Читать книгу Die Blinde - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 16
Erster Band
Sechzehntes Kapitel.
Die Folgen des Raubes
ОглавлениеFünf bis sechs Wochen nach dem erlittenen Unfall durfte Oscar sein Zimmer verlassen und war von seiner Wunde geheilt Während dieser Zeit war Lucilla ihrem Programme, Oscar zu heilen, um ihn dann zu heirathen, beharrlich treu geblieben. Nie habe ich eine ähnliche Pflege gesehen und werde auch wohl nie etwas Aehnliches wieder sehen. Von früh bis spät wußte sie ihn auf die eine oder die andere Art zu zerstreuen und ihn bei guter Laune zu erhalten.
>Das reizende Geschöpf verstand es sogar, ihre Blindheit zu einem Mittel der Erheiterung ihres Geliebten zu machen; bisweilen setzte sie sich vor Oscar’s Spiegel und ahmte alle die unzähligen kleinen Künste einer eitlen Kokette, die sich für ihre Eroberungen schmückt, mit so wunderbarer Wahrheit und einem so echt komischen Geberdenspiel nach, daß man hätte schwören mögen, sie sei im Vollbesitz ihrer Sehkraft; dann wieder gab sie Oscar Proben ihrer außerordentlichen Fähigkeit, auf dem Klang der Stimme einer Person die Entfernung zu berechnen, in welcher sich diese Person befand. Bei diesen Versuchen mußte ich mich zum Opfer hergeben; nachdem Lucilla eines der Bouquetta die sie immer selbst vor Oscar’s Bett zu legen pflegte, in die Hand genommen hatte, wies sie mich an, mich geräuschlos an irgend eine beliebige Stelle des Zimmers zu begeben und ihren Namen auszusprechen. Kaum hatte ich den Namen ausgesprochen, als auch schon das Bouquet mir in’s Gesicht flog. So oft sie dieses Experiment auch versuchte, nie verfehlte sie ihr Ziel und nie ließ sie in der Kundgebung ihrer kindischen Freude über ihre eigene Geschicklichkeit nach. Niemand anders durfte Oscar seine Medicin geben; sie hörte an dem Klang der in den Löffel gegossenen Flüssigkeit, ob der Löffel voll war. Als Oscar wieder im Bette auf sitzen durfte, konnte sie ihm, wenn sie am Kopfende des Bettes stand, nach der verschiedenen Wirkung der Luftströmung das ihr Gesicht, je nachdem er sich vorüberbeugte oder zurücklehnte, sagen, wie nahe sein Kopf dem ihrigen sei. In derselben Weise war sie durch die verschiedene Wirkung der Luft aus ihre Stirn und ihre Wangen im Stande, so gut wie Oscar zu sagen wann die Sonne schien und wann sie von Wolken verhüllt war.
Das ganze Gewirre von kleinen Gegenständen die sich in einem Krankenzimmer ansammeln, wußte sie nach eine m ihr eigenthümlichen System in der besten Ordnung zu erhalten. Es machte ihr das größte Vergnügen, das Zimmer spät Abends, wo wir Sehende in unserer Hilflosigkeit daran denken mußten, Licht anzuzünden, aufzuräumen. In der Dämmerungsstunde schwebte sie, für uns noch eben erkennbar, im Zimmer hin und her, bald sichtbar, wenn sie am Fenster vor überging, bald in das Dunkel der entfernteren Theile des Zimmers verloren und fing an, die Gegenstände die während des Tages gebraucht worden waren, von dem Tische abzuräumen und diejenigen, welche während der Nacht gebraucht werden würden, darauf hinzustellen. Wir durften nicht eher Licht anzünden, als bis sie uns das Zimmer wie durch Feenhände geordnet zeigen konnte. Wenn wir uns überrascht zeigten, lachte sie schalkhaft und sagte, sie bedaure die armen unnützen Menschen aufrichtig, die nichts ohne Licht thun könnten. Dasselbe Vergnügen, das es ihr gewährte, das Zimmer im Dunkeln aufzuräumen, machte es ihr auch, im Dunkeln durch das ganze Haus zu gehen und sich mit jedem Winkel desselben vom Dach bis zum Keller gründlich bekannt zu machen. Sobald Oscar wohl genug war, um wieder hinunterzugehen bestand sie darauf, ihn zu führen.
