen und werde Sie von jetzt an Stephan nennen.« Da Rudolf keine Anstalten machte zu widersprechen, war das also geregelt. Zur Freude der Baronin war der gut aussehende neue Stephan sehr aufnahmefähig und bereit, das eben Gelernte ständig auf eleganteste Weise zu praktizieren. Und so oft sie die Kordel bediente, um ihren Diener herbeizurufen, wurde sie nicht enttäuscht. Sogleich stand er da in korrekter, von Aufmerksamkeit und bester Dienermanier strotzender Haltung. (»Stephan, achten Sie darauf, dass Sie nie breitspurig dastehen, das sieht so herausfordernd aus. Immer schön die Beine gerade und geschlossen, die Hände locker an der Seite, aber die Ellbogen leicht angespannt. Den Rücken schön gerade, aber mit einem Hauch von Vorwärtsdrall. Sie wissen, was ich meine.«) Anfangs, als Stephan zu seinem Erstaunen der Dame des Hauses beim Ankleiden behilflich sein sollte, gelang es ihm nur schlecht, seine Überraschung und seine Scheu zu verstecken. Und zu allem Überfluss an Peinlichkeit spürte er, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Die Baronin hatte sofort bemerkt, dass sie den jungen Mann in Verlegenheit gebracht hatte, und rief, ihrem österreichischen Dialekt freien Lauf lassend: »Aber, aber, mein Lieber! Da legens in der Tat kein professionelles Verhalten an den Tag. Nun kommens schon und helfens mir mit dem depperten Reißverschluss.«

Wieder unten in der Küche fand er nicht den Mut, seiner Frau von der neusten Aufgabe, mit der er betraut worden war, zu berichten. Er kannte Gertrud bereits so gut, dass sie diese nicht gutheißen und schnurstracks zu ihrer Dienstherrin laufen würde, um der gehörig die Meinung zu sagen. »Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß«, hatte er bei sich gedacht und half der sowieso schon gereizten Gertrud beim Polieren des Familiensilbers.

»Komm, lang zu«, forderte ihn Matthias eifrig kauend auf. Er spülte mit einem tüchtigen Schluck Wein nach und ließ das Glas einen Moment über der Platte kreisen. Rudi ließ sich nicht zweimal bitten und häufte Speck und Schinken nebst einer Salzgurke und etwas Russischem Salat auf seinen Teller. Aus dem Senftopf wanderte noch ein dicker Klacks zur Ergänzung des Potpourris auf den Teller – und dann war er nicht mehr zu halten. Er wusste, seine Gier sprach Bände, und für Matthias war es sicherlich ein Leichtes, sich einen Reim auf den Appetit seines Freundes zu machen. Aber er war jetzt einfach zu hungrig, um sich seiner ständigen Geldsorgen wegen zu schämen. Matthias hielt auch mit großem Appetit mit. Fast hätte man meinen können, er schlinge absichtlich, um dem anderen die Hemmung zu nehmen. Als er sah, dass sein Freund ein wenig zu Atem gekommen war und seine Gesichtsfarbe einen gesunden Teint angenommen hatte, tupfte er sich den Mund mit der Serviette sauber. »Also, wie steht’s? Im wievielten Monat ist sie jetzt?«

Rudolf schüttelte kauend den Kopf. »Das wissen wir eben nicht so genau. Es könnte der zweite oder der dritte sein. Wenn nicht sogar der vierte. Du weißt ja, wie unregelmäßig sie ihre Periode hatte. Aber«, er griff zum Glas, während er mit der Gabel in Richtung Decke fuchtelte, »müssen wir gerade jetzt über diese unappetitlichen Details reden?«

»Aber Rudolf, das ist die Natur des Menschen, und die Natur des Menschen war schon immer unappetitlich. Nun gut, wie du willst.« Matthias studierte das bunte Häufchen Salat auf seiner Gabel. »Sag: Geht es ihr gut? Hat sie keine Beschwerden?« Die Gabel zögerte noch einen Moment vor Matthias’ geöffnetem Mund.

»Soweit ich das beurteilen kann, ist, glaube ich, alles bestens.«

Das Salathäufchen wanderte seiner Bestimmung entgegen, begleitet von einem zufriedenen Grunzen des Friseurs.

