Читать книгу Die Frau in Weiss - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 5
Erster Band
III
ОглавлениеDie Hitze war den ganzen Tag über sehr drückend gewesen, auch der Abend war noch heiß und schwül.
Meine Mutter und Schwester hatten so viele letzte Worte zu sagen gehabt und mich so oft gebeten, noch fünf Minuten länger zu bleiben, daß es beinahe Mitternacht war, als die Magd das Gartenthor hinter mir schloß. Ich that ein paar Schritte auf dem kürzesten Wege nach London zu, dann stand ich still und zögerte.
Der Mond stand groß und voll an dem dunkelblauen, sternenlosen Himmel, und die hügelige Haide sah in dem geheimnisvollen Lichte wild genug aus, daß sie Hunderte von Meilen von der Stadt hätte entfernt sein können, die weiter abwärts lag. Ich konnte mich nicht überwinden, eher als durchaus nothwendig, zu der Hitze und trüben Luft von London zurückzukehren. Die Aussicht, in meine dumpfigen Zimmer schlafen zu gehen, und die, allmälig zu ersticken, schienen mir bei meinem unruhigen Körper- und Gemüthszustande gleichbedeutend. Ich beschloß, durch die reinere Luft auf dem weitesten Umwege, den ich nur machen konnte, heimzuschlendern; den weißen sich hin und her schlängelnden Pfaden, die über die einsame Haide hinliefen, zu folgen und durch die am freiesten liegende Vorstadt von London dorthin zurückzukehren, indem ich den Weg von Finchley einschlug und so in der Frische des neuen Morgens auf der Westseite des Regents Park anlangte. Ich wanderte langsam auf der Haide dahin, im Genusse der himmlischen Stille und voll Bewunderung der sanften Abwechslungen von Licht und Schatten, wie sie einander rund um mich her auf der hügeligen Haide folgten. Solange ich bei diesem ersten und hübschesten Theil meines Nachtspazierganges war, blieb mein Geist für die Eindrücke des Anblickes passiv empfänglich; ich dachte nur wenig an irgend einen Gegenstand – ja, was meine Gefühle betrifft, so dachte ich eigentlich gar nicht.
Als ich aber die Haide verlassen und einen Nebenweg eingeschlagen hatte, wo es weniger zu sehen gab, zogen die Gedanken, welche die kommende Veränderung in meinen Gewohnheiten und Beschäftigungen natürlicherweise hervorriefen, mehr und mehr meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf sich. Als ich am Ende des Weges anlangte, war ich vollkommen in meine phantastischen Visionen von Limmeridge House, Mr. Fairlie und den beiden jungen Damen vertieft, deren Uebungen in der Kunst der Wasserfarbenmalerei ich so bald beaufsichtigen sollte.
Ich war jetzt an der Stelle angekommen, wo vier Wege einander begegnen – der Weg nach Hampstead, auf dem ich zurückgekehrt war, der Weg nach Finchley, der nach West-End und der nach London. Ich hatte mechanisch den letzteren eingeschlagen und schlenderte langsam die Landstraße entlang – in unnützen Muthmaßungen, wie ich mich entsinne, über das Aussehen der jungen Damen in Cumberland – als in einem einzigen Augenblicke jeder Tropfen Blutes in meinem Körper durch die Berührung einer Hand, die leicht und plötzlich von hinten auf meine Schulter gelegt wurde, erstarrte.
Ich wandte mich schnell um, indem meine Finger sich fest um meinen Stock schlossen.
Da, in der Mitte des breiten, hellen Weges – da, als ob sie soeben aus dem Erdboden entsprungen oder vom Himmel gefallen wäre – stand die Gestalt einer einsamen Frau von Kopf bis zu Füßen in weißen Kleidern, ihr Gesicht in ernster Frage zu dem meinigen gewendet und mit der Hand auf die dunkle Wolke deutend, die über London hing.
Ich war über die seltsame Erscheinung, die so plötzlich in der tiefen Nacht an dieser einsamen Stelle vor mich hingetreten war, zu sehr erschrocken, um sie zu fragen, was sie verlange. Sie sprach zuerst.