»Sie waren so lange auf Ihr Zimmer angewiesen,« sagte sie, »daß Sie das übrige Haus vergessen haben müssen. Nehmen Sie meinen Arm und kommen Sie mit mir. Jetzt sind wir auf dem Vorplatz, vergessen Sie nicht; hier führt eine Stufe hinunter und hier führt wieder eine Stufe hinauf; hier auf dem oberen Treppenabsatze müssen Sie um eine scharfe Ecke biegen und hier ist eine häßliche Falte im Treppenteppich, über die Sie fallen könnten.« So brachte sie ihn nach seinem eigenen Wohnzimmer, als ob er blind und sie sehend wäre.
Wer hätte einer solchen Pflegerin widerstehen können? Ist es zu verwundern, als ich einen Augenblick an jenem Tage das Zimmer verlassen hatte, daß ich seinen Ton vernahm, der eine höchst verdächtige Aehnlichkeit mit einem Kusse hatte? Ich hatte sie stark im Verdacht, daß sie auch hierbei der führende Theil gewesen sei; denn sie war so eigenthümlich ruhig und er sah so eigenthümlich bestürzt aus, als ich wieder in’s Zimmer trat. Eine Woche nach Oscars Genesung beschloß Lucilla die Kur ihres Patienten, mit anderen Worten, Oscar machte ihr einen Heirathsantrag. Ich bin fest überzeugt, daß er es nicht ohne Hilfe zu Stande gebracht haben würde, diesen Wendepunkt in einer so zarten Angelegenheit herbeizuführen und daß Lucilla ihm diese Hilfe leistete.
Ich will es dahin gestellt sein lassen, ob ich darin Recht oder Unrecht habe, die Thatsache aber kann ich verbürgen, daß Lucilla, als sie mir an einem lieblichen Herbstmorgen die Neuigkeit mittheilte, in einer so ans gelassenen Laune war, daß sie vor Freude tanzte und was noch unschicklicher war, mich in meinen respektablen Jahren mit ihr zu tanzen zwang. Sie faßte mich um die Taille und walzte mit mir auf dem Rasen, während Frau Finch in der abgesetzten blauen, Jacke, das Baby in der einen und den Roman in der andern Hand, dabei stand und uns beide mahnte, daß wenn wir eine halbe Stunde damit verlören, auf dem Rasen herumzuwirbeln, wir die verlorene Zeit in diesem Hause nie wieder einbringen würden. Trotzdem fuhren wir fort zu tanzen, bis wir ganz außer Athem waren. Nur die vollständigste Erschöpfung konnte Lucilla bändigen. Was mich betrifft, so bin ich, glaube ich, die rascheste Person meines Alters, die es gibt. Ich höre den Leser fragen, wie alt ich denn sei? Ja, das ist der einzige Punkt, über welchen ich immer die strengste Discretion beobachte. Setzen wir meine Raschheit auf Rechnung meiner französischen Nationalität, meines ruhigen Gewissens, meiner vortrefflichen Verdauung und fahren wir in unserer Erzählung fort.
Im Laufes jenes Tages fand in Browndown eine vertrauliche Unterhaltung zwischen Oscar und dem Ehrwürdigen Finch statt. Was bei dieser Gelegenheit zwischen beiden verhandelt wurde, erfuhr ich nicht. Als der Pfarrer wieder zu uns kam, trug er den Kopf hoch und stolzirte selbstbewußt auf seinen dürren kleinen Beinen einher. Er umarmte seine Tochter in pathetischem Schweigen und reichte mir die Hand mit einem heiteren Lächeln der Herablassung welche des größten Schwindlers, der je auf einem Thron gesessen hat, Ludwig des Vierzehnten, würdig gewesen wäre. Als er endlich seiner väterlichen Erregung Herr wurde und zu reden begann, ertönte seine Stimme so gewaltig, daß ich wirklich fürchtete, sie werde ihn zersprengen. Der Dunst von Worten, in den er sich hüllte, lief, wenn man ihn verdichtet zu Papier bringt, auf die beiden folgenden Sätze hinaus: Erstens begrüßte er in Oscar, als ob er an seinen eigenen Kindern noch nicht genug habe, einen neuen Sohn; zweitens erblickte er dies Hand der Vorsehung in allem, was geschehen war. Zu meiner Schande mußte ich bekennen, daß ich nichts erblickte, als – die Hand Finch’s und Oscars Tasche.
Der Tag der Hochzeit war noch nicht definitiv festgesetzt; es war nur im Allgemeinen verabredet, daß die Hochzeit in etwa sechs Wochen stattfinden solle. Diese Zeit sollte zu einem doppelten Zweck verwendet werden: Die Advocaten sollten sie dazu benutzen, den Heirathscontract vorzubereiten und Oscar sollte bis dahin wieder vollständig hergestellt sein.
