Читать книгу Einführung in die neutestamentliche Exegese - Udo Schnelle - Страница 10

Оглавление

3. Textkritik

Literatur

ALAND, K. u. B., Der Text des Neuen Testaments, 21989. – ALAND, K. u.a., Bibelhandschriften II, TRE 6 (1980), 114–131; Bibelübersetzungen, TRE 6, 161–215. – ELLIOTT, J. K. – MOIR, I., Manuscripts and the Text of the New Testament, 1995. – GREEVEN, H., Text und Textkritik der Bibel II. Neues Testament, RGG3 VI (1962), 716–725. – HUNGER, H. u.a. (Hg.), Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel, 21988. – KÜMMEL, W. G., Einleitung, 452–491. – MAAS, P., Textkritik, 31956. – METZGER, B. M., Der Text des Neuen Testaments, 1966. – DERS., A Textual Commentary on the Greek New Testament, 21994. – PARKER, D. C., An Introduction to the New Testament Manuscripts and their Texts, Cambridge 2008. – POKORNÝ, P. – HECKEL, U., Einleitung, 88–114. – TROBISCH, D., Die 28. Auflage des Nestle-Aland. Eine Einführung, 2013 – WIKENHAUSER, A. – SCHMID, J., Einleitung, 65–202.

3.1 Definition

Textkritik ist die Feststellung von Wortlaut und Schreibweise eines Textes, wie diese für den ursprünglichen Autor anzunehmen sind. Die Textkritik hat somit die Aufgabe, auf der Grundlage der Textzeugen den ältesten erreichbaren Text des Neuen Testaments zu rekonstruieren.

Unerlässlich ist die Textkritik aus historischen und theologischen Gründen:

a) Da die Originale (αὐτόγραφα) der neutestamentlichen Schriften nicht mehr vorhanden sind, muss der Originaltext aus der späteren Überlieferung der Texte in Handschriften, Lektionarien, Zitaten bei frühen christlichen Autoren und Übersetzungen erschlossen werden. Allein über 5.500 Abschriften auf Papyrus, Pergament und Papier liegen in griechischer Sprache vor. Dabei kann die ursprüngliche Textgestalt mit einer der überlieferten Textfassungen identisch sein. Zwar gibt es zwischen den einzelnen Textzeugen eine durchschnittliche Übereinstimmungsquote von ca. 85 Prozent, aber sie kann bei den einzelnen ntl. Schriften variieren (z. B. Apostelgeschichte, Johannesapokalypse) und es bleibt immer die Aufgabe der Textkritik, die als ursprünglich anzusehende Lesart zu finden. Selten enthält keine der überlieferten Textfassungen den ursprünglichen Text, so dass dieser hypothetisch erschlossen werden muss (Konjektur)11. Somit ist der rekonstruierte ‚Urtext‘ neutestamentlicher Schriften eine hypothetische Größe, da er immer auf Wahrscheinlichkeiten und Vermutungen beruht.

b) Geht es in der neutestamentlichen Exegese um die Auslegung und das Verstehen der neutestamentlichen Texte, so muss erarbeitet werden, was die neutestamentlichen Schriftsteller selbst uns überliefert haben, nicht aber, was in der Textüberlieferung sekundär hinzukam.

Dahinter steht auch ein hermeneutisches Interesse: Man muss zum ursprünglichen Text zurückgehen, weil nur er Auskunft über die Theologie der neutestamentlichen Schriftsteller geben kann.

3.1.1 Gegenstand der Textkritik ist also die Überlieferung von Texten, die im Original nicht mehr vorhanden sind.

3.1.2 Ziel der Textkritik ist die hypothetische Feststellung derjenigen Fassung des Textes, die der Autor einst angefertigt hat.

3.1.3 Arbeitsgrundlage sind Textausgaben mit Angaben über die divergierende Textüberlieferung und deren Bezeugung, insbesondere Nestle-Aland27.28.

3.2 Lernziele

Die Studierenden sollen über Grundkenntnisse der Geschichte des neutestamentlichen Textes und des Wertes seiner Hauptzeugen verfügen.

Sie sollen die Fähigkeit zur technischen Benutzung des kritischen Apparates des NT Graece von Nestle-Aland27.28 besitzen und in der Lage sein, die Grundregeln textkritischer Entscheidungen anzuwenden.

Die Studierenden sollen schließlich aufgrund kritischer Sichtung der Textzeugen und alten Übersetzungen den ursprünglichen Wortlaut (,Urtext‘) eines vorgegebenen Textes rekonstruieren und die Textvarianten erklären können.

3.3 Geschichte der Textkritik

1514 wurde die erste griechische Ausgabe des Neuen Testaments gedruckt. Sie erschien im Auftrag des Kardinals Ximenez (gest. 1517) in der spanischen Universitätsstadt Alcala (lat. ‚Complutum‘) und wurde seit 1502 durch spanische Gelehrte vorbereitet. Das vom Kardinal in Auftrag gegebene Gesamtwerk umfasste das Alte und Neue Testament, wobei für das Alte Testament der hebräische Text, die Vulgata und die Septuaginta in drei Kolumnen nebeneinander, für das Neue Testament der griechische und lateinische Text abgedruckt wurden. Diese mehrsprachige Bibelausgabe (= Polyglotte) erhielt erst 1520 die kirchliche Druckerlaubnis, so dass die ‚complutensische Polyglotte‘ wohl die erste gedruckte griechische Ausgabe des Neuen Testaments (1514), nicht aber die erste veröffentlichte Ausgabe enthält.

Dieser Ruhm fällt der griechischen NT-Ausgabe des holländischen Humanisten ERASMUS VON ROTTERDAM (1469–1536) zu. Er fertigte auf Drängen eines Baseler Verlegers, der von dem spanischen Unternehmen gehört hatte, 1515 in großer Eile eine Ausgabe an, die 1516 auf dem Markt erschien und verlegerisch ein Erfolg wurde. Zweifelhaft hingegen war der wissenschaftliche Wert dieser Ausgabe; denn Erasmus musste sich hauptsächlich auf minderwertige Minuskeln aus dem 12. Jahrhundert stützen und hatte für die letzten Verse der Apokalypse überhaupt keine griechische Handschrift zur Verfügung, so dass er sie nach dem Vulgatatext ins Griechische zurückübersetzen musste. Dennoch war die NT-Ausgabe des Erasmus von sehr großer Bedeutung, denn nicht nur Luther benutzte die zweite Auflage von 1519 als Grundlage für seine Bibelübersetzung, sondern zahlreiche Nachdrucke des in späterer Zeit nur teilweise verbesserten Erasmustextes sicherten ihm den Vorrang.

