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1. K A P I T E L

PHILOSOPHISCHE ANNÄHERUNGEN — WAHRHEIT IM DIALOG

Vorbemerkung: Der Umbruch des Denkens als geistesgeschichtlicher Kontext

Wer sich daran macht zu untersuchen, wie auf philosophische Weise ein „Hinhören auf den Logos“ gehen kann, der wird sich zunächst darüber Gedanken machen, in welche Richtung die philosophische Betrachtung geht, d. h. wo das Denken seinen Ausgang nimmt und wohin es führen soll. Anders gefragt: Wer oder was ist der Agent, der Protagonist der Denkbewegung? Ist es der Denkende, der versucht, ein Gedachtes zu erreichen oder gar zu formen? Oder ist es das Gedachte oder zu Denkende, was nach dem Denkenden greift? Bei diesen Überlegungen mag man auf einen Begriff stoßen, mit dem eine geisteswissenschaftliche Strömung des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet wird: den „Umbruch des Denkens“1.

Der Begriff Umbruch lässt auf eine Entwicklung besonderer Art schließen. Mit ihm kann nicht nur beständiges Fortschreiten auf dem Weg durch die Zeit beschrieben sein, dass also das spätere auf dem früheren aufbaut, dessen Fehler aufzeigt, es weiter entwickelt und überwindet. Vielmehr liegt ein besonderer Akzent auf dem Bruch; die Abkehr vom Bisherigen ist radikal und dezidiert. Tatsächlich ist der Umbruch des Denkens verstanden worden als eine neue neuzeitliche Hinkehr zur Metaphysik2, aber nicht als neoscholastischer Pendelschlag zurück, sondern personalistisch gewendet und damit in Absetzung von allem bisher Dagewesenen3.

Eine prophetische These Hegels

Vorausgesehen mag diese Entwicklung bereits G. W. F. Hegel (1770 – 1831) haben, als er im Jahre 1802 schrieb, dass

„durch die Totalität der betrachteten Philosophien der Dogmatismus des Seins in den Dogmatismus des Denkens, die Metaphysik der Objektivität in die Metaphysik der Subjektivität umgeschmolzen worden ist und also der alte Dogmatismus und Reflexionsmetaphysik [sic!] durch diese ganze Revolution der Philosophie zunächst nur die Farbe des Innern oder der neuen und modischen Kultur angezogen“4 habe.

Mit diesem Urteil verbindet Hegel die Einschätzung, eine wahre Philosophie erstehe erst aus der Vernichtung der Absolutheit der herkömmlichen Philosophien5. Die Wortwahl des Autors deutet bereits den radikalen Umbruch des Denkens an, der etwas vernichtet: den Dogmatismus des Seins und denjenigen des Denkens.

Was Hegel „Dogmatismus des Seins“ nennt, hatte seit der Antike die Philosophie bestimmt und im Mittelalter seinen Höhepunkt erreicht. Alles, was ist, verdankt sich im letzten Grunde dem einen Sein, das allem seine Ordnung vorgibt und es in sein je eigenes Sein als Teilhabe entlässt. Ziel der philosophischen Erkenntnis ist die dadurch vorgegebene objektive Ordnung des Seins. Theologisch gewendet geht es darum, zur Erkenntnis der göttlichen Ordnung aufzusteigen, die hinter dem Kosmos steht und sich in ihm zeigt: die Metaphysik. In diesem Dogmatismus des Seins kommt dem Menschen zentrale Bedeutung zu. Er und mit ihm die Erde sollten der Mittelpunkt der ganzen von Gott her geordneten Welt sein. Was also im Mittelalter als Ordo-Gedanke zu universaler Bedeutung aufgestiegen war, nennt Hegel „Metaphysik der Objektivität“.

Mit den Begriffen „Dogmatismus des Denkens“ und „Metaphysik des Subjekts“ skizziert Hegel die Entwicklungen im Denken der Neuzeit. Unter dem Druck der Naturwissenschaften mit ihren neu erarbeiteten und erfundenen Forschungsmethoden und –instrumenten geriet die bisherige Sichtweise ins Wanken. Nicht mehr die Metaphysik, sondern die Astronomie erhob den Anspruch, die maßgebliche Erklärung für die Welt insgesamt und damit die Zielvorgabe des Denkens zu liefern. So hat G. Galilei (1564 – 1642) nicht nur die Hinwendung der Astronomie zum heliozentrischen Weltbild in unbestreitbarer Weise vollzogen, sondern zusätzlich den Anspruch der Mathematik, der Geometrie und damit der Naturwissenschaft generell reklamiert, der verbindliche Maßstab zur Beschreibung und Normierung jeglicher Ordnung der sichtbaren Welt überhaupt zu sein. Darin kommt der methodische Schritt der Reduktion zum Tragen: Von verschiedenen Hinsichten, unter denen derselbe Gegenstand betrachtet werden kann, wird eine als vorrangig angesehen; alle anderen treten ihr gegenüber zurück oder sinken gar in die Bedeutungslosigkeit. Mit der Reduktion der Wissensformen im Blick auf die Wirklichkeit der Welt auf die geometrischen Wissenschaften provozierte Galilei6 damit die Herauslösung der Geisteswissenschaft aus dem Bereich aller Fragestellungen, die die objektive Welt als solche betrafen.

Infolgedessen vollzog die Philosophie der Neuzeit die der Naturwissenschaft entgegengesetzte Richtung. Sie wandte sich von dem Anspruch ab, die Welt, die Dinge an sich objektiv sicher zu erkennen. Nachdem dies von den Naturwissenschaften übernommen worden war, rückte nun der Zweifel in den Blick des geisteswissenschaftlichen Zugangs und über diesen die Beschränkung auf das erkennende Subjekt selbst. Die Geisteswissenschaften – an prominenter Stelle R. Descartes (1596 – 1650)7 und I. Kant (1724 – 1804) – vollzogen also gegenläufig zu den Naturwissenschaften eine Entwicklung hin zum Menschen als bestimmendem Ausgangspunkt. Nicht mehr vom Sein her wird gedacht, sondern vom denkenden Menschen. Es erhebt sich die Frage, unter welchen Bedingungen überhaupt Erkennt-nis möglich ist. Die Kapazität des menschlichen Verstandes gibt radikal den Umfang möglicher Erkenntnis vor. Denken vom Sein her ist immer Denken des Subjekts. Nicht das Sein, nur das Denken ist sicher. Allein dieses lässt der methodische Zweifel Descartes’ übrig. Die Dinge an sich können im Denken nicht erreicht werden. Das metaphysische Grundanliegen der Philosophie war also in anderer Perspektive das gleiche geblieben: Wie bisher ging es darum, möglichst viel Wahres zu erkennen: Allerdings meinte man nun Wahres im Denken; das Wahre im Sein an sich wurde für unerreichbar erklärt. Metaphysik war fortan nur noch im Subjekt selbst, in seinem Denken und in seinen Sitten, zu finden.

Beide Denkrichtungen tragen nach Hegel also die Züge einer Totalität. Man darf ihm hier eine prophetische Gabe bescheinigen, denn genau dieser Begriff taucht 150 Jahre später wieder auf bei einem Philosophen, der sich damit gegen das Denken der Neuzeit stellt und der Sache nach die Vernichtung der Absolutheit proklamiert, die der deutsche Philosoph erhofft: E. Lévinas (1906 – 1995) wendet sich gegen ein Denken, das zum Ziel hat, seinen Gegenstand, die Wahrheit und letztlich Gott schlechthin zu erreichen und zu erfassen. Dies laufe nämlich darauf hinaus, dass das Ich im Denken sich des Gegenstandes seines Denkens bemächtigt und durch Begreifen vereinnahmt8, den Denkenden an das Gedachte bindet9 und damit eine Totalität herstellt, die Lévinas als „Krieg“ bezeichnet10 und mit der er dasjenige meint, was vom herkömmlichen philosophischen Denken als das Sein bezeichnet wird11. Lévinas formuliert seine Gedanken nicht zuletzt unter dem (Ein-)Druck der Geschehnisse des 20. Jahrhunderts, namentlich der Menschen verachtenden Kriege und Vernichtungen. Er fordert die Hinwendung zu einem Denken, das den Vorrang und die Zentralität des Menschen philosophisch ausdrücken und absichern kann. Subjekt und Objekt der Erkenntnis sollen getrennt voneinander bleiben; es ist ein Abstand zu wahren zwischen dem Selben und dem Anderen12. Beide sind nicht in ein System einzubinden. Dennoch besteht eine Beziehung, insofern das Andere immer wieder in den Horizont des Selben einbricht und sich Geltung verschafft. Die Bewegung im Denken kehrt sich bei Lévinas also um: Sie geht nicht mehr vom denkenden Subjekt aus hin auf den Gegenstand, sondern gestaltet sich als Empfangen von etwas, das sich zuwendet; aus dem Ergreifen wird ein Ergriffen-Sein.

Die Frage nach der Wahrheit, dem Logos und der Natur

Damit steht die Philosophie und stehen die Geisteswissenschaften schlechthin an einem Scheideweg, denn es drängt sich die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit des Denkens auf. Genauer gesagt: Kann noch mehr Wahrheit erreicht werden als diejenige, die geometrisch und astronomisch festzustellen ist?

Diese Frage hat sich auch in der Lyrik in folgendem Gedicht von Novalis (eig. F. L. Freiherr von Hardenberg, 1749 – 1832) artikuliert, in dem in eindrücklicher Weise für eine Neubekehrung des Denkens über die Naturwissenschaften hinaus hin zum Logos ein plädiert wird:

„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Sind Schlüssel aller Kreaturen,

Wenn die so singen, oder küssen,

Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

Wenn sich die Welt ins freie Leben

Und in die freie Welt wird zurück begeben,[…]

Dann fliegt vor Einem [sic!] geheimen Wort

Das ganze verkehrte Wesen fort.“13

Wenn die Vernunft darauf angewiesen sein soll, von der Wahrheit ergriffen zu werden, so liegt sie in ihrer Schwachheit offen; sie zeigte, dass sie über die Naturwissenschaften hinaus aus sich nicht zur Wahrheit fähig ist. Diesen Schluss zieht in letzter Konsequenz das Schwache Denken bis hin zum postmodernen Nihilismus14.