In Betreff dieses letzteren Punktes waren wir Alle nicht ohne Besorgniß. Ost aus Wunde war geheilt und seine geistigen Fähigkeiten waren wieder ganz die alten. Aber trotz alledem war etwas bei ihm nicht ganz in Ordnung. Jene eigenthümlichen Gegensätze in seinem Charakter, deren ich schon früher Erwähnung gethan habe, äußerten sich jetzt stärker als je. Der Mann, welcher, als sein Blut in Wallung gewesen, den Muth gehabt hatte, sich allein und unbewaffnet mit zwei Räubern zu messen, konnte jetzt das Zimmer, in welchem der Kampf stattgefunden hatte, nicht betreten,: ohne am ganzen Leibe zu zittern. Er, der mich verlacht hatte, als ich ihn bat, nicht allein in seinem Hause zu schlafen, hatte jetzt zwei Männer, einen Gärtner und einen Diener, zu seinem Schutze ins Haus genommen und fühlte sich auch so noch nicht sicher. In seinen Träumen sah er sich beständig von dem Spitzbuben mit dem Todtschläger angegriffen oder blutend auf dem Boden liegen und Jicks schmeichelnd zureden, ihm so nahe zu kommen, daß er sie mit der Hand erreichen konnte. Wenn einer von uns nur entfernt darauf hindeutete, daß er seine Lieblingsbeschäftigung wieder aufnehmen möchte, hielt er sich die Ohren zu und bat uns inständigst, seine Erinnerungen an die schreckliche Vergangenheit nicht wieder wachzurufen. Er wollte nicht einmal seine Kiste mit Werkzeugen ansehen. Auf unsere Frage, was dieser Zustand zu bedeuten habe, erklärte der Arzt, daß Oscar’s Nervensystem erschüttert sei, und gestand offen, daß dabei nichts zu thun sei, als die Zeit ihren günstigen Einfluß üben zu lassen. Ich für meinen Theil war, wie ich bekennen muß, geneigt, Oscar’ Zustand ziemlich streng zu beurtheilen. Nach meiner Ueberzeugung wäre es seine Pflicht gewesen, sich Zwang anzuthun. Er erschien mir zu indolent, um das seinige zur Besserung seines Zustandes zu thun. Zwischen Lucilla und mir kam es wiederholt zu lebhaften Erörterungen über Oscar. Eines Abends, als wir abwechselnd plaudernd und spielend am Klavier saßen, war sie gründlich böse auf mich, weil ich nicht so unbedingt mit ihrem Liebling sympathisirte wie sie. »Ich habe etwas bemerkt, Madame Pratolungo,« sagte sie erröthend und in gereiztem Tone zu mir, »Sie haben Oscar von Anfang an keine Gerechtigkeit widerfahren lassen.«
Man achte wohl an diese anscheinend unbedeutenden Worte. Die Zeit wird kommen, wo sie uns bedeutungsvoller erscheinen werden.
Die Vorbereitungen für die Hochzeit nahmen ihren Fortgang. Die Advocaten legten ihren Entwurf eines Ehecontracts vor und Osrar schrieb seinem Bruder, um demselben die bevorstehende Veränderung in seinem Leben und die Umstände, welche dieselbe herbeigeführt hatten, mitzutheilen.
Den Ehecontract bekam ich nicht zu sehen, schloß aber aus gewissen Anzeichen, daß Oscars vollkommene Uneigennützigkeit in Geldsachen von seinem künftigen Schwiegervater ausgebeutet worden sei. Der Ehrwürdige Finch hatte, wie mir erzählt wurde, bei der Durchlesung des Documents Thränen vergossen und Lucilla verließ das Studierzimmer ihres Vaters nach dort stattgehabter Unterhaltung in leidenschaftlicherer Entrüstung, als ich sie noch je bei ihr gesehen hatte.
»Fragen Sie mich nicht, was es giebt!« murmelte sie zwischen den Zähnen. »Ich schäme mich, es Ihnen zu sagen.« Als Oscar etwas später zu ihr ins Zimmer trat, fiel sie – fiel sie thatsächlich vor ihm auf die Knie. Ihres ganzen Wesens hatte sich eine so leidenschaftliche Aufregung bemächtigt, daß sie im Augenblick nicht mehr wußte, was sie that. »Ich bete Dich an,« brach sie aus, indem sie seine Hand mit krampfhaften Küssen bedeckte; »Du bist der edelste Mensch auf der Welt. Ich kann nimmermehr Deiner würdig werden.« Die Erklärung dieser überschwenglichen Reden und Handlungen ließ sich nach meiner Ansicht kurz dahin zusammenfassen, daß Oscar’s Geld in die Tasche des Pfarrers fließen und die Tochter des Pfarrers als Mittel dienen sollte, diese Transaction bewerkstelligen.