Auch die griechischen NT-Ausgaben des Pariser Druckers und Verlegers ROBERT ESTIENNE (lat. Stephanus) basierten zum großen Teil auf der Erasmusedition. Stephanus führte als erster einen kritischen Apparat und die bis heute gültige Verseinteilung ein, und seine Ausgaben begründeten den textus receptus (= allgemein anerkannter Text)12. Dieser galt nicht nur bis zum 19. Jahrhundert im Wesentlichen als unantastbar, er hat vor allem aus liturgischen Gründen bis in die Gegenwart hinein Bedeutung (vgl. den Lobpreis am Ende des Vaterunsers in Mt 6,13).

Durch JOHANN ALBRECHT BENGEL (1687–1752) trat die neutestamentliche Textkritik in ein neues Stadium ein. Der württembergische Ausleger tastete zwar den ‚textus receptus‘ kaum an, nannte aber jeweils die Lesarten, die seiner Meinung nach ihm gegenüber den Vorzug verdienten. Zudem war Bengel der erste, der die Textzeugen in zwei große Gruppen unterteilte und bis heute bewährte Regeln der Textkritik einführte. – Die Einteilung der Handschriften in Gruppen führte JOHANN JAKOB GRIESBACH (1745–1812) weiter, der eine alexandrinische, westliche und byzantinische Textrezension unterschied. Griesbach stellte ferner zahlreiche vorbildliche Regeln für die Textkritik auf, und er wagte es als erster, den ‚textus receptus‘ an vielen Stellen aufzugeben. – Der klassische Philologe KARL LACHMANN (1793–1851) brach gänzlich mit dem ‚textus receptus‘. Er erstellte eine NT-Ausgabe, die nur auf der kritischen Bewertung der einzelnen Textzeugen beruhte.

Große Bedeutung für die Erforschung des neutestamentlichen Textes hat der Leipziger Neutestamentler CONSTANTIN VON TISCHENDORF (1815–1874). Er entdeckte im Katharinenkloster am Sinai den ‚Codex Sinaiticus‘ (1844/1859)13 und legte diese im 4. Jahrhundert entstandene Majuskel seiner großen und bis heute wertvollen Edition zugrunde (,Editio octava critica maior‘, 1869–1872). Internationale Anerkennung errang die von den Engländern B. F. WESTCOTT (1825–1901) und F. J. HORT (1828–1892) veröffentlichte NT-Ausgabe (1881/1882), die sich durch eine zuverlässige Textrekonstruktion und einsichtige methodische Kriterien auszeichnet. Wichtig sind für die neutestamentliche Textkritik die Unterscheidungen, die Westcott-Hort bei ihrer Erforschung der Verwandtschaft zwischen den einzelnen Textzeugen trafen. Danach gibt es vier Haupttypen neutestamentlicher Texte: 1. den westlichen Text (Hauptvertreter ist der ‚Codex Bezae‘ D 05); 2. den alexandrinischen Text (Hauptvertreter ‚Codex Ephraemi‘ C 04 und ‚Codex Regius‘ L 019); 3. den neutralen Text (Hauptvertreter ‚Codex Sinaiticus‘ 01 und ‚Codex Vaticanus‘ B 03); 4. den syrischen Text (Hauptvertreter ‚Codex Alexandrinus‘ A 02) 14.

Den modernen ‚textus receptus‘ schuf EBERHARD NESTLE (1851–1913) mit seinem im Auftrag der Württembergischen Bibelanstalt 1898 veröffentlichten ‚Novum Testamentum Graece‘. Nestle verzichtete bewusst auf eine eigene Textfassung und legte seiner Ausgabe die drei großen wissenschaftlichen Editionen des 19. Jahrhunderts zugrunde, nämlich Tischendorf (T), Westcott-Hort (H) und zunächst R. F. Weymouth, an dessen Stelle seit der 3. Auflage (1901) die Ausgabe von B. Weiß (W) trat. In seinem ‚apparatus criticus‘ berücksichtigte Nestle nicht nur die abweichenden Lesarten von HTW, sondern in einem zweiten Apparat auch Lesarten von neutestamentlichen Handschriften. Die Berücksichtigung der Originalzeugen wurde durch den Sohn ERWIN NESTLE (1883–1972) und durch KURT ALAND (1915–1994), seit der 21. Aufl. von 1952 Mitherausgeber) ständig ausgebaut, wobei insbesondere neugefundene Papyri von großer Bedeutung waren.

Bis zur 25. Aufl. von 1963 setzte auch Nestle-Aland durch Handschriftenfamilien repräsentierte Texttypen voraus, wobei bis in die Gegenwart hinein vier Haupttextformen des neutestamentlichen Textes unterschieden werden15:

1. Der neutrale (oder ‚alexandrinische’ bzw. ‚hesychianische’) Text (Nestle25: )

Dieser vor allem durch die Majuskeln 01, A 02, B 03, C 04 (A und C allerdings nicht für die Evangelien) und hervorragende Papyri (z.B. P66 P75 für die Evangelien, P46 für die Paulusbriefe) repräsentierte Texttyp wird als ‚neutraler‘ Text bezeichnet, weil Westcott-Hort ihn für einen unrevidierten Text hielten. ‚Alexandrinisch‘ wurde der Text genannt, weil ihn auch die alexandrinischen Väter Klemens, Origenes, Dionysius und Cyrill von Alexandrien bieten. Durch W. Bousset wurde die Bezeichnung ‚hesychianischer Text‘ eingeführt, da er den von Hieronymus erwähnten Bischof Hesychius (‘Ησύχιος) von Alexandrien mit diesem Texttyp in Verbindung brachte. Durch Einwirkung der Koine entwickelte sich im Lauf der Jahrhunderte der alexandrinische Text zum ägyptischen Text weiter.

2. Der westliche Text

Wie schon der Name andeutet, ist dieser Texttyp vor allem im westlichen Mittelmeerraum bezeugt. Er liegt vor in den griechisch-lateinischen Handschriften D 05, D 06, F 010, G 012 sowie in der altlateinischen Übersetzung und in lateinischen Kirchenschriftstellern. Relativ früh ist er aber auch in Ägypten und dem Osten nachweisbar (syc.s.). Charakteristisch für den westlichen Text ist seine Vorliebe für die Paraphrase (vor allem in der Apg). Bei Übereinstimmung mit dem alexandrinischen Text ist der westliche Text von hohem Wert, sonst aber eher von geringerer Bedeutung.