Lévinas und mit ihm das Dialogische Denken (auch: Personalistisches oder Neues Denken), als dessen profilierteste Vertreter F. Ebner (1882 – 1931), F. Rosenzweig (1886 – 1929) und M. Buber (1878 – 1965) sowie in jüngerer Zeit B. Casper (geb. 1936) gelten können, nimmt dazu konsequent den anderen Menschen in den Blick. Lévinas spricht vom Antlitz, das in die Welt des Subjekts einbricht und diese Frage stellt. Über das Antlitz des Anderen erschließt sich das Unendliche, aber es läuft nicht in eine Totalität hinein, sondern geht über eine adäquate Idee hinaus und lässt sich nicht integrieren15. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass der Umbruch des Denkens letztlich ethisch motiviert ist. Vom ethischen Ansatzpunkt aus wird die Lehre vom Sein völlig neu geordnet: Das Verhältnis zum Anderen, bisher in der Ontologie vergessen, wird als „Exteriorität“ bezeichnet und radikal metaphysisch verstanden16. Die Begegnung mit dem Antlitz ist der konkrete Punkt, an dem das Unendliche, die Beziehung zu Gott, dem Subjekt zukommt17 und es neu aus einem „Dialog der Liebe“18 hervortreten lässt.

Dadurch erhält die Frage nach der Wahrheit eine neue Antwort. Ihre herkömmliche Bezeichnung als Adaequatio intellectus et rei19 genügt nicht mehr; Wahrheit wird herausgenommen aus dem Leistungsfeld des Subjekts und seines Intellekts allein, vielmehr ethisch gewendet und mit der Gerechtigkeit und der Freiheit verknüpft20. Wahrheit verschafft sich Geltung in dem Einbrechen des Anderen, und die Erkenntnis ihrer geht aus der Selbstkritik hervor21. Aus der Exteriorität schickt sich eine Freiheit zu, die nach Lévinas eine universale Ordnung reflektiert22 und in der Begegnung mit einem anderen Menschen, mit dem Dritten, zum Durchbruch kommt. Dem Anderen kommt zu guter Letzt ein ontologischer Status für das Subjekt zu. Dieser realisiert sich im Dialog.

All das wirft einige Fragen auf. Die erste: Tritt in der Logik dieses Denkens also der Dia-Logos an die Stelle des Logos, oder wird er ihm übergeordnet? Der Logos bezeichnet philosophisch das Verhältnis, das Ineinandergehen von Wahrheit und Vernunft. Kann davon noch die Rede sein, wenn Vernunft und Wahrheit als philosophische Prozesse, als Bewegungen gesehen werden, die der Erfüllung und der Sinngebung aus dem Einbruch des Anderen, gar des Jenseitigen, bedürfen? Mit anderen Worten: Wird der Logos dann nicht mehr innerhalb der Philosophie gesucht, sondern ist er ihr fremd?

Des Weiteren stellt sich die Frage nach der Natur. Ihre Ordnung war in Mittelalter und Scholastik das alles Bestimmende. Galilei hatte sich ausdrücklich auf sie bezogen. In der Neuzeit war man hingegen von der Idee einer objektiv geordneten Natur abgekommen: Der Subjektivismus Descartes’ unterwarf sie dem methodischen Zweifel, Kant entrückte sie gar der menschlichen Erkenntnismöglichkeit. Das Neue Denken erkennt sie an, weist ihr aber eine der Person untergeordnete Rolle zu. Lévinas kennt Natur jeweils in Abhängigkeit vom Einbrechen des Anderen in den eigenen Horizont. In jüngerer Zeit hat sich vor allem in den praktischen Disziplinen wie z. B. der Pädagogik immer mehr die Erkenntnis wieder Bahn gebrochen, das es um das Subjekt herum etwas gibt, das es nicht selbst gemacht hat23. Allein schon diese Feststellung provoziert zu einer Beschäftigung mit etwas Vorgegebenen, was nicht in Abhängigkeit vom Subjekt selbst gesehen werden kann. Die Natur rückt auf empirischem Wege wieder neu ins Gesichtsfeld und fordert den Philosophen neu heraus.

Zu dieser Herausforderung gehört es auch, die Felder von Naturwissenschaft und Philosophie kritisch auseinander zu halten. Beide können sich auf denselben Gegenstand beziehen: Beider Materialobjekt ist die Welt mit all dem, was in ihr wahrnehmbar ist, insbesondere dem Denken und Verhalten der Menschen. Die jeweilige Herangehensweise, das Formalobjekt hingegen, ist unterschiedlich: Die Naturwissenschaft beobachtet, was sich ihr bietet, und geht ihm gleichsam auf den Grund. Sie sucht, was hinter dem Beobachteten oder Wahrgenommenen steckt, also nach allgemein gültigen Kausalitäten und mathematischen Gesetzmäßigkeiten, aus denen Schlüsse darauf gezogen werden können, was weiterhin allgemein verbindlich erwartet werden kann. Diese Schlussfolgerungen sind dann unabhängig von der Beschaffenheit des wahrnehmenden Subjekts. Die wahrgenommenen Qualitäten sind sekundäre, während die mathematischen Gesetzlichkeiten die primären Qualitäten sind, welche ausschließlich die Naturwissenschaft interessieren24. Die Philosophie hingegen tendiert auf das Ganze des Seins hin. Es ist ihr fremd, bestimmte Fragestellungen auszuschließen. So kann sie die Beschränkung der Naturwissenschaften auf die Mathematik nicht mitvollziehen25 und sich andererseits auch nicht von ihr in die Schranken weisen lassen.

Daraus leitet sich die Weite des philosophischen Rahmens ab, in dem Dialog, Begegnungen und zwischenmenschliche Beziehungen betrachtet werden. Er kann nicht etwa durch soziologische oder neurowissenschaftliche Forschungen oder Thesen26 eingeengt werden. Von vorrangigem Interesse ist es für uns dabei, Begegnungen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten auszuleuchten, die sich für Gespräche zwischen Menschen bieten, und diese nicht nur kausal zu begründen, sondern intentional auf etwas hin zu orientieren, was als Logos bezeichnet werden darf. Wie also kann philosophisch gesehen ein Miteinander-sprechen nicht nur als Ereignis beschrieben, sondern in seinem letzten Grund aus einem Hinhören auf den Logos heraus verstanden werden, das sich also nicht nur aus psychischen, sozialen oder neuronalen Gesetzlichkeiten heraus erklärt, sondern auf ein Ziel hin orientiert?

1.1Phänomenologische Annäherung

Zur Bearbeitung dieser Fragen bietet sich ein Blick auf die Phänomenologie an. Sie bringt auf der einen Seite das Subjekt, das Ich, in seinem Denken und Erkennen, und auf der anderen Seite den Gegenstand, der sich diesem Denken und Erkennen zeigt, ihm erscheint, in einen gegenseitigen Zusammenhang, in dem sich beide im Denken und Erkennen gleichsam aufeinander zu bewegen. Auch das dem Ich begegnende andere Subjekt wird in diesen Zusammenhang einbezogen. Und dieser Zusammenhang wird in einer so radikalen und objektiv abstrahierenden Weise ergründet, dass kaum eine einschlägige Publikation zum Thema ohne einen Bezug zu dem Protagonisten der Phänomenologie, E. Husserl (1859 – 1938), auskommt27. E. Stein (1891 – 1942) ist sogar davon überzeugt, dass

„die phänomenologische Methode, wie sie E. Husserl ausgebildet […] hat, […] von den großen Philosophen aller Zeiten bereits angewendet wurde, wenn auch nicht ausschließlich und nicht mit reflektiver Klarheit über das eigene Verfahren.“28

Für die Dialogphilosophie des Neuen Denkens kommt der Phänomenologie grundlegende Bedeutung zu29, denn sie radikalisiert einerseits die Hinwendung zum Subjekt, andererseits thematisiert sie in ebenso radikaler Weise das Verhältnis zum Anderen. Dabei verharrt sie nicht beim erkennenden Subjekt, sondern rückt auch wieder das in den Blick, was die Scholastik unter Natur subsumiert, die Neuzeit hingegen anscheinend aufgegeben hatte. Eindringlich wird dies deutlich an Husserls programmatischer Aufforderung: „Zu den Sachen selbst!“30. In dem „Zu“ dieses Mottos tritt die Bewegung des Denkens vom Subjekt zum Objekt hervor; sie bleibt indessen nicht eingesperrt in den Horizont des subjektiven Denkens, sondern ihr wird in den „Sachen selbst“ eine Richtung vorgegeben, die zu einer objektiven, also (in welcher Weise auch immer) vom Gegenstand her kommenden Verbindlichkeit über das Subjekt hinaus weist. Die Dinge selbst erscheinen, sie geben sich und werden vernehmbar und verstehbar. So schafft die Phänomenologie die Grundlagen für die komplexe Untersuchung von Erfahrung und Erkenntnis und öffnet dadurch Perspektiven für die gesamte Philosophie31. Es tun sich damit Raum und Struktur auf, in der sich objektiv Wahrheit zur Geltung bringen kann32 – die Wahrheit des Logos.

Der phänomenologische Ansatz richtet das Augenmerk darauf, wie sich dem Subjekt ein Gegenstand der Erkenntnis anbietet. Der Erkenntnisgegenstand wird zum Erscheinenden, zum Phänomen. Damit wird begrifflich an die Erkenntnislehre Kants angeknüpft. Der Königsberger Philosoph hatte behauptet, man könne nicht die Dinge an sich erkennen, sondern nur die Art, wie sie sich zeigen: als Erscheinungen, Phänomene. Ihre Einordnung und Definition erfolgen in den Kategorien der menschlichen Vernunft, die diese je schon a priori bereithält. Im Noumenon, der verstandesmäßigen Einordnung des Phänomens, sind damit die Möglichkeiten der Erkenntnis ausgeschöpft.