»Das hört man gerne. Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Weiter, weiter! Hat sie Appetit, ist ihr manchmal übel? Und wie hat sie auf die Tropfen reagiert, die ich euch zubereitet hatte?«

Der junge Mann nahm schmatzend einen Schluck, fuhr sich seinerseits mit der Serviette über den Mund, und nachdem er dezent in das Tuch vor seinem Mund gerülpst hatte, war er so weit. »Die Tropfen hat sie gleich fleißig genommen. Ehrlich gesagt hast du mir damit einen Gefallen getan. Na du weißt schon.« Rudi zwinkerte verschwörerisch über den Tisch. Matthias nickte und winkte ab. »Ich weiß, was du meinst. Aber das ist sozusagen nur ein Nebeneffekt, der sich auf die Dauer verflüchtigt. Sorge einfach dafür, dass sie die Tropfen weiterhin nimmt. Sie stärken die Gebärmutter und enthalten wichtige Ingredienzen für Knochen und Nägel. Und wie ist ihr Appetit?«

»Das solltest du sehen, die ist völlig außer sich, verspeist kiloweise eingemachten Spargel. Spargelomelett, Spargelbrote mit viel Majonäse, Spargel mit gerösteter Butter. Oder sie greift einfach mit bloßen Händen ins Glas und fischt sie sich heraus, um sie an Ort und Stelle zu verschlingen. Richtig süchtig ist sie danach. Zum guten Glück hat die Herrschaft genügend von dem teuren Zeug im Keller lagern. Stell dir vor, ich müsste das alles von meinem kleinen Lohn berappen.«

»Und diese Leute haben nichts dagegen, wenn sich ihre Angestellte in der Weise bedient?«

»Zuerst haben wir es gut verheimlichen können, du musst dir vorstellen, die haben wirklich eine gewaltige Speisekammer – und dann erst der Weinkeller! Also da sind Weine dabei, die sind … Ja, ist ja schon gut. Also vor zwei Wochen haben wir es der Frau Baronin gesagt. Wir wissen es ja selbst erst seit knapp vier Wochen. Ich hatte ganz schön Schiss. Man weiß ja nie, wie solche Leute reagieren.« Diese Feststellung ließ er erst mal im Raum stehen, um sich nochmals einen Streifen Speck in den Mund zu schieben. Dann fuhr er fort: »Aber es war gar nicht schlimm. Sie hatte mit ihrem österreichischen Dialekt ausgerufen: ›Jesses, ein Glückszwergerl ist unterwegs!‹, und hat gefragt, wie es der Frau gehe und ob wir etwas bräuchten. Da habe ich ihr gestanden, dass Trudi ganz krank vor Verlangen nach den eingemachten Spargeln sei. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen. Weißt du, sie hat doch so gezupfte Augenbrauen, und wenn sie nicht geschminkt ist, sieht sie aus wie der leibhaftige Mond. Ihre Augen sind ganz groß geworden und mit ihrem Schmollmund formte sie ein kleines O. ›Ja so was aber auch‹, sagte sie, ›gleich auf die teuren Spargeln musste sie verfallen? Es ist mir wirklich schleierhaft, wie so ein Proletariergaumen funktioniert. Ja da schauens eben, dass sich des Ganze ein wenig in Grenzen hält. Aber ein Glückszwergerl, so was!‹ Und damit war die Sache erledigt.«

Matthias legte Messer und Gabel auf seinen leeren Teller.

»Komm, mach du die Platte fertig, ich bin satt. Das ist ja alles sehr erfreulich.« Mit einem zufriedenen Lächeln griff er zur Weinkaraffe und lauerte auf Agnes’ Augenmerk. Sobald der Kontakt hergestellt war, schwenkte er das leere Gefäß in Richtung Buffet. Er fragte: »Hat denn diese Baronin selbst keine Kinder?«

»Die beiden sind kinderlos geblieben und es wird auch nichts mehr nachkommen. Glaube ich jedenfalls, denn die Frau ist schon um die fünfzig.«

»Ja, dann ist es gut möglich, dass sich diese Hochwohlgeborenen ehrlich auf euer Kind freuen. Wobei, ich würde darauf nicht zu viel verwetten. Ihr Blut und euer Blut haben eine ganz andere Farbe.«

Auf diese Feststellung hin gerieten sie einen Moment in besinnliches Schweigen, das Matthias selbst wieder brach, als Agnes den Wein kredenzte. »Aber was erzähle ich da für einen Unsinn? Es ist Zeit, sich zu freuen und die unliebsamen Gedanken zu verscheuchen. Prost Papi.«

Rudolf feixte über den Rand des Glases seinen Freund an. »Prost, mein Guter. Ach, ist das Leben nicht schön?«