3. Der Koinetext (Nestle25: )

Der wegen seiner allgemeinen (= κοινή) Verbreitung so genannte Text (auch byzantinischer oder Reichstext genannt) wird vor allem durch die Majuskeln A 02 (nur für die Evangelien), E 07, F 09, G 011, H 013 und die überwiegende Mehrzahl der Minuskeln bezeugt. Hatte Hort diesen Texttypus, der seit dem 4. Jh. vorherrscht und sehr wahrscheinlich auf eine frühere Rezension zurückgeht, für völlig wertlos erklärt, so setzte sich in neuerer Zeit vor allem durch die Übereinstimmung einzelner Lesarten des Koinetextes mit neu entdeckten Papyri die Erkenntnis durch, dass auch dieser Text alte Lesarten bewahrt hat. Charakteristisch ist für den Koinetext die Glättung sprachlicher Härten, die inhaltliche Harmonisierung und das angestrebte gute Griechisch.

4. Der Cäsareatext

Die Bezeichnung ‚Cäsareatext‘ erklärt sich aus der Vermutung von B. H. Streeter, dass Origenes diesen Text nach seiner Übersiedlung von Alexandria nach Cäsarea verwendet habe und diese Textform dort auch entstanden sei. Nach neueren Untersuchungen16, vor allem zu P37 und P45, soll Origenes diesen Texttyp neben dem alexandrinischen Text schon in Alexandria und dann in Cäsarea benutzt haben. Von besonderer Bedeutung ist der Cäsareatext für Mk durch die Majuskeln Θ 038, W 032, die Minuskeln 28.565.700 und die Minuskelfamilien f1 und f13.

Während die Existenz eines alexandrinischen und Koine-Textes als gesichert gelten kann, ist in der Forschung umstritten, ob es den westlichen Text und den Cäsareatext wirklich gegeben hat17.

3.4 Der gegenwärtige Stand der Textkritik

3.4.1 NESTLE-ALAND, Novum Testamentum Graece27.28 (Ausgaben 2001/2012) 18

Lektüre

NESTLE-ALAND27 S. 1*–43* oder NESTLE-ALAND28 S. 1*–45*

Stand bisher die Erforschung der Abhängigkeitsverhältnisse einzelner Handschriften, die Zusammenfassung von Handschriften zu Texttypen und die Erhellung der Textgeschichte im Mittelpunkt neutestamentlicher Textkritik, so bringt Nestle-Aland26.27 (1979/1993) einen Neuansatz: Die bisherigen Gruppensigla für den hesychianischen Text und den Koinetext wurden aufgegeben und stattdessen eine die jeweiligen einzelnen Handschriften erfassende pro et contra-Bezeugung eingeführt. Zur Begründung dieser einschneidenden Änderung macht Aland geltend, dass insbesondere die Gruppenbezeichnung ein Problem darstelle, weil die unter diesem Zeichen zusammengefassten Handschriften in ihrer Textüberlieferung sehr uneinheitlich seien. Für die pro et contra-Bezeugung wurde das handschriftliche Material erheblich erweitert, wobei insbesondere die Angabe der als ‚ständige Zeugen‘ herangezogenen Handschriften hervorzuheben ist (vgl. Nestle-Aland27 S. 16*–22*). Als textkritische Konzeption steht hinter der pro et contra-Bezeugung die sog. ‚lokalgenealogische Methode‘, welche nicht mehr aufgrund eines Familienstammbaums, der die chronologischen und genealogischen Abhängigkeiten einzelner Handschriften darstellt, ihre textkritischen Entscheidungen trifft, sondern von Fall zu Fall (,eklektisch‘)19 der unterschiedlichen Wertigkeit einer Handschrift zu verschiedenen Textstellen Rechnung trägt. Neben dem Alter von Handschriften spielt bei dieser Methode besonders der Kontext und der innere Textzusammenhang eine erhebliche Rolle. Aber auch Aland kommt nicht ganz ohne umfassende Gruppensigel aus: Für die große Anzahl späterer Majuskeln und Minuskeln (9. bis 16. Jahrhundert) führt er das Sigel = Mehrheitstext ein20, das praktisch dem in Nestle-Aland25 entspricht. Freilich hat dieses Sigel für die Frage nach der gegenseitigen Abhängigkeit und die Aufstellung eines genealogischen Stemmas keine Funktion. Anerkannt bleiben aber weiterhin die nach K. Lake und W. H. Ferrar bezeichneten Minuskelgruppen (Familien 1 und 13 = f1 und f13).

Neben der reichen Handschriftenbezeugung, die dem Sachkenner ein eigenes Urteil erlaubt, sind seit Nestle-Aland26 besonders die Textgestaltung und die Beigaben am äußeren und inneren Rand erwähnenswert. Direkte Zitate aus dem Alten Testament sind durch Kursivdruck hervorgehoben, und die für den Leser sehr informativen Beleg- und Verweisstellen am äußeren Rand wurden völlig überarbeitet. Die von Aland vorgenommene Strukturierung hymnischer Überlieferungseinheiten ist hilfreich, wenn auch die Abgrenzungen im Einzelnen nicht immer überzeugen.

Nestle-Aland28 (2012) stellt gegenüber der 27. Auflage wiederum eine Weiterentwicklung dar21. Die Änderungen beziehen sich vor allem auf zwei Bereiche: 1) Eine grundlegende Revision und Korrektur des kritischen Apparats. So wurde die Unterscheidung von ständigen Zeugen erster und zweiter Ordnung aufgegeben. Es werden grundsätzlich alle wesentlichen Varianten als pro et contra zitiert, die für die Konstitution eines Textes wichtig sind (= ‚positiver Apparat’). Im sogenannten ‚negativen Apparat’ werden demgegenüber nur textgeschichtliche oder texterschließende Varianten contra textum angeführt. Konjekturen werden im Apparat nicht mehr zitiert; sie sollen in einem gesonderten Verzeichnis zugänglich gemacht werden. Diese Entscheidung ist zu bedauern, denn alle in den früheren Ausgaben aufgenommenen Konjekturen waren diskussionswürdig. Bei den Abkürzungen wurde auf die ungenauen und oft irreführenden pauci (pc) und alii (al) verzichtet. Drucktechnisch klarer als bisher erfolgen die Abtrennungen innerhalb der Varianten zu einem Vers (| = trennt die Varianten zu verschiedenen Stellen des Textes innerhalb eines Verses; ¦ = trennt die Varianten zu derselben Stelle eines Textes). Gründlich durchgesehen wurde der Verweisstellenapparat am äußeren Rand. 2) Die bisherigen Ergebnisse der Editio Critica Maior wurden für die katholischen Briefe übernommen, d. h. hier erfolgten Textänderungen gegenüber der 27. Auflage (Listen auf S. 6*).