Husserl setzt dieses Denken begrifflich fort und überwindet es. Seine Absicht ist es, einen Weg aufzuzeigen, auf dem es möglich ist, gegen Kant doch „zu den Sachen selbst“ zu gelangen – nicht im metaphysischen Verständnis, sondern gnoseologisch. Das bedeutet: Im Vorgang des Erkennens soll die Sache selbst gefunden werden. Die Untersuchung richtet sich daher nicht auf den Gegenstand als solchen, sondern es muss darum gehen herauszufinden, wie seine Präsentation im Bewusstsein vor sich geht, wie – und nicht: als was – er erscheint. Eine Erscheinung in diesem Sinne ist deshalb einerseits unabhängig vom Ich und von aller dinglichen Welt33. Andererseits benötigt jedes Erscheinen und damit jedes Seiende als zwei Pole den Gegenstand und das Bewusstsein und kann als eine Art Struktur verstanden werden, die einen konkreten Gegenstand in das Bewusstsein des Subjekts hinein trägt. Was auch immer erscheint, hat sich unabhängig von seiner eigenen Qualität vor dem Bewusstsein auszuweisen, unabhängig davon, welchem konkreten Ich dieses Bewusstsein gehört34.

Um diese Struktur in ihrer objektiven Gültigkeit zu erreichen, entwickelt Husserl, von der Mathematik her kommend35, eine Methode, die ein Charakteristikum seiner Philosophie werden sollte: Es ist die Epoché, die Einklammerung. Dabei wird all das von der Betrachtung ausgenommen, was bezweifelt oder naturwissenschaftlich thetisch ausgedrückt werden kann und damit nicht streng zum reinen Vorgang des Bewusstseinaktes gehört36. Darunter fallen alle Eigenschaften und sonstigen Gegebenheiten des Gegenstandes der Betrachtung auf der einen und des betrachtenden Subjekts, d. h. des konkreten Ich, auf der anderen Seite.

Husserl spricht dabei von „phänomenologischer Reduktion“37. Er beschreibt diesen Zusammenhang (wahrscheinlich im Jahre 1921) so:

„Ich urteile in der phänomenologischen Reduktion nicht über die Natur, über das identische Objektive, das mir in Erfahrung gegeben ist, sondern über die Erfahrung und ihre Zusammenhänge und das reine Bewusstsein überhaupt.“38

Dabei stellt Husserl incidenter klar, dass er die Natur als objektiv vorgegebene und gleich bleibende Wirklichkeit – er bezeichnet sie einmal als „im modernen Sinn ein Abstraktionsprodukt“39 – nicht ablehnt und auch nicht in Zweifel zieht. Das unterscheidet seine Vorgehensweise von dem methodischen Zweifel des Descartes. Husserl enthält sich vielmehr jeglichen Urteils über sie, er blendet sie aus40, indem er von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung übergeht:

„In der natürlichen Einstellung vollziehen wir schlechthin all die Akte, durch welche die Welt für uns da ist. Wir leben naiv im Wahrnehmen und Erfahren, in diesen thetischen Akten […] Naturwissenschaft treibend, v o l l z i e h e n wir erfahrungslogisch geordnete Denkakte […] In der phänomenologischen Einstellung u n t e r b i n d e n wir in prinzipieller Allgemeinheit den Vollzug aller solcher kogitativen Thesen […].“41

Der Phänomenologe ändert also in fundamentaler Weise seine Haltung allem gegenüber, was ihm in der Wahrnehmung begegnet42. Gegenstand der phänomenologischen Untersuchung ist die Erfahrung, jedoch nicht verstanden als konkretes Ergebnis in Form eines erfahrenen Gegenstandes, sondern als Prozess des Erfahrens der Welt, den das Ich vollzieht, der also im Subjekt selbst stattfindet.

„Der Erfahrungsbegriff ist hier sicherlich ein anderer als derjenige, in dem in Geltungszusammenhängen von Begründung der Erkenntnis durch Erfahrung die Rede ist, wo Erfahrung ein Titel ist für theoretisch begründende, theoretischen Akten eine Rechtsunterlage gebende Akte (Ichakte wahrnehmenden Erfassens daseiender Gegenstände oder wiedererinnernden Erfassens etc.).“43 Es geht dabei vielmehr um die Typik der Apperzeptionen, den auf Vorgegebenheiten aufbauenden Vorgang von Affektionen und Aktionen, die sich immer neu bildet und „für jeden eine andere ist“44.

1.1.1Phänomenologie der Intersubjektivität als Wegweiser zum Dialog

In der phänomenologischen Betrachtung gelangt das Ich, vermittelt durch die reine Struktur seiner Erlebnisse, zu sich selbst, zur Welt und zum Anderen.

1.1.1.1Die Intentionalität und die phänomenologische Konstitution der Welt

Die Welt und das Ich bilden einen Zusammenhang, der mit dem Begriff der Intentionalität beschrieben wird. Er äußert sich erstens darin, dass Bewusstsein immer „Bewusstsein von etwas“45 ist. Darin wird die zweipolige Struktur der Intentionalität anschaulich, in der sich das Bewusstsein und damit das Subjekt, das Ego, in seinem Erkennen (Noesis) mit dem Gegenstand der Erkenntnis (Noema) verbindet. Die Akte, in denen sich Intentionalität realisiert, die auf der beschriebenen Struktur dahinströmen, nennt Husserl „Erlebnisse“. In ihnen zeigt sich die Struktur, in der sich dem Ich die dingliche Welt in den Phänomenen erschließt; das Erlebnis erweist sich damit als Gabe46.

Der Schwerpunkt im husserlschen Denken liegt damit nicht so sehr auf einer Neuentdeckung des Ich als solchen, sondern darin, dass der Ausgang beim Erlebnis selbst gesucht wird, und vor allem dass dieses in seiner intentionalen Verortung aus zwei Komponenten besteht, nämlich einer „noetisch“ oder „intentional“ und einer „hyletisch“ oder „material“ genannten47. Zweitens äußert die Intentionalität sich darin, dass Gegenstände in ihrem Erscheinen sich im Bewusstsein konstituieren. Es geht also in der Phänomenologie als Lehre vom Erscheinen nicht nur um Erkenntnislehre, sondern um die Lehre vom Sein selbst: „Wieviel Schein, so viel Sein“48. Bloßes Erkennen würde nach seinem Gegenstand greifen. Diese Haltung der Bemächtigung im Denken ist bereits im Zusammenhang mit dem Umbruch des Denkens verworfen worden. Es ist vielmehr umgekehrt: In seinem Erscheinen greift der Gegenstand selbst nach dem Bewusstsein, vor dem er sich ausweist49, dem er sich gibt und in dem er sich konstituiert. Das Erfahrene lässt also das Ego nicht unberührt, sondern bezieht es ein. Das bedeutet: Die zu erkennende Welt ist nicht ein gegenüber stehendes Außen, sondern gibt sich dem Ich hin und wird erst dadurch als Welt für mich eingeholt50. Die gesamte Welt konstituiert sich also im Bewusstsein in dem Sinne, dass jeder erscheinende Gegenstand

„als solcher dem strömenden Bewusstsein kontinuierlich ‚immanent’, deskriptiv ‚in’ ihm [sc. ist], wie auch deskriptiv in ihm ist das ‚ein und dasselbe’. Dieses In-Bewusstsein ist ein völlig eigenartiges Darinsein, nämlich nicht Darinsein als reelles Bestandstück, sondern als intentionales, als erscheinendes Ideell-darin-Sein oder, was dasselbe besagt, Darin-Sein als sein immanenter ‚gegenständlicher Sinn’. Der Gegenstand des Bewusstseins in seiner Identität mit sich selbst während des strömenden Erlebens kommt nicht von außen her in dasselbe hinein, sondern liegt in ihm selbst als Sinn beschlossen, und das ist als intentionale Leistung der Bewusstseinssynthesis.“51

So tut sich in der Immanenz der klaren und unverstellten Erlebnisse eine Transzendenz auf, und die Erlebnisse gestatten es, zum Wesen (Eidos) der Dinge zu gelangen. Husserl nennt diesen Schritt des Transzendierens eidetische Reduktion52. Damit gelangt er zur Typik, d. h. der tragenden Struktur aller möglichen Betrachtungsweisen, und verleiht der phänomenologischen Analyse allgemeine Gültigkeit und Wahrheitsanspruch:

„In all dem aber waltet – und das macht Wissenschaftlichkeit, Beschreibung, phänomenologisch-transzendentale Wahrheit möglich – eine feste Typik […]. Die Welt des Lebens, die alle praktischen Gebilde (sogar die der objektiven Wissenschaften als Kulturtatsachen, bei Enthaltung von der Teilnahme an ihren Interessen) ohne weiteres in sich aufnimmt, ist freilich in stetem Wandel der Relativitäten auf Subjektivität bezogen.“53

Hierdurch wird ein Bezug von objektiver Wahrheit auf Subjektivität hergestellt, der den Gegensatz von Subjektivismus des Psychischen und dem Objektivismus des Rationalen überwindet54. Der Weg des Phänomenologen führt also jenseits allen Positivismus55 über die Anschauung oder Intuition oder das Gefühl, die immer legitime Erkenntnisquellen sind, hinaus zum Wesen des Dings selbst.

Der phänomenologische Begriff des Erlebnisses ist dabei weit zu fassen. Es geht nicht nur um die Wahrnehmung der dinglichen Welt. Nicht nur das sinnenhafte, sondern auch jede Art geistlichen oder religiösen Erfahrens fällt darunter. Hinter jeder religiösen Erfahrung und jeder ethischen Haltung steckt eine Struktur des Erlebens im phänomenologischen Sinne, die herausgearbeitet werden kann56. Die Phänomenologie hat daher, so ist gesagt worden, zu einem religiösen Gegenstand oder einem ethischen Wert die gleiche Einstellung wie etwa zu der Farbe Rot57. Auf dieser Grundlage konnten prominente Religionsphänomenologen wie R. Otto (1869 – 1937) oder G. v. d. Leeuw (1890 – 1950) wichtige Beiträge58 zum Verständnis des religiösen Phänomens leisten.