Bei einer guten Zigarre gab der Butler noch ein paar Anekdoten aus der Basler Villa zum Besten. Er berichtete von den alltäglichen Gepflogenheiten dieser eigenartigen Leute, von den Essgewohnheiten, den Einrichtungsgegenständen und von jenem Ball, bei dem er die Gäste in Empfang zu nehmen hatte, um ihnen den Willkommenstrunk zu offerieren. »Stell dir vor, da war eine echte indische Prinzessin. Als ich der jungen Majestät in ihren Mantel half, steckte sie mir doch glatt ganze fünfzig Franken Trinkgeld zu. Und wie gut die Dame gerochen hat! Mann, ich sage dir, das ist eine ganz andere Welt.«

»Und, wirst du nicht neidisch bei so viel Prunk und Reichtum?«

»Ach was soll’s. Die sind so weit oben und wir so weit unten. Was nützt es da, sich das Leben mit Neid zu vergällen. Es ist eben alles so, wie es ist, und wir Schwachen können daran nichts ändern. Das war schon immer so. Wir hätten es bei Weitem schlechter treffen können.«

Zu diesen tiefschürfenden Ausführungen seines Cousins nickte der Friseur bedächtig. Einige strenge Fältchen kräuselten sich an Mundwinkeln und Stirn. »Wem die Macht gehört, gehört das zukünftige Leben der Menschen. Apropos Zukunft. Ihr haltet euer Versprechen doch und habt es euch, da es jetzt ja geklappt hat, nicht anders überlegt?« Matthias’ Blick hatte sich nach einer positiven Antwort heischend auf Rudolf geheftet.

»Was anders überlegt?«

»Na, das mit der Patenschaft. Ich werde doch der Patenonkel von eurem Kind sein, oder?«

»Ja, aber sicher! Das war doch so abgemacht.« Rudolfs Augen, die einen leicht trunkenen Glanz angenommen hatten, schauten verwirrt aus dem geröteten Gesicht. Er fuhr fort: »Abgemacht ist abgemacht. Die Trudi hat natürlich jetzt, wo sie schwanger geworden ist, gesagt, das habe alles nichts mit dir zu tun. Du kennst sie ja, aber ich weiß es besser. Andere Leute müssten dir eine Menge Geld bezahlen, wenn sie dich bitten würden, ihnen ein Kind zu machen.«

»Ihnen ein Kind machen. Aber alter Dummkopf, wie redest du denn daher!«

»Nein, nein. Ich weiß in diesem Fall schon, wovon ich rede. Du kannst so was. Bei meiner Mutter damals …«

»Rudi, komm, hören wir auf für heute, ja? Du musst noch deinen Zug erwischen.« Matthias wollte nicht gerne an jene Nacht erinnert werden, als Rudis Mutter im Sterben lag.

An jenem Wochenende hatte er seine Mutter, die Frieda, besucht und durfte in der Nacht im schmalen Notzimmer gleich neben der Küche schlafen. Matthias war sich nicht sicher gewesen, ob er wirklich willkommen sei. Denn am Telefon hatte Frieda abwesend und fahrig geantwortet. Aber als er ihr sein gutes Zwischenzeugnis, das ihm der Lehrmeister ausgestellt hatte, zeigte, schien sie sich doch ehrlich mit ihm zu freuen und bald darauf stand ein Teller voll nach frischer Butter duftender Spiegeleier vor ihm.

In der folgenden Nacht jedoch wurde er heftig wach gerüttelt: »Komm schon, Matthias, wach auf!« Verschlafen rappelte er sich auf und blickte in das aufgelöste Gesicht seiner Mutter, die, über ihn gebeugt, im Nachthemd am Bett stand, und neben ihr erkannte er seinen kleinen Cousin, den Rudi.

»Es ist etwas passiert. Seine Mutter ist krank. Rutsch etwas hinüber. Der Rudeli wird heute bei dir schlafen«, flüsterte Frieda.