Insgesamt weist bei Nestle-Aland28 der Apparat eine klarere Struktur auf, was zu begrüßen ist. Gleichzeitig setzt sich eine Tendenz zur Spezialisierung fort, die mit dem Verzicht auf Texttypen in der 26. Auflage einsetzte. Stellt die umfangreiche pro et contra-Bezeugung für den Kenner neutestamentlicher Handschriften eine willkommene Arbeitsgrundlage dar, so muss sie doch auf die Studierenden, die über die Textkritik einen Zugang zum Novum Testamentum Graece gewinnen sollen, eher verwirrend wirken. Gaben ihnen früher die – zweifellos umstrittenen – Texttypen Hilfestellung bei textkritischen Entscheidungen, so sind heute umfangreiche Handschriftenkenntnisse notwendig, um die pro et contra-Bezeugung wirklich beurteilen zu können.

3.4.2 Huck-Greeven, Synopse der drei ersten Evangelien

Lektüre

HUCK-GREEVEN S. V–XXXVII

Wie unter 2.1.2 bereits erwähnt, hat H. Greeven die 13. Auflage der Synopse von A. Huck völlig neu bearbeitet und eine eigene Rezension des Evangelientextes vorgenommen. Der von ihm erstellte Text unterscheidet sich von Nestle-Aland26–28 durchschnittlich 9mal pro Kapitel, so dass nun zumindest für die synoptischen Evangelien ein kritischer Vergleich möglich ist. Die handschriftliche Bezeugung ist bei Huck-Greeven nicht ganz so umfangreich wie bei Nestle-Aland26–28, aber es sind alle wichtigen Textzeugen berücksichtigt worden. In einem größeren Umfang als Aland benutzt Greeven Summensigel, die auch bei ihm nicht einen Texttyp bezeichnen, sondern eine Vielzahl an Einzelangaben zusammenfassen. Dennoch setzt Greeven bei seiner Abgrenzung der Gruppen die Ergebnisse der textkritischen Stemmaforschung voraus. An dem neu erstellten kritischen Apparat von Huck-Greeven ist positiv hervorzuheben, dass alle Varianten angeführt sind, die von anderen Textkritikern als Urtext angesehen werden, und dass die bei den synoptischen Evangelien zu beobachtende Harmonisierungstendenz (besonders auf Mt hin) kritisch berücksichtigt wurde. Andererseits machen es die von Nestle-Aland26–28 gänzlich abweichenden textkritischen Zeichen dem Studierenden schwer, sich in die Synopse einzuarbeiten.

3.5 Textkritische Grundkenntnisse

3.5.1 Die Bezeichnung der neutestamentlichen Textzeugen

Eine systematische Erfassung und Bezeichnung der neutestamentlichen Textzeugen führte als erster 1751/52 JOHANN JAKOB WETTSTEIN durch. Er unterschied Majuskeln (Bezeichnung mit großen Buchstaben: A = Codex Alexandrinus, B = Codex Vaticanus), Minuskeln (Zählung mit arabischen Ziffern) und Lektionare (Zählung wie bei den Minuskeln). Das bis heute gültige System der Zählung und Bezeichnung neutestamentlicher Handschriften führte 1908 der Tischendorf-Schüler C. R. GREGORY ein. Danach werden Papyri durch ein vorgesetztes P gekennzeichnet, Majuskeln durch eine vorgesetzte 0, Minuskeln und Lektionare werden durchgezählt, wobei ein l vor die Ziffer der Lektionare gesetzt wird.

3.5.2 Die Gliederung der neutestamentlichen Textzeugen

Die neutestamentlichen Handschriften können nach ihrem Inhalt, ihrer Schriftform oder ihrem Beschreibstoff gegliedert werden. Am gebräuchlichsten ist eine kombinierte Untergliederung in Papyri, Majuskeln, Minuskeln und Lektionare, wobei beachtet werden muss, dass sowohl Papyri als auch Pergamenthandschriften Majuskeln sind und sich unter den Lektionaren auch Papyri befinden.

Die ältesten neutestamentlichen Handschriften sind Papyri. Der Papyrus ist eine vornehmlich im Nildelta wachsende Sumpfpflanze, die schon seit dem 3. Jahrtausend v.Chr. als Schriftträger verwendet wurde. Die Papyri (Stand 2012: 127 Papyri) sind für die neutestamentliche Textkritik nicht nur wegen ihres hohen Alters, sondern vor allem aufgrund ihrer guten Textqualität von großer Bedeutung. Besonders wertvoll und wichtig sind die Chester-Beatty-Papyri P45 P46 P47 und die Bodmer Papyri P66 P72 P74 P75. Eine der ältesten neutestamentlichen Handschriften P52 enthält Joh 18,31–33.37–38 und ist in das 2. Jh. zu datieren.

Bereits auf Pergament geschrieben sind die großen Bibelhandschriften des 4. und 5. Jh. (Majuskeln). Das aus den Häuten von Kleinoder Jungtieren (Ziege, Schaf, Esel) bestehende Pergament (gr. περγαμηνή) hat seinen Namen von König Eumenes von Pergamon, der 197–159 v.Chr. regierte und für seine Bibliothek dieses neue Schreibmaterial entwickelt haben soll. Das sehr beständige Pergament trat schon im 2. Jh. v.Chr. in Konkurrenz zum Papyrus und hielt sich als Schreibmaterial bis ins Mittelalter.

Die Majuskeln bestimmten die Textkritik bis weit ins 20. Jh. Von den bis heute verzeichneten 303 Majuskeln sind fünf besonders wichtig:

1. 01 Codex Sinaiticus

Dieser im Katharinenkloster am Sinai von C. v. Tischendorf entdeckte Kodex (1854 und 1859) enthält das gesamte Neue Testament und große Teile des Alten Testaments. Er wurde im 4. Jh. auf Pergament (Antilope) geschrieben und später teilweise mit Änderungen und Korrekturen versehen. Der Sinaiticus gehört im Wesentlichen zum alexandrinischen Texttyp und ist eine der wichtigsten neutestamentlichen Majuskeln, obwohl Tischendorf seine Bedeutung überschätzt hat.

Faksimileausgabe: D. Parker, Codex Sinaiticus: Facsimile Edition, Peabody 2011.