Die Frage nach Gott, dem religiösen Gegenstand par excellence, phänomenologisch und damit mit großem subjektiven Akzent anzugehen, birgt allerdings gewisse Zweideutigkeiten. Die Konstitution der Dinge im Bewusstsein wird problematisch, wenn es um die Frage religiöser Erfahrung schlechthin und insbesondere um die Frage nach Gott, zumal von einem christlichen Standpunkt aus, geht. Das Instrumentarium der Religionsphilosophie kann Anschauungsmaterial liefern; dessen theologische Deutung aber kann sie nicht übernehmen. Als Erkenntnistheorie muss sie daher auf andere, ontologische und theologische Instanzen verweisen. Tatsächlich gibt es eine neuere Strömung der Phänomenologie, die, in die Nähe der Hermeneutik rückend, von einem Gott, der ist, zugunsten eines Gottes, der sein kann59, absehen möchte. Das hat zur Folge, dass dieser Ansicht nach Gott nur sein kann, wenn der Mensch dies ermöglicht60, dass Gott geradezu von uns abhängt61. Diese Sichtweise wendet sich ab von einer ontologischen und hin zu einer ethischen, allenfalls eschatologischen Bedeutung Gottes als das Ziel. Dem religiösen Leben dürfte aufgrund individueller Einsichten die Freiheit zukommen, die Welt zu einem gerechteren und liebevolleren Ort zu machen oder nicht62. Dieser Ansatz erscheint in zweierlei Hinsicht attraktiv: Zum einen tritt er im Sinne des Neuen Denkens von vornherein der Versuchung entgegen, sich Gottes, wenn auch nur im Den ken, zu bemächtigen, und wahrt zugleich ganz und gar sein Geheimnis63. Gott verschafft sich durch den Menschen Eintritt in die Welt, begibt sich aber nicht in seine Verfügungsmacht und kann sich auch wieder entziehen64. Dem entspricht das Verständnis der Person des anderen als eine Art Entzugserscheinung: Sie erscheint und entzieht sich und würde aufhören Person zu sein, wenn man sie verstanden hätte65. Des Weiteren öffnen sich scheinbar große und weite Tore für den interreligiösen Dialog. Es kommt vermeintlich nur noch darauf an, dass Gott sich im Bewusstsein sowie im ethischen Handeln Geltung verschafft. Der durch eine solche Haltung mögliche Fortschritt für das Zusammenleben der Menschen in der Welt ist nicht in Abrede zu stellen66. Allerdings erweist sich eine phänomenologisch zugespitzte Aussage über Gott als eines lediglich vom Menschen bedingten Möglichen und nicht als reines Sein an sich als nicht vereinbar mit der vorliegend zu erörternden Fragestellung.

Sieht man jedoch genauer hin, ist ein solcher Schluss aus dem phänomenologischen Ansatz heraus nicht zwingend. Zwar tritt der Phänomenologe, allen voran Husserl, mit der prinzipiellen Behauptung in die Diskussion, die Dinge seien nicht an sich, sondern im Bewusstsein konstituiert. Jedoch ist es nötig, sorgfältig zwischen der phänomenologischen Methode und dem Gegenstand der Erkenntnis zu differenzieren. Der Schluss, Gott sei nicht, sondern er sei nur möglich, ist aus Husserls Phänomenologie nicht herzuleiten, im Gegenteil: Husserl selbst hat nie die lange philosophische Tradition verlassen, die von der Antike über das Mittelalter bis hin in die Neuzeit reichte und als die drei bestimmenden, unterschiedlichen und doch zusammen hängenden Wirklichkeiten das Ich, die Welt und Gott ausmachte67. Er ist nur einen anderen Weg der Erkenntnis gegangen, indem er nämlich die Transzendenz Gottes wie jede andere Transzendenz auch, also alles, was außerhalb des Bewusstseins zu liegen kommt, im Schritte der Reduktion ausschaltete. Damit knüpft Husserl zwar an den methodischen Zweifel von R. Descartes an68, lässt ihn aber insofern hinter sich, als er keine Aussage, nicht einmal eine zweifelnde, über das Eingeklammerte macht69. Aus der Reduktion ist also keinesfalls zu schließen, das in Klammern Gesetzte sei entfernt; vielmehr ist es vorübergehend zurückgestellt, um einen klaren Blick auf das reine Bewusstsein und die Vorgänge seines Erlebens zu erhalten70. Diesen Ansatz in die Richtung eines nur möglichen Gottes weiter zu entwickeln, tritt zwar nicht zu ihm in Widerspruch, nimmt ihm aber seine Originalität und macht ihn im Rahmen der vorliegenden Themenstellung uninteressant.

Die Epoché ergreift nicht nur den konkreten Gegenstand der Wahrnehmung, sondern, wie bereits festgestellt, auch das Subjekt der Wahrnehmung selbst, das konkrete Ich. Wäre dies nicht der Fall, so verbliebe die phänomenologische Methode im Subjektivismus oder im Gebiet der Humanwissenschaften. Durch die Epoché hingegen wird das Ich herausgenommen aus jedem (auch naturwissenschaftlichen) Positivismus, in den es in der aufkommenden Neuzeit verbannt wurde und der es auch heute immer mehr zu einem Ablauf physiologischer oder biologischer Prozesse machen möchte71. Es wird deutlich, dass das Ich ein philosophischer Begriff ist, der keine naturwissenschaftliche Größe darstellt und doch objektiv gültige Erkenntnis vermittelt. E. Stein hat hierzu den in der Phänomenologie entscheidenden Punkt formuliert: Von philosophischem Interesse ist, was der Naturwissenschaftler gerade ausschließen möchte: die Beschaffenheit des wahrnehmenden Subjekts, d. h. sein Erleben, und zwar in seiner den einzelnen Menschen übersteigenden Allgemeinheit und Objektivität72.

Der Weg der Epoché als Einklammerung all dessen, was bezweifelt werden kann, führt damit das Subjekt nicht nur zu den Sachen selbst, sondern auch reflexiv zu sich und zu den tiefsten Gründen seiner selbst, wo ihm nichts mehr bleibt, was in einem faktischen Sinne individuell wäre. Das Ich, das als denkendes Subjekt die Reduktion vollzieht, ist deshalb nicht das Ich, zu dem es letztlich gelangt73, es ist ihm vielmehr entzogen. Ich und Ich sind hier nicht mehr dasselbe. Wird die Epoché so lange durchgeführt, bis nichts mehr da ist, was eingeklammert werden könnte, verbleibt eine jedem Zweifel entzogene Grundbewegung – das ist die „Reduktion der transzendentalen Erfahrung auf die Eigenheitssphäre“74 –, die zugleich die transzendentale Seinssphäre des Ich enthüllt. Das transzendentale Ich wird auch „reines Ich“ genannt: Denn es ist rein von aller Personalität; diese entfaltet sich erst im Strom der Erlebnisse:

„Der Erlebnislauf des reinen Bewusstseins ist notwendig ein Entwicklungsverlauf, in dem das reine Ich die apperzeptive Gestalt des persönlichen Ich annehmen muss.“75

Hier zeigt sich, was nach der umfassenden Reduktion der wahrgenommenen Gegenstände und des Ich übrig bleibt: Strukturen, die den Wahrnehmungsvorgang (die Noesis) tragen; diese sind nichts Statisches, sondern ziehen mit den Erlebnisströmen mit und werden von Husserl als „transzendentaler Leitfaden“76 bezeichnet. Daraus erweist sich eine unaufhebbare und konstitutive Verbundenheit des Ich mit der Welt, die auf der tiefsten Ebene des intentionalen Bewusstseins verortet ist.

Die Subjektivität des reinen, transzendentalen Ich kommt als solche – sie ist ja phänomenologisch reduziert – in der Welt nicht vor; sie ist mit Husserls Ausdruck extramundan77. Gleichwohl ist sie je meine78, d. h. es handelt sich nicht um ein allgemeines Subjekt oder das Bewusstsein überhaupt, sondern sie ist in ihrer Extramundanität doch zur Individualität veranlagt, weil kein anderes im Strome der Erlebnisse die Gestalt meines persönlichen in der Welt vorkommenden Ich annimmt. In dieser extramundanen Jemeinigkeit liegt eine gewaltige Spannung.

Die „Jemeinigkeit“ als extramundane Individualität im Sinne Husserls unterscheidet sich damit allerdings grundlegend von dem, was M. Heidegger (1889 – 1976) darunter versteht. Heidegger bezeichnet mit „Jemeinigkeit“ „die Bedingung der Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit“, in der Dasein immer existiert79. Im Gegensatz zur Extramundanität Husserls ist für Heidegger das „In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins“80 anzusehen, also eine ohne die benannte Spannung auftretende personale Jemeinigkeit81. Es deutet sich schon jetzt an, dass diese Spannung nicht aufgelöst werden kann, dass sie vielmehr im Innern des Ich etwas bezeichnet, was am treffendsten mit dem Ausdruck „Geheimnis“ zu charakterisieren ist.

Die Spannung zeigt sich daran, dass das reine Ich einerseits aufgrund der Epoché losgelöst von allem und in diesem Sinne absolut ist. Andererseits existiert als Kehrseite eine Relativität, denn die Welt ist, wie wir gesehen haben, bezogen „auf das sie konstituierende Ich82. Die konstituierte Wirklichkeit wird als transzendentaler Gegenstand in gewisser Weise zu einem Teil des Ich, sodass dieser Gegenstand „eine Regelstruktur des transzendentalen Ego“ bezeichnet83.

1.1.1.2Systole und Diastole in der Bewegung vom Ur-Ich zur Welt

Das absolute, reine Ich ist, wie gesehen, alleiniger Urgrund der konstituierten Welt84. Husserl spricht deshalb auch von „Ur-Ich85. Das Ur-Ich hat nicht nur nichts mehr mit dem empirischen Ich zu tun86, es ist auch entkleidet von allem, was in irgendeiner Weise mit Erkennen zu tun hat, und damit ausschließlich Sein87. Und weil das Ur-Ich als alleiniger Ur-grund der Welt gedacht wird, kann es seinesgleichen nicht kennen88. „Die Epoché schafft eine einzigartige philosophische Einsamkeit“89.

An diesem Punkt, den Husserl „transzendentale Egologie“ nennt, erscheint die Phänomenologie solipsistisch90. Es stellt sich deshalb die Frage, ob im phänomenologischen Ansatz, wenn er solipsistisch ist, nicht der Weg zur Annahme eines gleichberechtigten oder gar gleichursprünglichen Anderen von vornherein verbaut ist91. Denn „wenn ich die Welt ausgeschaltet habe, weiß ich jedenfalls davon nichts mehr, dass es mehrere Menschen gibt und damit mehrere reine Ich“92. Eine Gleichursprünglichkeit von Ich und dem Anderen ist vom Ur-Ich her, auf dem Boden der Phänomenologie weder vorgesehen noch darstellbar. Das gilt nicht nur im Prozess der Erkenntnis, in dem es außer Frage steht, dass es ohne ein Erkennendes kein Erkennen gibt, sondern auch für das Sein selbst. Das Sein der Welt und des Anderen ist gesetzt durch ihr Erscheinen, welches wiederum im Ich einen Pol voraussetzt.