Die Zeit der Vorbereitungen zur Hochzeit verfloß; Woche auf Woche verging; Alles war längst für die Hochzeit bereit und doch fand die Hochzeit nicht statt. Weit entfernt, wie der Arzt es voraus gesagt hatte, mit Hilfe der Zeit wieder seinen früheren Gesundheitszustand zu erlangen, wurde Oscars Befinden fort während schlimmer. Alle dies Symptome nervöser Aufregung, welche ich bereits früher geschildert habe, traten, anstatt sich zu verlieren, immer stärker bei ihm hervor. Er wurde immer magerer und bleicher. Im Beginn des Monats November mußten wir wieder zum Arzt schicken. Die Frage, welche ihm dieses Mal vorgelegt werden sollte, ging auf Lucilla’s Wunsch da hin, ob nicht eine Luftveränderung angezeigt sei.
Ein Umstand, der mir entfallen ist, verzögerte die Ankunft des Arztes. Oscar hatte den Gedanken, den Arzt an diesem Tage zu sehen, bereits ganz aufgegeben und war zu uns ins Pfarrhaus gekommen, als der Doctor plötzlich an dem Pfarrhause vorüberfuhr. Man hielt ihn an, bevor er nach Browndown weiter fuhr und er hatte eine Besprechung mit seinem Patienten in Lucillas Wohnzimmer.
Lucilla, die mit mir in meinem Schlafzimmer wartete, wurde ungeduldig Sie bat mich, an die Thür des Wohnzimmers zu klopfen und zu fragen, ob sie etwa der Consultation beiwohnen dürfe. Ich fand den Doctor und seinen Patienten am Fenster stehend, in einer ruhigen Unterhaltung begriffen. Offenbar war nichts vorgekommen, was einen von Beiden im Mindesten hätte aufregen können. Oscar sah ein wenig bleich und angegriffen aus, war aber gleich seinem ärztlichen Rathgeber vollkommen ruhig.
»Im nächsten Zimmer,« sagte ich, »ist eine junge Dame, welche sehr begierig ist, das Ergebniß Ihrer Consultation zu erfahren.«
Der Doctor sah Oscar an und lächelte.
»Wir haben Fräulein Finch in der That nichts mitzutheilen,« sagte er. »Herr Dubourg und ich haben seinen Zustand wieder gründlich durchgesprochen und sind zu keinem neuen Ergebniß gelangt. Sein Nervensystem hat sich nicht so rasch wieder beruhigt, wie ich es erwartet hatte; das thut mir leid, beunruhigt mich aber nicht im Mindesten; bei seinem Alter kann man sicher auf eine völlige Wiederherstellung rechnen. Er muß Geduld haben und die junge Dame muß sich gleichfalls gedulden. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Haben Sie etwas dagegen, daß Herr Dubourg eine Luftveränderung versucht?« fragte ich.
»Durchaus nichts. Er kann gehen, wohin er Lust hat und sich die Zeit vertreiben, wie es ihm gut scheint. Sie Alle nehmen Herrn Dubourgs Fall etwas zu ernst. Bis auf eine an und für sich gewiß unangenehme Verstimmung der Nerven fehlt ihm wirklich nichts. Es findet sich keine Spur eines organischen Leidens bei ihm. Der Puls fuhr der Doctor fort, indem er seinen Finger leicht an Oscar’s Handgelenk legte, »ist vollkommen befriedigend. In meinem Leben habe ich keinen ruhigeren Puls gefühlt.«
Während er das sagte, zeigte sich plötzlich auf Oscar’s Gesicht eine schreckliche Verzerrung der Muskeln.
Seine Augen waren widerlich nach oben gerichtet. Sein ganzer Körper verzog sich, wie wenn eine Riesenhand ihn gepackt hätte, vom Scheitel bis zur Zehe nach der rechten Seite hin. Noch bevor ich ein Wort sagen konnte, lag er in Krämpfen am Boden zu den Füßen seines Arztes.
»Guter Gott, was ist das?« rief ich aus.
Der Doktor löste Oscar’s Cravatte und entfernte die Möbel, die sich in seiner Nähe befanden, betrachtete dann einen Augenblick den auf dem Fußboden in Zuckungen daliegenden und sich windenden Mann.
»Können Sie nichts thun?« fragte ich.
Er schüttelte ernst den Kopf. »Nichts.«
»Was ist es denn?«
»Ein epileptischer Zufall.«