2. A 02 Codex Alexandrinus

Aus dem 5. Jh. stammt dieser Kodex, der das Alte Testament und den größten Teil des Neuen Testaments (es fehlen Mt 1,1–25,6; Joh 6,50–8,52; 2Kor 4,13–12,6) enthält. Die Handschrift ist seit dem 11. Jh. in der Bibliothek des Patriarchen von Aleaxandria nachweisbar und wurde 1627 dem englischen König geschenkt. Der Wert des Textes schwankt; ist er für die Evangelien gering zu bewerten, so ist für die Apk der Codex Alexandrinus die wichtigste Handschrift.

Faksimileausgabe: F. G. Kenyon, The Codex Alexandrinus, London 1909.

3. B 03 Codex Vaticanus

Die älteste erhaltene Pergamenthandschrift wurde um 350 n.Chr. geschrieben und ist seit 1475 in der Bibliothek des Vatikans nachgewiesen. Sie enthält fast das gesamte Alte Testament und das Neue Testament bis Hebr. 9, 14a (es fehlen die Pastoralbriefe, Phlm, Apk). Der Codex Vaticanus ist die bedeutendste Majuskel, vor allem wegen der Verwandtschaft mit P75, die nahezulegen scheint, dass es im 4. Jh. keine durchgehenden Rezensionen des neutestamentlichen Textes gab, wie man bisher annahm.

Faksimileausgabe: Novum Testamentum e Codice Vaticano Graeco 1209 (Codex B), tertia vice phototypice expressum: Codices e Vaticanis Selecti etc. Vol. XXX, 1968.

4. C 04 Codex Ephraemi (rescriptus)

Diese im 5. Jh. entstandene neutestamentliche Handschrift wurde im 12. Jahrhundert abgeschabt und mit dem Text von Abhandlungen des Kirchenvaters Ephraem erneut beschrieben (= Palimpsest). Mit Hilfe chemischer Substanzen konnte der frühere Text durch Tischendorf wiedergewonnen werden. Der Kodex umfasst geringe Teile des Alten Testaments, aber mehr als die Hälfte des Neuen Testaments; nur vom 2Thess und 2Joh ist nichts erhalten.

Faksimilierter Typendruck durch C. v. Tischendorf, 1843.

5. D 05 Codex Bezae Cantabrigiensis

Dieser zweisprachige Kodex (griechischer Text links) wurde 1581 vom Nachfolger Calvins THEODOR BEZA (1519–1605) der Universität Cambridge geschenkt. Er enthält den größten Teil der Evangelien, die Apostelgeschichte und ein Bruchstück des 3Joh. Datiert wird die Handschrift ins 5. oder 6. Jahrhundert, ihr Entstehungsort ist umstritten (Südgallien oder Nordafrika). Wo D 05 mit der alten Überlieferung geht, ist er ein wichtiger Zeuge, abweichende Lesarten bedürfen einer genauen Prüfung.

Faksimileausgabe: Codex Bezae Cantabrigiensis quattuor Evangelia et Actus Apostolorum complectens Graece et Latine, 1899.

Die Masse der neutestamentlichen Handschriften sind Minuskeln, deren älteste datierbare (461) im 9. Jh. entstand (vgl. Nestle-Aland27, S. 703–711/Nestle-Aland28, S. 810–814). Die Minuskeln sind für die neutestamentliche Textkritik noch nicht voll ausgewertet; wegen ihrer teilweise hohen Textqualität gewinnen sie zunehmend an Bedeutung. Textkritisch bedeutsam sind die nach K. LAKE benannte Minuskelfamilie f1 und die nach W. H. FERRAR22 bezeichnete Familie f13.

Eine eigene Gattung biblischer Handschriften stellen die Lektionare dar. Sie enthalten den biblischen Text aufgegliedert nach gottesdienstlichen Bedürfnissen und bieten vornehmlich den Koinetext23.

3.5.3 Die alten Übersetzungen

Um 180 n.Chr. erfolgten die ersten Übersetzungen des neutestamentlichen Textes ins Lateinische, Syrische und Koptische.

1. Die lateinischen Übersetzungen

Die altlateinischen Übersetzungen des Neuen Testaments (Vetus Latina oder Itala) repräsentieren ein weites Spektrum sehr unterschiedlicher Handschriften (vgl. das Verzeichnis bei Nestle-Aland27, S. 714–718/Nestle-Aland28, S. 815–819). Die ältesten Handschriften stammen zwar erst aus dem 4./5. Jh., lassen aber teilweise deutliche Vorformen erkennen. Exakt nachweisbar ist die Benutzung lateinischer Handschriften beim Kirchenvater Cyprian um 250. So ist zu vermuten, dass zuerst in Nordafrika gegen Ende des 2. Jh. ein lateinisches Neues Testament existierte.

Die seit dem 7. Jh. in der abendländischen Kirche allgemein verbreitete (= vulgata) Form des lateinischen Textes heißt Vulgata. Sie erlangte im 16. Jh. in der katholischen Kirche amtliche Gültigkeit. Zumeist gilt die Vulgata als Werk des Hieronymus (340/350–420), was allerdings nur für das Alte Testament und die Evangelien zutrifft (Abschluss der Revision im Jahr 383).

2. Die syrischen Übersetzungen

Am Anfang der Übersetzungen des Neuen Testaments ins Syrische steht die zu Beginn des letzten Drittels des 2. Jh. verfasste Evangelienharmonie des Apologeten Tatian, genannt Diatessaron (διὰ τεσσάρων = durch die vier Evangelien). Umstritten ist, ob das Diatessaron ursprünglich auf Griechisch oder auf Syrisch abgefasst wurde, da lediglich aus der Benutzung und Kommentierung des Diatessarons durch Ephraem Syrus (ca. 306–373) Rückschlüsse möglich sind.

Die ältesten syrischen Übersetzungen des Neuen Testaments (Vetus Syra) liegen in zwei Handschriften vor, dem Cureton-Syrer (syc) und dem Sinai-Syrer (sys), wobei allerdings jeweils nur die Evangelien erhalten sind. Da beide Handschriften aus dem 5. Jh. stammen, dürften die Vorlagen im 4. Jh. entstanden sein.