Dies würde bereits an dieser Stelle den phänomenologischen Ansatz zur Beschreibung von Dialog und Kommunikation diskreditieren. Husserl selbst stellt fest,

„dass die Selbstbesinnung, die der anfangende Philosoph zu vollziehen hat, nicht in der natürlichen kommunikativen Einstellung, sondern sozusagen in der solipsistischen vollzogen werden muss“93.

Die Problematik spitzt sich im Hinblick auf unsere Leitfrage nach einer theologischen Fundierung des Dialogs zu: Kann Dialog verstanden werden als ein phänomenologisch zu beschreibendes gemeinsames Hinhören auf etwas Vorgegebenes, auf den Logos, der dem Denken vorgeordnet ist und insbesondere nicht von ihm abhängt, weil er vom Bewusstsein erst konstituiert werden müsste? Bedarf es dazu nicht außerdem eines gemeinsamen oder gleichrangigen Ursprunges anstelle eines logischen Vorranges des Ich vor dem Anderen? Husserl selbst hat diese Fragen in Bezug auf den Dialog nicht erschöpfend erörtert. Es ist deshalb der Nachweis versucht worden, dass seine Phänomenologie der Intersubjektivität letztlich in einer solipsistischen Aporie endet94.

Husserl hat offenkundig versucht, im Weg der Reduktion eine Instanz zu etablieren, die als „reine Seele“ sich zwischen Welt und Ur-Ich schiebt und in der anderes außer dem Ich – insbesondere: Andere – Platz hat, die das Ich gar in eine Gemeinschaft einordnet. Dass dieser Versuch einer von Husserl so genannten „phänomenologisch-psychologischen Reduktion“ nicht gelungen sein dürfte95, spricht für die Konsistenz und die Zielführung seines Denkens, das sich als nicht solipsistisch-aporetisch erweist.

Indessen dürfte in der Betrachtung des gesamten phänomenologischen Gedankenganges eine Kennzeichnung als Solipsismus übereilt sein. Die solipsistische Einstellung, von der Husserl spricht, ist nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit demjenigen Denken, das herkömmlich mit Solipsismus bezeichnet wird. Schließlich wird auch das eigene Subjekt, das der Solipsismus als einzig Sicheres ansieht96, in der Epoché eingeklammert und phänomenologisch reduziert. Damit verfehlt der Vorwurf des Solipsismus sein Ziel, denn auch der Solus ipse und die Tätigkeit seines Bewusstseins werden durch die Einklammerung jedem Zugriff entzogen. Der Mensch hat den Drang, auf der Suche nach der Objektivität seines eigenen Seins in Tiefen vorzustoßen, in denen er sich in seiner Rätsel- oder Geheimnishaftigkeit des Seins begegnet.

Das Ur-Ich geht also hinter den Solus ipse zurück – oder richtiger gesagt: Es liegt ihm voraus. In seinen tiefsten Gründen entdeckt das Ich etwas, was es nicht mehr selbst als Ich ist, sondern was ihm vorgegeben ist, wessen es nicht habhaft werden kann97. Es kann beschrieben werden als ein Ich-Pol, der kein Ich und nichts zu Erscheinendes mehr beinhaltet, sondern nur noch eine Art Struktur im Erscheinen selbst ist98. Diese Struktur jedoch zeigt ihm den Weg aus den tiefsten Tiefen seiner selbst99 über sich hinaus hin zur Welt und lässt es zugleich bei sich und transzendent außer sich sein100.

In der von Husserl festgestellten philosophischen Einsamkeit des Ur-Ich ist damit in radikaler Weise die dialektische Spannung101 zu erkennen, die sich bereits an allgemeinen Ausführungen Husserls zu seiner Methode zeigt, wonach

„im Grunde genommen … „s c h o n i n d e r p h ä n o m e n o l o g i s c h e n R e d u k t i o n, der richtig verstandenen, die M a r s c h r o u t e a u f d e n t r a n s z e n d e n t a l e n I d e a l i s m u s vorgedeutet [ist]“102.

Philosophisch steht man damit vor der Herausforderung, diese dialektische Spannung im Ich, in der der Schlüssel zum Verständnis seiner selbst und alles von ihm verschiedenen liegen dürfte, genau zu untersuchen.

Damit eröffnet sich der Phänomenologie das Gebiet der Egologie, die von Husserl als „die an sich erste Phänomenologie“103 bezeichnet wird. Dabei ist allerdings sorgfältig zu berücksichtigen, dass die Phänomenologie sich nicht auf die Egologie beschränkt. Husserl legt größten Wert auf die Feststellung, dass es eine Missdeutung „des Sinnes und der Leistung der phänomenologischen Reduktion“ sei, wenn man meine, die „reine Phänomenologie“ sei nur „möglich als transzendentale Egologie.“104 Der Phänomenologie geht es immer um das Gesamt der Welt, nicht nur um das Ich; daher verschreibt sie sich ausdrücklich dem transzendentalen Idealismus, dessen „erste streng wissenschaftliche Gestalt“105 sie sein möchte.

In Husserls Lehre vom Ur-Ich klingt diejenige Wirklichkeit an, die „seit den Anfängen des Philosophierens“106 als Monade die Wesensbestimmung des Seins kennzeichnet. G. W. Leibniz (1646 – 1716) machte sie zum Kernbegriff seiner Philosophie. Die Monaden sind nach seiner Lehre die Träger allen Seins. Die unendliche Monade – Gott – erschafft alle endlichen. Monaden haben wie geometrische Punkte keine Ausdehnung, tragen aber an sich Eigenschaften, die dazu führen, dass sie sich zu unterschiedlichen Seienden zusammensetzen können. Jede geschaffene Monade entfaltet sich, ihrer Entelechie folgend, gleichsam als Kraftzentrum, ohne dass sie auf andere Monaden einwirkt. Die Wirkung auf geschaffene Monaden bleibt der ungeschaffenen vorbehalten107. Husserl knüpft an die Monadenlehre an. An einem entscheidenden Punkt geht er aber über Leibniz hinaus. Monaden haben nach dessen Darstellung „keine Öffnungen, wodurch etwas in dieselben hineintreten oder aus ihnen herausgehen könnte“108. Husserl hingegen stellt fest:

„Leibniz sagt, Monaden haben keine Fenster. Ich aber meine, jede Seelenmonade hat unendlich viele Fenster, nämlich jede verständnisvolle Wahrnehmung eines fremden Leibes ist solch ein Fenster, und jedes Mal, wenn ich sage, bitte, lieber Freund, und er antwortet mir verständnisvoll, ist aus unseren offenen Fenstern ein Ichakt meines Ich in das FreundesIch [sic!] übergegangen und umgekehrt, eine wechselseitige Motivation hat zwischen uns eine reale Einheit […] hergestellt.“109

So kann Husserl mithilfe des Begriffs der Monade das Ich beschreiben: „Die Monade ist seiend als identisches Ich eines intentionalen und als das konstituierenden Lebens, eines aktuellen und vermöglichen [sic!] Bewusstseinslebens“110. Dabei sieht er die Monade aber in einem entscheidenden Punkt anders: Im Gegensatz zur Monade nach leibnizschem Zuschnitt haben die Monaden Husserls „Fenster“111. Das Ur-Ich, gedacht als Monade, verharrt nicht nur bei dem eigenen transzendentalen Ich, sondern von seinem eigenen Innersten her und dieses transzendierend findet es gleichsam durch eine Öffnung den Weg aus sich heraus.

Die dialektische Spannung, die hier deutlich wird, lässt sich in einem Bild erläutern: Sie ist vergleichbar mit der Bewegung des Herzens, die sich in Zusammenziehen und Öffnen vollzieht. In Systole und Diastole, die nicht nur aufeinander folgen, sondern auch einander bedingen, entsteht ein Rhythmus, der die Spannung nicht auflöst, sondern sie als vitales Prinzip eines Organismus fruchtbar macht. So lässt sich der Zusammenhang zwischen Ich und Welt näher verstehen, den die Phänomenologie beschreibt. Sieht man den Rückzug in die tiefsten Gründe des eigenen Ich als Systole, so folgt als Diastole dessen Austritt aus sich selbst, hinein in die Konstitution der Welt.

Die Konstitution der Welt vollzieht das Ich entlang dem transzendentalen Leitfaden112 seiner Erlebnisse, der es aus der urgründigen Extramundanität des Ur-Ich hinausführt. Neben der Konstitution der Welt, in eins fallend mit ihr, konstituiert das Ich aber auch sich selbst in seiner Leibhaftigkeit. Das Erlebnis in seiner jeweiligen Eigenart vermittelt dem Ich nämlich nicht nur das Erscheinen des wahrgenommenen Gegenstandes, sondern zugleich seinen eigenen Leib: Der gegenständliche Körper des Menschen wird durch die an ihm gleichsam kristallisierenden Erlebnisse des Ich zum lebenden Körper. Zum materiellen Organismus kommt die Immaterialität der Erlebnisse, die das Ich in seinem Leib-sein konstituieren113. Leben im husserlschen Sinne ist demnach intentionales Konstituieren. Das Konstituieren konkretisiert Absolutes: Das konstituierende absolute Sein wird relative Realität. Leben ist damit der Vorgang des Erlebens, das kontinuierliche Heraustreten des Ich aus dem Ur-Ich. Das Ich verdankt sich also in seiner lebendigen Leibhaftigkeit letztlich dem Erlebnis, dem reinen Akt seines Bewusstseins114, also derjenigen Struktur, die der Wahrnehmung der Welt zugrunde liegt. Ohne Erlebnisse, die getragen werden vom Ur-Ich, das als „reines Bewusstsein“ „absolut gegeben“115 ist, gelangt das Ich nicht einmal zu seinem Leib.

Hier ist allerdings sorgfältig zur Vermeidung von Missverständnissen zu beachten, dass nach Husserl die Konstitution des Leibes auf doppelte Weise erfolgt, und zwar einerseits als „physisches Ding“ und andererseits als Träger des Empfindens, von Leibesvorkommnissen also, die Husserl „Empfindnisse“ nennt und die ihn von materiellen Dingen und von seinem eigenen Materie-sein abgrenzt116. Um Letzteres geht es in der vorliegenden Darstellung.