Verwirrt tat Matthias, was von ihm verlangt wurde, und erst nach einem Weilchen merkte er richtig, dass er nicht mehr alleine war und der Kleine an die Decke des muffigen Kämmerchens starrend neben ihm atmete und seufzte. Dann hörte Matthias seinen Cousin flüstern: »Lieber Gott, mach, dass sie stirbt!«

»Was hast du eben gesagt, Rudeli?« Er hatte den Kleinen nie anders genannt und auch jetzt kam ihm das Rudeli so selbstverständlich über die Lippen, obwohl Rudi inzwischen an die neun Jahre zählen musste. Als zur Antwort nur das Rascheln der gestärkten Bettwäsche kam, die sich der andere über die Nase zog, stieß er ihn leicht an. »Sag, Kleiner, was hast du gesagt?«

Da kam es dumpf durch die Bettdecke herauf: »Ich habe gesagt: Lieber Gott, mach, dass sie stirbt.«

»Ach, das habe ich dir in der Aufregung noch gar nicht gesagt, ich schlafe heute bei der Tante Emma«, holte der junge Mann den Friseur in die Gegenwart zurück. Er nickte dabei eifrig und verschüttete beinahe den Wein, den er zur gleichen Zeit an die Lippen geführt hatte.

»Ach ja, die Tante Emma. Und, hast du dich wieder mit ihr versöhnt?«

»Matthias, du weißt, die Tanten konnten mir nie lange böse sein. Wenn ich die alten Damen besuche, bin ich immer noch ihr Liebling. Aber sie hacken einfach immer noch auf meiner Frau rum. Mich dünkt zwar, sie haben sich ein bisschen gebessert. Und jetzt, wo der Kleine unterwegs ist … Du wirst sehen.«

Matthias ließ das positive offene Ende von Rudis Spekulation gelten. Er rückte aber nochmals näher zu seinem Cousin. Das Kinn interessiert vorgereckt fragte er leise: »Weißt du, wie es um Charles steht?«

»Wie soll es denn um den alten Charly stehen?« Rudi zuckte die Schultern und schaute leicht abwesend die leere Karaffe auf dem Tisch an.

»Ach, das war nur so eine Frage. Weißt du, ich denke mir, dass die Krankheit da, na du weißt schon, vielleicht eben doch noch ihren Tribut fordern wird und der alte Bock für seine Geilheit und all das noch bezahlen muss.«

»Du meinst, wegen der Syphilis?«, trompetete der Junge ungeniert. In der Gaststube schossen ein paar Köpfe in die Höhe. Das Lokal war jetzt gut besetzt. Mehrere Gäste saßen vor ihren Tellern und nahmen still ihre Mahlzeit zu sich. Da war Rudis Stimme wohl durchgehallt bis in jeden Winkel. Auch von da hinten blickten ihnen erstaunte Gesichter entgegen, beinahe ängstlich. Der Name der Krankheit wog noch immer schwer in der Erinnerung der Menschen und versetzte sie in Angst und Schrecken.

Matthias lächelte seinen Freund durch zusammengebissene Zähne an. »Ich glaube fast, mein Guter, du musst dich langsam auf den Weg machen. Sicherlich bist du nach dem anstrengenden Tag müde. Und Tante Emma wird auch keine Freude haben, wenn du so spät kommst, und dazu noch angesäuselt.«

Rudi wischte diese Art Bedenken mit seinem Jackenärmel vom Tisch. »Ach, die ist das gewohnt, da mach ich mir keine Gedanken.«

Sinnierend verstummte er sogleich wieder. Die Kellnerin in ihrem weißen Servierschürzchen hatte ihn wieder völlig in seinen Bann gezogen und ließ seinen glasigen Blick dem wippenden Ding auf seinem Weg durchs Lokal folgen.

»Wo war ich stehen geblieben?« Rudolf bemerkte erst jetzt, dass er nicht zu Ende gesprochen hatte.

»Ach ja«, nahm er den Faden wieder auf, »von Onkel Charly redet sie eigentlich nie viel, wenn wir miteinander telefonieren. Du weißt ja, wenn etwas ist, versucht sie es so lange wie möglich für sich zu behalten. Habe den Alten selbst schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Aber etwas eigenartig war der gute alte Charles schon immer. Aber um mich mach dir mal keine Sorgen. Mein Zug nach Rapperswil fährt um halb zehn. Dann hab ich gleich eine Verbindung nach Zürich, und Tantchen erwartet mich gegen elf. Wir haben also noch ein schönes halbes Stündchen.« Rudolf langte über den Tisch und bediente sich aus der Zigarettenschachtel, die neben Matthias’ Handschuhen lag. »Jetzt erzähl mal du«, lenkte er ab, »wie geht es denn bei dir zuhause? Was machen die Buben? Wie geht’s deiner Frau?«