In der Mitte des 5. Jh. entstand die Peschitta (= die ‚Einfache‘), eine syrische Übersetzung des Neuen Testaments, die eine weite Verbreitung fand. Nicht mehr erhalten ist die im Jahr 507/508 geschriebene syrische Übersetzung des Neuen Testaments im Auftrag des Bischofs Philoxenus von Mabbug, die Philoxeniana. Im Jahr 616 unterzog der Mönch Thomas von Harkel die Philoxeniana einer gründlichen Neubearbeitung und schuf eine durch besondere Anlehnung ans Griechische gekennzeichnete syrische Übersetzung, die Harklensis.

3. Die koptischen Übersetzungen

Die ägyptische Kirche war zunächst eine griechisch sprechende Kirche. Im 3. Jh. erforderte die Missionstätigkeit eine umfangreiche Übersetzung des Neuen Testaments ins Koptische. ‚Koptisch‘ ist ein Sammelbegriff für ägyptische Dialekte (Achmimisch, Subachmimisch, Bohairisch, Mittelägyptisch, Mittelägyptisch-Faijumisch, Protobohairisch, Sahidisch), die erst in christlicher Zeit Schriftform erlangten. Die ältesten koptischen Handschriften sind ins 4. Jh. zu datieren, das gesamte Neue Testament wurde nur ins Sahidische und Bohairische übersetzt.

Erfolgten die Übersetzungen ins Lateinische, Syrische und Koptische direkt aus dem Griechischen, so trifft dies für andere Übersetzungen nicht zu (Armenisch, Georgisch, Äthiopisch), so dass der textkritische Wert dieser Übersetzungen gering ist.

3.5.4 Fehlerquellen der neutestamentlichen Textüberlieferung

Für die richtige Bewertung von Lesarten ist es wichtig, die möglichen Fehlerquellen der Textüberlieferung zu kennen.

1. Lese-, Schreib- und Hörfehler

– Verwechslung ähnlich aussehender Buchstaben (vgl. Röm 12,11: κυρίῳ – καιρῷ)

– Verwechslung ähnlich klingender Buchstaben beim Diktat (vgl. Röm 5,1: ἔχομεν – ἔχωμεν)

– Itazismus: In der Koine wurden die Vokale η, ι und υ, die Diphthonge ει, οι und υι sowie ῃ häufig als langes ι gesprochen, so dass es insbesondere bei den Personalpronomina (ἡμεῖς / ὑμεῖς; ἡ;μᾶς / ύμᾶς) zu Verwechslungen kam.

– Haplographie: Einfachschreibung von zwei gleichen oder ähnlichen Buchstaben, Buchstabengruppen oder Wörtern, die unmittelbar aufeinander folgen.

– Dittographie: versehentliche Doppelschreibung eines Buchstabens, Wortes oder einer Wortgruppe (Im Codex Vaticanus steht der Schrei der Volksmenge in Apg 19,34 μεγάλη ἡ ’Άρτεμις Έφεσίων zweimal).

– Ausfall durch Homoioteleuton (»gleiches Ende«) oder Homoioarkton (»gleicher Anfang«): Abirren des Blickes durch graphisch ähnliche bzw. mit dem gleichen Buchstaben endende oder beginnende Wörter (Im Codex Sinaiticus fehlt Lk 10,32, weil dieser Vers mit dem gleichen Verbum endet, wie der vorausgehende V.31: ἀντιπαρῆλθεν).

– Fehlerhafte Wortverbindung oder Worttrennung (vor allem wegen der scriptio continua).

– Missverstandene Abkürzungen.

– Einfügen von sekundären Randnotizen (Marginalien) in den Text.

2. Absichtliche Änderungen

– Änderungen in der Orthographie und Grammatik (Änderung des Nominativ nach ἀπό in Apk 1,4).

– Ersetzen altertümlicher oder ungewöhnlicher Wörter.

– Harmonisierung und Angleichung an Parallelstellen (bei den Synoptikern besonders an das Matthäusevangelium; vgl. die Zusätze am Ende des Vaterunsers in Lk 11,4).

– Berichtigung historischer und geographischer Unstimmigkeiten (vgl. Mk 1,2: Ersetzung der teilweise falschen Angabe τῷ Ήσαΐᾳ τῷ προφήτῃ durch τοῖς προφήταις).

– Anfügung von erklärenden und ergänzenden Erweiterungen (= Glossen). So ist z. B. Röm 7,25b als zusammenfassende Folgerung aus 7,1–23 und aufgrund seiner schwierigen Stellung im unmittelbaren Kontext als Glosse anzusehen.

– Änderung aus dogmatischen Erwägungen. So wurde in Joh 7,8 das οὐκ in οὔπω verwandelt, da Jesus in Joh 7,10 doch zum Fest nach Jerusalem hinaufgeht. In Lk 1,3 ergänzen einige altlateinische Handschriften ‚et spiritui sancto‘ zu κἀμοί, um so die ausdrückliche göttliche Billigung der Evangelienabfassung hervorzuheben.

3.5.5 Termini technici der Textkritik

Bilingue=zweisprachige Handschrift
Glosse=Interpolation – sekundärer Einschub
Kodex=Handschrift in Buchform
Konjektur=Änderung der modernen Herausgeber trotz einheitlicher Überlieferung bzw. ohne direkten Anhalt an der Überlieferung
Majuskel=Unziale – mit großen (griech.) Buchstaben geschriebene Handschrift
Minuskel=mit kleinen (griech.) Buchstaben geschriebene Handschrift
Palimpsest=Pergament-Handschrift, deren Beschriftung getilgt und die dann neu beschrieben wurde (z.B. Cod. Ephraemi)
Polyglotte=mehrsprachige Bibelausgabe
Revision=Überprüfung eines Textes anhand anderer Handschriften
Variante=,varia lectio‘ (vl) – abweichende Lesart

3.6 Der Vollzug der Textkritik

Die Textkritik vollzieht sich in einem analytischen und einem interpretativen Schritt:

a) Die Feststellung der äußeren Bezeugung der einzelnen Lesarten (analytischer Schritt)

Dazu müssen zuerst die textkritischen Angaben des Apparates dechiffriert werden. Es gilt festzustellen, welche Handschriften welche Lesart bezeugen und wie diese Bezeugung qualitativ (Alter und Güte der Handschrift) und quantitativ (Umfang der Bezeugung) zu beurteilen ist. Grundsätzlich gilt die Regel: Die bestbezeugte Lesart ist die ursprünglichere.

