Читать книгу Einführung in die neutestamentliche Exegese - Udo Schnelle - Страница 11
Оглавление4. Texttheorie und Methodenabfolge
Die Textkritik ist die grundlegende Voraussetzung aller weiteren methodischen Arbeit, denn sie legt den zu bearbeitenden Text in seinem Wortlaut fest. Der sich anschließenden Abfolge von Methodenschritten liegt eine bestimmte Texttheorie zugrunde24:
Das Urchristentum war eine charismatische Bewegung, in der die Produktion schriftlicher Texte aller Wahrscheinlichkeit nach erst relativ spät einsetzte. So wie die Verkündigung Jesu von Nazareth mündlich erfolgte, wurden auch die Erzählungen über Jesus von Nazareth zunächst mündlich tradiert, bevor Verschriftungsprozesse in einem größeren Umfang einsetzten (Sammlungen thematisch verwandter Stoffe, Logienquelle). Die Paulusbriefe als älteste literarische Dokumente des Urchristentums (geschrieben zwischen 50 und 61 n.Chr.) setzen noch das mündlich verkündigte Evangelium voraus (vgl. 1Kor 15,1ff) und sind nicht programmatischer, sondern, durch die Missionssituation bedingt, aktueller Ausdruck der Schriftlichkeit. Erst mit dem Markusevangelium (um 70 n.Chr.) etabliert sich das Evangelium als schriftliches Phänomen.
Eine sachgemäße Texttheorie wird deshalb berücksichtigen, dass die ntl. Texte nicht nur von einem einmaligen geschichtlichen Geschehen berichten, sondern selbst eine mündliche/schriftliche Geschichte als Texte durchlaufen haben. Hinter den ntl. Texten steht in der Regel ein Prozess, in dem ältere Texte summiert, verdichtet und in einen neuen Erzählzusammenhang überführt wurden. Die Interpretation auf synchroner Ebene und die diachrone Analyse der Vorgeschichte des Textes müssen sich ergänzen, um Werden und Sosein des Textes gleichermaßen zu erfassen. Es gibt keine Autonomie der Texte gegenüber ihrer eigenen Geschichte, sondern Synchronie und Diachronie sollten in ihrer Interdependenz begriffen werden.
Diesem mehrschichtigen Textmodell entspricht eine Methodenabfolge, die nach der Textfeststellung in der Textkritik auf synchroner Ebene einsetzt (Textanalyse) und wieder dort hinführt (Redaktionsgeschichte), nachdem sie die möglichen Phasen der Vorgeschichte eines Textes analysiert hat (Literar-/Quellenkritik, Formgeschichte, Traditionsgeschichte, Begriffs- und Motivgeschichte, religionsgeschichtlicher Vergleich). Auch wenn die synchrone Ebene Ausgangs- und Zielpunkt der Exegese ist, darf die diachrone Analyse nicht als Umweg aufgefasst werden. Vielmehr stellt der Jetzttext immer nur das Endresultat eines Formungsprozesses dar, dessen bestimmende Faktoren analysiert werden müssen, um den vorliegenden Text zu verstehen.
24 Jedes Textmodell beruht auf einer Setzung, durch die Exegese im wissenschaftlichen Diskurs überhaupt kommunikabel wird; vgl. W. Iser, Der Akt des Lesens, 31990, 87: »Textmodelle stellen heuristische Entscheidungen dar. Sie sind nicht die Sache selbst, wohl aber verkörpern sie einen Zugang zu ihr.«