Über Matthias’ Gesicht huschte ein kummervoller Schatten. Auch er griff, nachdem Rudi sich bedient hatte, zur Zigarettenschachtel, aber ohne eine hervorzuklauben, antwortete er bedrückt. »Mit Cecile ist es so eine Sache. Ich kann so vielen Menschen helfen, aber bei meiner eigenen Frau scheine ich zu versagen. Sie wird immer stiller, in sich gekehrter, was immer das auch heißen soll. Diese Phantomschmerzen und die zeitweise auftretenden Angstzustände und Lähmungserscheinungen geben mir ein Rätsel auf. Dünn ist sie geworden.« Er spülte den Seufzer, der in ihm hochsteigen wollte, mit einem Schluck Wein wieder herunter. Auf das Päckchen Zigaretten in seiner Hand blickend, als ob er nicht wüsste, was er damit anfangen sollte, es drehend und wendend, von hinten und vorn betrachtend, suchte er nach den richtigen Worten.

»Und die Buben?«, erinnerte ihn Rudi jetzt, der nicht näher auf Ceciles Gebrechen eingehen wollte, um dem Gespräch, das schon in die unangenehme Tiefe lauernden Unheils abzusacken drohte, wieder einen hoffnungsvollen Schwung zu geben. Rudi machten die Sorgen anderer Leute nervös.

»Oh, die Buben!« Matthias gelang ein Lächeln. »Die kommen, glaube ich, ganz nach mir. Einer ist lauter als der andere und sie haben wie immer nichts als Blödsinn im Kopf. Cecile ist mit ihnen völlig überfordert. Karl kommt diesen Frühling in die Schule und Jörg schon in die vierte Klasse. Wie die Zeit vergeht!« Matthias sprach in besänftigendem Tonfall. Trotz seiner Bemühungen wollte das Gespräch nicht mehr den fröhlichen Hauch von vorhin annehmen.

Der Raum war heiß und er hatte den Wein zu schnell getrunken. Doch Rudolf schien von Matthias’ Stimmung nicht angesteckt worden zu sein. Er schaute ihn zufrieden über den Tisch hinweg an. Matthias wandte sich innerlich wieder dem eigentlichen Drehpunkt ihres Gespräches zu, und es gelang ihm, seine Traurigkeit abzustreifen. Viel sagend ließ er seine Gesichtsmuskeln spielen.

»Was ist?«, fragte der Jüngere, als er die Miene seines Cousins studierte, der eine Grimasse schnitt, mit den Augenbrauen wackelte und schließlich ein neugieriges Lächeln produzierte.

»Und habt ihr euch schon überlegt, wer die Patentante spielen soll?«

»Die Patentante? Nein eigentlich noch nicht. Es ist ja auch noch reichlich früh dafür. Mit dir war das etwas anderes. Das haben wir schon lange abgemacht und so bleibt es. Wir haben dir wirklich viel zu verdanken. Aber wer die Patin sein soll? Kommt Zeit, kommt Rat.«

»Ich hätte da einen Vorschlag zu machen.«

»Schieß los.«

»Paula.«

»Paula? Ja denkst du denn, die ist sich nicht zu vornehm?«

»Warum sollte sie sich zu vornehm sein? Die haben ja auch nur eine kleine Garage mit Tankstelle. Sie gehört zur Verwandtschaft. Sie ist Franz’ Frau.«

»Ja, also dann soll ich sie fragen?« Rudolf war verunsichert.

»Lass nur, Rudi. Das tue ich schon für dich. Bring du das Ganze erst mal deiner Trudi bei.«

»Da wird noch etwas auf mich zukommen.« Er seufzte. »Die kann Paula nicht ausstehen. Weiß der Kuckuck. Aber es wäre schon schön für unser Kind, solche Leute, wie ihr es seid, als Paten zu haben.«

Matthias nickte nur. »Dann wäre das fürs Erste besprochen. Siehst du, es geht immer irgendwo ein Türchen auf. Aber eines interessiert mich noch. Was hast du mit den fünfzig Franken gemacht?«

Verdattert riss sich Rudis Blick vom weißen Schürzchen los, zu dessen Makellosigkeit es ihn unversehens wieder hingezogen hatte. »Welche fünfzig Franken?«

»Na die von der indischen Prinzessin«, sagte Matthias.

»Ach die fünfzig Franken meinst du. Ja also da war doch dieses Fußballturnier und da …«

Rudolfs Augen wanderten wieder zum Schürzchen.

Das Vermächtnis des Heilers

Подняться наверх