Um den analytischen Schritt sachgemäß durchführen zu können, sind gute Kenntnisse vom Wert einzelner Handschriften notwendig. Erfahrungsgemäß haben die Studierenden hier Schwierigkeiten, weil sie oft nicht wissen, wo sie sich diese Kenntnisse aneignen können. Über das unter 3.5.2. Gesagte hinaus ist deshalb folgende Lektüre zum äußeren Wert einzelner Handschriften unerlässlich: K. u. B. ALAND, Der Text des Neuen Testaments, 167–171. 342–348; B. M. METZGER, Der Text des Neuen Testaments, 36–66 und A. WIKENHAUSER – J. SCHMID, Einleitung, 79–161.

b) Die Diskussion der inneren Wahrscheinlichkeit einer Lesart (interpretativer Schritt)

Bei diesem Schritt geht es um die Frage, welche Lesart aufgrund innerer Kriterien die ursprünglichere ist. Es muss dabei geklärt werden, wie sich die einzelnen Lesarten in ihrer Entstehung zueinander verhalten, welche sachlichen Gründe für die eine oder andere Lesart sprechen und wie die divergierenden Textfassungen aus der als ursprünglich postulierten Lesart entstehen konnten. Als Grundsatz hat dabei zu gelten, dass die Lesart die ursprünglichere ist, die die Entstehung der anderen Lesarten am besten erklärt.

Für diesen Schritt der Textkritik gibt es zwei bewährte Regeln:

1. Diejenige Lesart ist die ältere, von der sich die übrigen ableiten lassen.

Es ist dann die Lesart aufzuspüren, die den höheren Schwierigkeitsgrad bietet, denn es ist wahrscheinlicher, dass eine schwierige Lesart geglättet und verständlicher gemacht wurde als umgekehrt. Es gilt also die Regel: lectio difficilior probabilior (vgl. J. A. Bengel: ‚Proclivi scriptioni praestat ardua‘). Diese Regel ist natürlich nicht anwendbar, wenn eine Lesart völlig unsinnig ist.

2. Diejenige Lesart ist gewichtiger, die kürzer ist als die anderen; denn es besteht beim Abschreiben eher die Tendenz, eine Textstelle mit Ergänzungen zu versehen als sie zu kürzen. Es gilt also die Regel: lectio brevior potior. Auch hier gibt es Ausnahmen; denn es kommt vor, dass versehentlich Wörter ausgelassen werden.

Die Diskussion der inneren Wahrscheinlichkeit von Lesarten setzt oft ein hohes Maß an exegetischer und theologiegeschichtlicher Kenntnis voraus. Sprachgebrauch und theologische Tendenz des Autors wollen bedacht sein, und häufig muss die theologische Diskussion einer bestimmten Epoche der Kirchengeschichte bekannt sein, um Glättungen und Ergänzungen als solche erkennen zu können.

3.7 Übung

Textkritische Analyse von Mk 7,24 (nach Nestle-Aland28)

1. Variante

Äußere Bezeugung: ’Eκεῖθεν δέ ἀναστάς lesen die Majuskeln 01, B 03, L 019, Δ 037; die Minuskeln 892, 1241, 1424, sowie eine Randlesart der syrischen Harklensis. Dagegen lesen die Majuskeln A 02, K 017, N 022, Γ 036, Θ 038, die Minuskelfamilien 1 und 13; die Minuskeln 28.33.565.700.2542, mit Abweichungen D 05 und 579, der Mehrheitstext sowie die Harklensis καὶ ἐκεῖθεν ἀναστάς. Die Majuskel W 032, die Itala sowie der Sinai-Syrer lesen lediglich καὶ ἀναστάς. Das Lektionar 2211 liest: ἀναστὰς ό κύριος ἡμῶν Ίησοῦς Χριστός.

Kommt den zuletzt genannten Lesarten schon wegen ihrer geringen äußeren Bezeugung nicht als ursprünglicher Text in Frage, so sind die beiden anderen Lesarten von der äußeren Bezeugung her etwa gleichwertig. Für die textkritische Entscheidung müssen somit innere Kriterien hinzugezogen werden.

Innere Bezeugung: Das καί der zweiten Lesart anstelle des bei Mk seltenen δέ könnte man als Paralleleinfluss von Mt 15,21 erklären. Wahrscheinlicher ist aber ein Einfluss von Mk 10,1, wo der Versanfang lautet: καὶ ἐκεῖθεν ἀναστάς. Dies ist um so wahrscheinlicher, als Mk 10,1 über den Anfang des Verses hinaus Parallelen zu 7,24 bietet.

Textkritisches Urteil: Nimmt man einen Einfluss von Mk 10,1 auf Mk 7,24 im Verlauf der Textüberlieferung an, so ist die Lesart ἐκεῖθεν δὲ ἀναστάς als die ursprüngliche anzusehen. Allerdings ist in diesem Fall keine Eindeutigkeit zu erreichen, was sich schon an den unterschiedlichen Entscheidungen von Nestle-Aland27.28 und Huck-Greeven zeigt.

2. Variante

Äußere Bezeugung: Die Lesart τὰ ὅρια wird durch die Majuskeln 01, B 03, D 05, L 019, W 032, Δ 037, Θ 038, die Minuskelfamilien 1 und 13, die Minuskeln 28, 579, 700, 892, 2542, l 2211 sowie den Kirchenvater Origenes bezeugt. Hingegen lesen die Majuskel A 02, K 017, N 022, Γ 036, die Minuskeln 1241, 1424 und der Mehrheitstext τὰ μεθόρια. Schließlich liest die Minuskel 565 τὰ ὅρη.

Die äußere Bezeugung spricht deutlich für die erste Lesart, obgleich die zweite Lesart im Gegensatz zur dritten auch gut bezeugt ist.

Innere Bezeugung: τὰ μεθόρια ist Hapaxlegomenon im NT und zweifellos die schwierigere Lesart. Zudem kann man für τὰ ὅρια Paralleleinfluss aus Mt 15,22 (τῶν ὁρίων) und Mk 10,1 annehmen.

Textkritisches Urteil: Für die Ursprünglichkeit von τὰ ὅρια spricht vor allem die gute äußere Bezeugung. Andererseits sprechen innere Kriterien für τὰ μεθόρια; denn es ist Hapaxlegomenon und ein Einfluss aus Mt 15,22 und Mk 10,1 ist nicht auszuschließen. Das textkritische Urteil hängt somit von der unterschiedlichen Wertung der äußeren und inneren Kriterien ab, was wiederum durch die divergierenden Meinungen von Nestle-Aland27.28 und Huck-Greeven belegt wird.