1.1.1.3Leib und Fleisch als Kristallisationspunkte des Lebens

Damit ist der Leib als derjenige Punkt identifiziert, an dem das Leben des Ich als solchen und des Ich in der Welt kristallisiert. Dieses geschieht aber nach allem, was bisher erörtert wurde, nicht in der psychologischen oder biophysischen Verfasstheit eines individuellen Bewusstseins im empirisch-naturwissenschaftlichen Sinne, sondern in der transzendentalphänomenologischen Gründung des absoluten Bewusstseins, das als je meines im Ur-Ich gegeben und ihm vorgegeben ist. In diesem absoluten Bewusstsein liegt die Wahrheitsfähigkeit der Phänomenologie beschlossen. Hier ist der Ort, an dem sich der Logos im Sinne einer faktisch vorgegebenen in sich stehenden Gewissheit in seinem transzendentalen und transzendenten Ursprung verständlich macht117. Deshalb muss die Abgrenzung der absoluten Immanenz von der psychologischen Erfahrung mit aller Sorgfalt vorgenommen werden:

„Das ‚reine’ Bewusstsein und durch es sein Gemeintes als solches soll der reinen Reflexion in besonderer Weise ‚immanent’, es soll in ihr ‚absolut gegeben’ sein. Und das soll ein radikaler Unterschied sein gegenüber der Immanenz des psychologisch Erfahrenen (innerlich Erfahrenen) in der psychologischen Erfahrung und gegenüber allem naturalen Bewusst- und Gegebensein überhaupt.“118

Die Phänomenologie hat in jüngerer Zeit versucht, den Leib als Kristallisationspunkt der Konstitution von Welt näher präzisierend zu beschreiben119. Auf der Suche danach, wie die Wirklichkeit absoluter Immanenz näher und ausführlicher als nur in der Abgrenzung zu psychologischer Erfahrung beschrieben werden kann, fällt der Blick auf das Denken von M. Henry (1922 – 2002). In begrifflicher Deutlichkeit definiert er als phänomenologischen Angelpunkt das Fleisch. Damit zieht er zunächst eine klare Trennlinie zu jeder psychologisierenden Betrachtung. Entgegen dem ersten Anschein, nach dem Fleisch etwas rein Medizinisches oder Biologisches sein mag, verankert er es jedoch ähnlich wie Husserl in einem tiefsten Urgrund, aus dem es hervorgeht.

Henry richtet allerdings einen in wesentlichen Punkten ablehnenden Blick auf das Werk Husserls. Er gesteht ihm zwar zu, dass er „eine der wichtigsten Bewegungen des Denkens in unserer Zeit – und vielleicht aller Zeiten – hervorgerufen“ habe120. In der zuvor diskutierten Frage des Selbsterscheinens des Ich aber wirft er im vor, in einem „Staatsstreich sondergleichen“121 letztlich das wieder zum Fundament gemacht zu haben, was bereits phänomenologisch ausgeschieden war, und lässt ihn in einer Aporie enden122. Diese ergebe sich daraus, dass Husserl nicht gehörig differenziere; für ihn sei alles Erscheinen ein Erscheinen von Welt, auch das reflexive Erscheinen des Ich selbst. Dies aber führe im Denken zu einem Regressus ad infinitum123. Denn jedes Erscheinen von Welt sei an und für sich wiederum zu betrachten als Welt, die erscheine. Husserl begehe den großen Fehler, das Erscheinen der Welt mit jedem denkbaren Erscheinen zu verwechseln124. Die Kette der Phänomene werde dadurch zwar immer tiefer und reduzierter, aber unendlich lang. Insbesondere sei eine verbindliche religiöse Offenbarung damit nicht zu denken. Beim Welterscheinen nämlich, erläutert Henry, sei die Konstitution der Welt in das Bewusstsein verlegt, das als Bewusstsein von etwas die Intentionalität zu der Bewegung erkläre, die zu den Sachen selbst führe125. Wenn aber Welterscheinen selbst wiederum Erscheinen von Welt wäre, dann würde auch „das offenbarende Vermögen, das heißt die Offenbarung selbst“ in das Bewusstsein hinein versetzt und damit von jenem ins Außen entworfen126. Ein Offenbarungsbegriff, der jedoch im Bewusstsein verharre, sei mit einem Verständnis der Offenbarung nach christlicher Lehre als allein von Gott ausgehend127 nicht vereinbar, sodass mit ihm der Zugang zum Christentum versperrt wäre128. – Diese Kritik vermag jedoch die Konzeption Husserls in ihrem Grunde nicht zu erschüttern. Husserl differenziert zwar nicht expliciter zwischen verschiedenen Arten des Erscheinens; indes stellt er impliciter klar, dass das Erscheinen kein Regressus ad infinitum ist, sondern dass es in der absoluten Gegebenheit des reinen Bewusstseins unhintergehbar verortet ist. Diese ist es, die den phänomenologischen Ansatz für positive Offenbarung offen hält.

M. Henrys Ansatzpunkt ist die Differenzierung zwischen Welterscheinen und Erscheinen des Lebens129. Das unterscheidet auf den ersten Blick seine Phänomenologie von derjenigen Husserls. Der denkende Mensch und damit das Ich in seinen Tiefen erscheine (sich selbst) nicht als Welt. Vielmehr würden im Menschen der Ursprung und die Grundlage jeglichen Erscheinens überhaupt wirksam, das Erscheinen des Lebens, das sich im Fleische verwirkliche130, geradezu Fleisch werdend vollziehe131. Henry spricht dabei – in einen Vokabular, welches demjenigen Husserls nicht unähnlich ist – vom Erscheinen des absoluten Lebens. Dieses Erscheinen benötigt nicht, wie bei Husserl, einen Pol, sondern es ist ein Erscheinen seiner selbst und der unhintergehbare Ursprung allen Erscheinens. Dabei erscheint das Leben sich selbst zugleich als Subjekt wie als Objekt. Die eigene Gabe des Lebens an sich selbst ist die transzendentale und letzte Voraussetzung jeglichen Welterscheinens. Außerdem ist sie der Urgrund eines jeden Ich. M. Henry spricht zwar nicht von Ur-Ich, sondern vom Ersten Ich, formuliert jedoch dezidiert ähnlich wie Husserl:

"Indem sich das absolute Leben in der Ipseität des Ersten Sich selbsterprobend erfährt, zeugt es in seiner transzendentalen Möglichkeit jedes Sich und somit jedes denkbare Ich."132

Ähnlich wie bei Husserl sind auch in Henrys Gedankengang eine gewisse solipsistische Systole und eine daraus heraustretende Diastole zu erkennen. Denn was er als selbsterprobende Erfahrung des absoluten Lebens beschreibt, ist ein Vorgang, der sich im Subjekt vollzieht und von ihm erlebt wird. Andererseits aber beschreibt er sie als „Prozessstruktur des absoluten Lebens als Verhältnis phänomenologischer Innerlichkeit zwischen dem Leben und seinem göttlichen Wort“133. Hier zeigt sich also, dass Henry genau so wenig ein Solipsist ist wie Husserl, dass er andererseits aber genauer und differenzierter als dieser auf den Urgrund des Ich blickt. So lässt er die bereits beschriebene dialektische Spannung, die Husserl ebenfalls kennt, explizit und in einer größeren Schärfe aufleuchten, denn er fügt zwei unterschiedliche transzendentale Ebenen, die ontologisch-transzendentale und die phänomenologisch-transzendentale, im Ich selbst zusammen. Auf diesen beiden Ebenen gelangt man zu unterschiedlichen Aussagen über die Priorität des Ich, des Sich oder des Selbst. Das absolute Leben ist prioritär, sofern es ontologisch betrachtet wird. Phänomenologisch-transzendental betrachtet hat jedoch die selbsterprobende Erfahrung die Priorität. Sie allein erschließt dem Subjekt, also dem Ich, den Zugang zu einem absoluten Leben. Genauer gesagt: Das absolute Leben selbst gibt sich zu erschließen, dies aber immer nur und notwendig in der Ipseität des Ich. Hier klingt in andern Worten die Jemeinigkeit an, von der oben bei Husserl (und cum grano salis bei Heidegger) die Rede war. Das Sich-Geben des absoluten Lebens bindet sich an das Subjekt, erhebt es zum Ersten Sich und räumt ihm daher Priorität und phänomenologische Originarität ein134. Dabei ist es, insofern es sich an sich selbst gibt und damit auch empfängt, Ausgangs- und Zielpunkt zugleich.

Damit bestätigt und verdeutlicht sich die von Husserl bereits erkannte phänomenologische Originarität des Ich135. Dieses ist nicht zu verstehen als monadisch selbstgenügsam, vielmehr ist es geprägt von dem Vermögen einer

„jedem Vermögen oder Können unseres Leibes […] [sc. vorausgehenden] transzendentalen Affektivität […], sich an sich selbst zu geben und sich mithin alles zu geben, was sich an sich selbst nur in ihr gibt – in ihr, welche das Wesen des Lebens ist.“136

Auch Henrys Überlegungen führen also auf diejenige erscheinende Realität, die das Ich in seinem Innersten antrifft. Wie bei Husserl wird auch hier eine Spannung aufgedeckt, die nicht aufgelöst werden kann: In seinen tiefsten Gründen entdeckt das Ich etwas, das es nicht selbst ist und das nicht von etwas anderem abhängt, nicht mehr auf etwas anderes verweist – insbesondere nicht in einer phänomenologischen Erscheinung, sondern das sich in sich selbst zeigt. Was als Kritik von Seiten Henrys intendiert ist, das Erscheinen des absoluten Lebens, kann als Interpretament für Husserl dienen, der in einer gewissen Unschärfe ausführt:

„In meiner geistigen Eigenheit bin ich aber doch identischer Ichpol meiner mannigfaltigen ‚reinen’ Erlebnisse, derjenigen meiner passiven und aktiven Intentionalität, und aller von daher gestifteten und zu stiftenden Habitualitäten.“137