3. Variante

Äußere Bezeugung: Nach dem Wort Τύρου lesen die Majuskeln 01, A 02, B 03, K 017, N 022, Γ 036, die Minuskelfamilien 1 und 13, die Minuskeln 33, 579, 700, 892, 1241, 1424, 2542, l 2211, der Mehrheitstext, die lateinische Überlieferung, die Peschitta, die Harklensis sowie die koptischen Übersetzungen καὶ Σιδῶνος. Nur Tyrus als Ortsangabe bezeugen hingegen die Majuskeln D 05, L 019, W 032, Δ 037, Θ 038, die Minuskeln 28, 565, die Itala, der Sinai-Syrer und Origenes. Nach der äußeren Bezeugung ist der ersten Lesart eindeutig der Vorzug zu geben.

Innere Bezeugung: Für die sekundäre Hinzufügung von καὶ Σιδῶνος zum ursprünglichen Τύρου spricht einmal, dass Sidon und Tyrus sowohl im Alten Testament (vgl. Jes 23,4; Jer 27,3; 47,4; Joel 13,48; Sach 9,2) als auch im Neuen Testament (Mt 11,21.22; 15,21; Mk 3,8; 7,31; Lk 6,17; 10,13.14) in der Regel zusammen genannt werden und deshalb καὶ Σιδῶνος unter dem Einfluss von Mt 15,21 wahrscheinlich nachträglich hinzugesetzt wurde. Außerdem läge eine Doppelung der Ortsangaben in Mk 7,24 und 7,31 vor, wenn Sidon und Tyrus auch in 7,24 zusammen genannt würden. Schließlich trifft hier die Regel zu, dass die kürzere Lesart die schwierigere ist.

Textkritisches Urteil: Obwohl die äußere Bezeugung eindeutig für die Lesart Τύρου καὶ Σιδῶνος spricht, ist καὶ Σιδῶνος als spätere Hinzufügung anzusehen, die unter dem Einfluss von Mt 15,21 in den Text kam.

4. Variante

Äußere Bezeugung: Anstelle des Imperfekts ἤθελεν lesen 01, Δ 037, die Minuskelfamilie 13, die Minuskel 565 sowie Origenes die Aoristform ἠθέλησεν.

Innere Bezeugung: eine inhaltliche Differenz zwischen der Imperfekt- und der Aoristform besteht nicht.

Textkritisches Urteil: Die äußere Bezeugung spricht für die Ursprünglichkeit des Imperfekts ἤθελεν.

5. Variante

Äußere Bezeugung: Die korrekte Aoristbildung ἠδυνήθη wird durch die Majuskeln A 02, D 05, K 017, L 019, N 022, W 032, Γ 036, Δ 037, Θ 038, die Minuskelfamilien 1 und 13, die Minuskeln 28.579.700. 892.1241.1424.2542, das Lektionar 2211 sowie den Mehrheitstext bezeugt. Hingegen findet sich im Sinaiticus und im Vaticanus die singuläre Aoristform ἠδυνάσθη. Die Imperfektbildung ἠδύνατο wird nur durch die Minuskel 565 belegt. Die beiden ersten Lesarten sind gleich gut bezeugt, so dass innere Kriterien herangezogen werden müssen.

Innere Bezeugung: Die im Neuen Testament nur hier zu findende Aoristbildung ἠδυνάσθη ist zweifellos die schwierigere Lesart. Es ist zu vermuten, dass sie in das korrekte ἠδυνήθη geändert wurde.

Textkritisches Urteil: Da ἠδυνάσθη die ‚lectio difficilior‘ darstellt und auch äußerlich gut bezeugt ist, muss es als ursprünglich angesehen werden.

3.8 Aufgabe

Textkritische Analyse von Mk 14,22–25; Lk 22,17–20, 1Kor 11,23–26 sowie Joh 1,1–18 auf der Grundlage von Nestle-Aland28 und Huck-Greeven.

11 Vgl. zur problematischen Methode der Konjektur B. M. Metzger, Der Text des Neuen Testaments, 184–187. – Wer die Begründung einer Konjektur kennenlernen möchte, lese A. v. Harnack, Zwei alte dogmatische Korrekturen im Hebräerbrief, in: Studien zur Geschichte des Neuen Testaments und der alten Kirche I, AKG 19, 1931, 234–252.

12 Der Ausdruck ‚textus receptus‘ geht auf das Vorwort der 1633 erschienenen 2. Auflage der NT-Ausgabe der Familie Elzevier aus Leiden zurück, wo es heißt: »Textum ergo habes, nunc ab omnibus receptum: in quo nihil immutatum aut corruptum damus« (»Du hast nunmehr einen Text, der von allen angenommen ist, in dem wir nichts verändert oder verdorben wiedergeben«).

13 Vgl. zur aufregenden Fundgeschichte Chr. Böttrich, Der Jahrhundertfund, 2011; D. Parker, Der Codex Sinaiticus, 2012.

14 Zu den Einzelheiten der Theorie von Westcott-Hort vgl. B. M. Metzger, a.a.O., 129–138.

15 Vgl. dazu auch A. Wikenhauser – J. Schmid, Einleitung, 170–183.

16 Zur Forschungsgeschichte: R. Kieffer, Au delà des recensions?, CB.NT 3, 1968, 25 ff. – Kritisch zu der Existenz des Cäsarea-Textes äußert sich K. Aland, Bemerkungen zu den gegenwärtigen Möglichkeiten textkritischer Arbeit aus Anlass einer Untersuchung zum Cäsarea-Text der Katholischen Briefe, NTS 17 (1970/71), 1–9.

17 Vgl. K. u. B. Aland, Der Text des Neuen Testaments, 77.

18 Da die 27. Auflage noch von vielen Studierenden benutzt wird und in der 28. Auflage der Text der Evangelien, der Apostelgeschichte und der Paulusbriefe unverändert ist, lege ich hier beide Ausgaben zugrunde.

19 Dazu H. W. Bartsch, Ein neuer textus receptus für das griechische Neue Testament?, NTS 27 (1981), 585–592; Replik von K. Aland, Ein neuer textus receptus für das griechische Neue Testament?, NTS 28 (1982), 145–153.

20 Vgl. dazu die Auflistung der unter M zusammengefassten Handschriften in Nestle-Aland27, 714.

21 Vgl. hier auch D. Trobisch, Die 28. Auflage des Nestle-Aland, 22–33.

22 Zu den Minuskelfamilien f1 und f13 vgl. B. M. Metzger, Text, 61f.

23 Vgl. zu den Lektionaren K. u. B. Aland, Der Text des Neuen Testaments, 172–178; zu den alten Übersetzungen des NT: a.a.O., 181–221.

Einführung in die neutestamentliche Exegese

Подняться наверх