In diesem summarischen Überblick lässt sich eine große Ähnlichkeit in der Grundstruktur der phänomenologischen Betrachtung des Ich in seinem leiblichen Konstituieren von Welt nachzeichnen: Beide Autoren erkennen eine dialektische Spannung in der Tiefe des Ich, die dieses gleichzeitig zu sich selbst und über sich hinaus führt. Das Ich kommt im tiefsten Grund seiner selbst zum Ur-Ich, zum absoluten Bewusstsein (Husserl) oder zur Erscheinung des absoluten Lebens (Henry). Von dieser Systole her erschließt sich nun die diastolische Bewegung. Husserl und Henry beschreiben also die gleiche Struktur von Systole und Diastole, wenn auch infolge ihrer unterschiedlichen Grundanliegen in den Denkansätzen unterschiedlich. Für Husserl geht es in der Phänomenologie um die Darlegung einer Prima philosophia. Damit verbleibt sie in den religiös neutralen Begriffsfeldern rund um das Ich, das Erscheinen, das Erlebnis, den Leib, das Leben usw.; Henry hingegen möchte die Phänomenologie in den Dienst des Verständnisses der Offenbarung in Jesus Christus stellen und legt sich mit seinen Überlegungen zu einer Phänomenologie des Fleisches ein denkerisches und begriffliches Instrumentarium zurecht, das zur Darlegung der johanneischen Inkarnationstheologie des Fleisch gewordenen Wortes (Joh 1, 14) dient138. Dabei versteht sich Henrys Phänomenologie nicht ausschließlich christlich, sondern erhebt den Anspruch, allgemeine philosophische Grundlage zu sein. Trotz der Anlehnung an die johanneische Theologie zeigt sie daher bereits die Richtung, in der das Religiöse schlechthin „in die Mitte menschlicher Existenz“ zurückkehren139 kann. Es zeigt sich hier also eine inkarnatorische Logik, die schon im Denken Husserls grundsätzlich erschlossen wurde. Der Kristallisationspunkt für die Phänomene ist für Husserl der Leib, für Henry das Fleisch. In der lebenden Leiblichkeit (Husserl) des Fleisches (Henry) begegnet das Ich in der dialektischen Spannung von Systole und Diastole sich selbst, der Welt und dem Anderen.

1.1.1.4Die Erfahrung der Welt und die Intersubjektivität aus dem Ich heraus

Im tiefsten geheimnisvollen Abgrund, der im Ur-Ich liegt, am Beginn des transzendentalen Leitfadens, fallen die Konstitution des Ich und die Konstitution der Welt und damit nunmehr auch des Anderen als Nicht-Ich zusammen; beides ist in unaufhebbarer Spannung apodiktisch und universal vorgegeben:

„Hier ist eine apodiktische Universalstruktur vorgezeichnet – in meinem ego, in jedem ego überhaupt –, eine egologische Intersubjektivität als in jedem ego in seiner eigenen Struktur vorgezeichnet.“140

Die apodiktische Struktur, die dem Ich vorgezeichnet, also von ihm verschieden und ihm unverfügbar gegeben ist, führt das Ich nicht nur zu seinem eigenen Geheimnis, zu dem also, was es nicht benennen kann, von dem her es nämlich ergriffen ist, sondern das Ich verweist gleichermaßen über sich selbst hinaus hin auf das andere Subjekt141. Es gibt eine egologische Intersubjektivität, die schon dem Ur-Ich eigen ist.

Die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit, das eigene Leben des Ich, lässt den Anderen erkennen. Die Erkenntnis des Anderen entspringt dem Ur-Ich, in dem der Andere schon angelegt ist:

„Die Anderen sind in mir, in meinem in sich geschlossenen transzendentalen Leben in bestimmter Motivation erwachsene Geltungsgebilde, habituell mir eigener Erwerb, wieder identifizierbar, durch erneuerte Erfahrung synthetisch bewährbar. Und so sehe ich und sage ich: Sie sind in Wahrheit und gemäß dem in mir konstituierten Sinn ‚meinesgleichen’, mit ihrem transzendentalen Leben, das ich durch die Selbstvergegenwärtigungsart (in mir motivierter) Fremdappräsentation analogisch erfahre, in einer Art, die es mir ermöglicht, in meinem ausgebildeten Vermögen, dem Selbst des Anderen immer näher zu kommen, von ihm immer vollkommener Kenntnis und Erkenntnis zu gewinnen – immer in Form von Modis [sic!] der Selbstvergegenwärtigung.“142

Von hier aus erschließt sich die Bedeutung des anderen Menschen für das denkende Subjekt. Wenn der Denkende in den Akten des Bewusstseins die Welt im Wege der phänomenologischen Reduktionen gleichsam in sich hinein holt und in sich konstituiert, dann ist auch der Andere als Teil dieser Welt demselben Prozess der Erkenntnis unterworfen und hat damit für das Ich eine wechselseitig konstitutive Bedeutung. Die Subjekte stehen somit nicht bloß nebeneinander, sondern sind über die Intentionalität miteinander verbunden. Die jeweils eigene Intentionalität bezieht zum einen das Ich auf den Anderen, insofern dieser für das Ich erscheint. Darüber hinaus wird der Andere als Wahrnehmender wahrgenommen, dem die Wirklichkeit erscheint. Es konstituiert sich eine Intersubjektivität, deren Phänomenologie Husserl ausführliche Untersuchungen143 widmet. Wir wollen diese in dem für unseren Darstellungszusammenhang erforderlichen Rahmen kurz nachzeichnen144.

Das Erscheinen des Anderen als Teil des Welterscheinens

Zu der Welt, die im Bewusstsein konstituiert wird, gehört auch der andere Mensch145. Phänomenologisch wird er als Körper scheinbar mit Gegenständen gleich gestellt und als Ding angesehen146. Die von Husserl so genannte Apperzeption führt über die Wahrnehmung des Anderen als Körper hinaus. Die Apperzeption fügt dem sinnlich Wahrgenommenen hinzu, was für die Konstitution des Gegenstandes bedeutsam ist. So werden z. B. von einem Haus meist höchstens zwei Wände und Dachflächen wahrgenommen. Die ihm wesentlichen weiteren Bestandteile hingegen werden apperzipiert, also mit wahrgenommen – nicht in sinnlicher Weise, aber doch so, dass die die vollständige Konstitution als Haus im Bewusstsein möglich ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Menschen: Er wird wahrgenommen als Körper, zugleich aber wird mit ihm sowohl apperzipiert, was ihn zum Menschen, zum Leib-Körper macht, als auch alles andere, was ihn als Mensch im Bewusstsein erscheinen lässt.

Die Notwendigkeit des Anderen zur Konstitution objektiver Wirklichkeit

Der Andere tritt nicht nur als Gegenstand in der Welt auf, sondern als ein Bewusst-sein, das genauso intentional vorgeht wie das Ego. Diese Erkenntnis ist nicht metaphysisch vorgegeben, sondern aus der phänomenologischen Reduktion selbst hergeleitet. So vermeidet Husserl den Rückfall in metaphysische oder ontologische Denkstrukturen147. Ebenso grenzt er die phänomenologische Ebene von der psychologischen ab: Während man auf der psychologischen Ebene im Solipsismus endet, ist dieser auf der phänomenologischen transzendentalen Ebene überwunden148. Die Brücke zum Anderen ergibt sich aus der phänomenologischen Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis: Insofern das Ego sich transzendental reduziert, muss objektive Erkenntnis das Erscheinen der Welt für jedes beliebige (d. h. auch das andere) Ego sein. Objektive Erkenntnis setzt also eine Vielzahl von Egos voraus. Dies gilt unabhängig davon, ob das Ego als das konkret erlebende Subjekt alleine ist (etwa nach einer „universalen Pest“149) oder nicht. Husserl denkt also auch im Hinblick auf die Intersubjektivität konsequent und transzendental egologisch. Die phänomenologische und die transzendentale Reduktion, die Epoché all dessen, was angezweifelt werden kann, bewirken gleichsam einen Sog allen Wahrnehmens und Erkennens in das Innerste des erkennenden Subjekts – des Meditierenden, wie Husserl im Rahmen der Cartesianischen Meditationen sagt – hinein. Allein im Inneren wird alle Wirklichkeit konstituiert einschließlich des Anderen, und zwar als Nicht-Ich im Gegensatz zum Ich150. Der Leitfaden des transzendentalen Ego beinhaltet bereits alles, was zur Konstitution auch des Anderen notwendig ist, weil

„eine reduzierte Welt als immanente Transzendenz zur Ausweisung kommt. Es ist in der Ordnung der Konstitution einer ichfremden, einer meinem konkret-eigenen Ich äußeren […] Welt die an sich erste, die ‚primordiale’ Transzendenz (oder ‚Welt’), die unerachtet ihrer Idealität als synthetische Einheit eines unendlichen Systems meiner Potentialitäten noch ein Bestimmungsstück meines eigenen konkreten Seins als Ego ist.“151

Die Wahrnehmung des Anderen und dessen Reduzierung führen also dazu, dass dieser vom Ich in allen möglichen Varianten und durch sie hindurch wahrgenommen werden kann. Wie jedes real Erfahrene, wird auch der Andere zum Index einer Mannigfaltigkeit, die nie auszuschöpfen ist und die in ihrer Bandbreite nie in eigene originäre Wahrnehmungen übergehen kann152. Diese Mannigfaltigkeit realisiert sich immer wieder neu in Erfüllungszusammenhängen, die sich als „mögliche Erfahrungen“ durch verschiedene Motivationslagen darbieten153. Damit ist eine Offenheit des Ich für alles, was nicht Ich ist, bereits in ihm selbst als Potenzial angelegt und wird aktuell, sobald der Andere in das Gesichtsfeld der Erfahrung rückt.

Diese Mannigfaltigkeit leitet hin zu einem Verständnis des Fremden, das ihn zum einen vom Ich abgrenzt, zum anderen von großer Bedeutung für dessen eigenes Selbstverständnis ist. Dieser Zusammenhang ist im Anschluss an E. Husserl insbesondere von B. Waldenfels vertieft worden. Waldenfels hat aus den Wurzeln der Phänomenologie Husserls eine „Phänomenologie des Fremden“ entwickelt154. Dabei wird das Fremde nicht als ein Spezialthema behandelt, das von der mehr oder weniger sicheren eigenen Position aus beobachtet und behandelt wird, zu der man in ursprünglicher Vertrautheit wieder zurückkehrt und vielleicht neue oder tiefere Erkenntnisse gewonnen hat. Sondern das Fremde wird vielmehr als etwas gesehen, das sich unmittelbarer auf die eigene Erfahrung auswirkt, indem es eindringt, in Frage stellt, entfremdet und sich gerade im Entziehen als Fremdes zeigt.

Der Mensch stellt sich als Grenzwesen und das Fremde als „Grenzphänomen par excellence“155 dar, insofern es von andersher kommt. Es sprengt oder mindestens verwandelt eine etwa bestehende Ordnung, und das immer wieder. Dabei entstehen Ordnungen gerade durch Abgrenzung: Durch Definition wird festgelegt, was etwas ist und was nicht. An den Grenzen entsteht immer wieder Unruhe. Im Gegensatz dazu steht die Ordnung schlechthin, der grenzenlose Kosmos, der alle Ordnungen umfasst und sie auf welche Weise auch immer untereinander in Beziehung setzt („Beziehungsgefüge“156). Geltung verschafft sich dieser Kosmos in seiner Grenzenlosigkeit an einem Ort innerhalb des Ganzen, an dem er sich selbst enthüllt. Dieser Ort ist klassischerweise die Seele als – nach Aristoteles und dann Thomas von Aquin – „quodammodo omnia“157. Das Denken versucht, sich dieser Grenzenlosigkeit anzugleichen, schafft es aber nicht, da sich überall „Randfiguren“ finden, „die in ihrer Anomalität die Normalität verunsichern“158. Die Zeit, in der man davon ausging, es gebe einen Ort, von dem aus sich das Ganze entfalte, und zwar ohne Bruch, einen Ort also, der im vorgegebenen Ganzen entschwindet, sei mit der Moderne zu Ende gegangen. Subjektivität und Rationalität, so Waldenfels, lassen jede Ordnung als kontingent erscheinen159. Damit ist die Reduzierung des Selbst auf ein Selbiges hinfällig, weil allein in sich noch keine Grenzziehung möglich ist. Ein Selbst, ein „Eigenes entsteht, indem sich ihm etwas entzieht, und das, was sich entzieht, ist genau das, was wir als fremd und fremdartig erfahren“160. Fremdes charakterisiert sich also nicht durch die Vermittlung eines Dritten bzw. durch einen drittseitigen Standpunkt, der anhand von Kriterien die Unterscheidung trifft. Waldenfels führt als Beispiel Holz und Beton an. Diese sind verschieden, werden aber nicht als fremd betrachtet. Fremdheit kommt zur Verschiedenheit hinzu, aber in einer nicht dialektisch zu vermittelnden Diastase. Daher ist sorgfältig das Begriffspaar Fremd-Eigen von Selbem-Anderen zu unterscheiden. Auch eine radikale Besinnung auf das Selbst darf nicht die Unruhe ausblenden, die in dieser Selbstbesinnung präsent bleibt. So wie jede Ordnung „ihren blinden Fleck in der Gestalt eines Ungeordneten“ hat, so trägt auch jedes Eigene den Einfallspunkt eines Fremden in sich. In beiden Fällen ist dies kein Defizit161.

Die Erfahrung des Anderen als alter Ego und die Selbsttranszendenz des Ich

Damit zeigt sich, dass auch der Andere im Subjekt und seinen Potentialitäten bereits angelegt ist; der bereits erwähnte Zusammenhang von Systole und Diastole, der sich in der bereits skizzierten husserlschen Monadenlehre zeigt, erweist gerade im Bereich der Intersubjektivität, die Husserl als Teil der Konstitution der Welt versteht, den gesamten Umfang seiner Bedeutung.

Husserl spricht gar von „Paarung“162. Vom eigenen Ich aus, d. h. vom Standpunkt der Monade, die das Ich selbst ist, wird der Andere wahrgenommen als eine ebensolche Monade. Das bedeutet aber nicht, dass der Andere als Kopie des Ich selbst wahrgenommen wird. Die phänomenologische Epoché gestattet dies nicht, weil sie ja gerade die Eigenheiten des Ich, die es erlauben würden, es mit einem anderen Ich zu vergleichen, ausklammert. Vielmehr ist die Wahrnehmung des Anderen als alter Ego phänomenologisch geprägt durch appräsentierte Wahrnehmung. Die andere Monade konstituiert sich appräsentativ in der eigenen163. Das bedeutet: Zusammen mit dem, wie der Andere als Nicht-Ich, das zur Welt gehört, erscheint, erscheint gleichzeitig seine eigene Intentionalität, die mir entzogen ist und über die ich nicht verfügen kann und die daher nie ganz und erfüllend wahrgenommen werden kann164. „Wir finden bei genauer Analyse wesensmäßig dabei vorliegend ein intentionales Übergreifen“165 und damit eine Selbsttranszendenz des Ich auf das alter Ego hin. Hier erweist sich die volle intersubjektive Tragweite der oben bereits skizzierte husserlschen Monadenlehre in Abgrenzung zu derjenigen Leibniz’.

Die transzendentale Reduktion auf das primordiale Ich lässt also eine Monade hervortreten, die zum einen der anderen Monade bedarf und zum anderen sich selbst auf die andere Monade hin entwirft. Gleichzeitig aber überschreitet sie sich selbst und gibt sich in ein Unverfügbares und nie an sich vollständig Wahrnehmbares hinein. Dieser Gedanke kann in letzter Konsequenz nur auf der tiefsten intentionalen Schicht vollzogen werden, wo also nichts mehr, was das konkrete Ich ausmacht, in Betracht kommt. Auf dieser tiefsten intentionalen Struktur ist vom Ich das andere Ich notwendig mitgesetzt, „auch wenn alle fremde Leiblichkeit fortfiele und ich zum solus ipse würde.“166 Damit ist auf der anderen Seite mit größter Deutlichkeit festgestellt, dass das andere Ich nie an sich wahrgenommen wird, sondern immer nur appräsentiert, d. h. durch „Vergegenwärtigung hindurch erfolgende Mitsetzung einer Ichgegenwart, die nicht die meine ist“167, aber in meiner tiefen intentionalen Struktur bereits beschlossen liegt.

Indem Husserl die leibnizschen Monaden mit Fenstern versehen hat, hat er sie auf die Welt und insbesondere den Anderen hin geöffnet. Henry tut ähnliches und betrachtet den Punkt, an dem das Ich im Tiefsten auf Gott und damit auch den Nächsten hin offen ist, weil

„das Verhältnis zwischen den transzendentalen Sich [sic!] und dem absoluten Leben die religiöse Verbindung (religio) voraussetzt. Nicht so, als würde jedes von ihnen als Träger dieser Verbindung sein Verhältnis zum anderen erzeugen, sondern … weil es von dieser Verbindung her sein eigenes Sich besitzt sowie damit zugleich die Möglichkeit, sich auf den anderen zu beziehen.“168

In der Selbsterscheinung des Absoluten Lebens „in seiner ursprünglichen Ipseität […] entsteht und bildet sich in einer ursprünglich phänomenologischen Möglichkeit jede denkbare Gemeinschaft.“169

Aus diesem innersten Punkt heraus manifestiert sich – Henry spricht gar von „zeugen“170 – das Erscheinen des absoluten Lebens im Erscheinen von Welt. Gerade aus der Selbsterscheinung des absoluten Lebens in jedem einzelnen ergibt sich für ihn eine zwingende soziale Dimension, da „das in jeder Gemeinschaft Gemeinsame das Leben ist“171. Damit erhält das Ich, das als in letzter Instanz konstituierendes der Anonymität preisgegeben werden müsste172, seine Bestimmung im Zusammenspiel mit dem Anderen. Die zwischenmenschliche Beziehung ist deswegen nicht irgendeine Möglichkeit, sondern sie ist konstitutiv für das Ich selbst. Mit anderen Worten: Ohne die Beziehung zum anderen wäre das Ich nicht so, wie es ist, und zwar in ontologischer Hinsicht, nicht nur moralisch oder charakterlich.

Der Ursprung des Ich aus der Extramundanität des Ur-Ich ist auch für den Anderen bedeutsam. Denn aus ihr folgt, dass auch der Andere nicht einfach nur äußerlich vom Ich unterschieden ist, sondern in seinem eigenen Ich-Sein anders ist als das Ich, dabei aber seinerseits eine Sichtweise auf mich hat173. Beides entspricht einander: Ich begegne einem Anderen und entdecke, dass er in seiner phänomenologisch reduzierten Subjektivität genau so wenig in der Welt vorkommt wie ich und sich genau so sehr an der Welt konstituiert wie ich. Er bleibt deshalb nicht der Andere überhaupt, sondern wird Mensch174. Am Anderen wird dem Ich die eigene Wirklichkeit vor Augen geführt.

„Haben wir fremde Subjekte hereingenommen in unsere subjektive Umwelt, so haben wir dadurch eo ipso uns hinein genommen in unsere Umwelt.“175

So wird in der Hineinnahme des Anderen die Struktur deutlich, die einen Dialog, ein Gespräch miteinander zu tragen vermag.

1.1.1.5Einwände gegen den phänomenologischen Zugang zur Intersubjektivität?

Die Phänomenologie und insbesondere der in ihr sich zeigende intersubjektive Ansatz verlangen danach, den Schritt der Epoché so zu vollziehen, dass die Strukturen des Bewusstseins freigelegt werden und dass nicht mehr inhaltliche Gegenstände den Blick auf diese verstellen. Dafür legen Husserl und auch Henry Zeugnis ab. Nicht alle Denkansätze der jüngsten Zeit gehen den Weg mit, die Epoché bis in diese letzte Konsequenz durchzuführen. Insbesondere im Bereich des Ego scheinen sie entweder nicht die Notwendigkeit zu sehen oder aber nicht den Schritt zu wagen, den Leib und die Psyche radikal auszuklammern. In der Tat ist dies ein operativer Schritt im Denken, der nicht nur außergewöhnliche Herausforderungen an ein theoretisches Abstraktionsvermögen stellt, sondern sich als gegenläufig erweist zu den Erkenntnissen und Postulaten moderner Psychologie, die das Ich in seiner physio-psychischen Verfasstheit mitnichten einzuklammern gestatten, sondern es vielmehr immer mehr in den Vordergrund rücken.

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