»Ist das der Weg nach London?« sagte sie.
Ich sah sie aufmerksam an, als sie diese sonderbare Frage that. Es war jetzt beinahe ein Uhr. Alles, was ich deutlich im Mondlichte unterscheiden konnte, war ein farbloses, junges Gesicht, mager und spitz um Kinn und Wangen; große, ernste, sehnsüchtig aufmerksame Augen; nervöse, zuckende Lippen und helles Haar von lichter, braungelber Farbe. Es lag Nichts Wildes, Nichts Unbescheidenes in ihrer Manier; dieselbe war ruhig und gefaßt, ein wenig melancholisch und hatte einen kleinen Anflug von Argwohn; nicht gerade die Manieren einer Dame und doch auch nicht die einer Frau aus der niedrigsten Classe. Die Stimme, so wenig ich auch bis jetzt davon gehört, hatte etwas seltsam Stilles und Mechanisches in ihren Tönen, und ihre Sprache war außerordentlich schnell. Sie hielt eine kleine Tasche in der Hand, und ihre Kleidung – Hut, Shawl und Kleid, Alles weiß – war, soviel ich dies beurtheilen konnte, gewiß nicht von sehr zartem oder theuerem Stoffe. Ihre Figur war schlank und etwas über die mittlere Größe – ihr Gang und ihre Bewegungen frei von der geringsten Uebertreibung. Dies war Alles, was ich in dem matten Lichte und unter den verwirrend seltsamen Umständen unseres Begegnens von ihr sehen konnte, welch eine Art von Frauenzimmer sie war und wie sie dazu kam, eine Stunde nach Mitternacht ganz allein auf der Landstraße zu sein, war mir rein unmöglich zu errathen. Das Einzige, wovon ich mich überzeugt fühlte, war, daß selbst der roheste Mensch und trotz der verdächtig späten Stunde und jener verdächtig einsamen Stelle ihren Beweggrund, zu mir zu sprechen, nicht hätte mißdeuten können.
»Haben Sie mich gehört?« sagte sie, noch immer leidenschaftslos, aber schnell und ohne die geringste Gereiztheit oder Ungeduld. »Ich frug sie, ob das der Weg nach London sei.«
»Ja,« erwiderte ich, »das ist der Weg, er führt nach St. John’s Wood und Regent’s Park. Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich Ihnen nicht schneller antwortete. Ihr plötzliches Erscheinen erschreckte mich etwas, und ich kann mir dasselbe auch jetzt durchaus noch nicht erklären.«
»Sie beargwöhnen mich doch wohl nicht, daß ich irgend etwas Unrechtes begehe, wie? Ich habe Nichts Unrechtes begangen. Ich habe ein Unglück gehabt – ich bin sehr unglücklich, so spät hier allein zu sein, warum haben Sie mich im Verdacht, etwas Unrechtes gethan zu haben?«
Sie sprach mit unnöthiger Eindringlichkeit und Bewegung und zog sich mehrere Schritte von mir zurück. Ich that mein Möglichstes, sie wieder zu beruhigen.
»Ich bitte Sie, nicht zu glauben, daß ich daran denken könnte, einen Verdacht gegen Sie oder irgend etwas Anderes zu hegen, als den Wunsch, Ihnen nützlich zu sein, wenn ich kann. Ich erstaunte nur über Ihr Erscheinen auf der Landstraße, weil mir dieselbe einen Augenblick vorher völlig leer geschienen.«
Sie wandte sich um und deutete auf eine Stelle, wo der Weg nach London mit dem nach Hampstead zusammentraf und wo eine Oeffnung in der Hecke war.
»Ich hörte Sie kommen,« sagte sie, »und verbarg mich dort, um zu sehen, welch eine Art von Mann Sie seien, ehe ich es wagte, zu Ihnen zu sprechen. Ich zweifelte und fürchtete, bis Sie vorbeigegangen waren, und dann war ich genöthigt, hinter Ihnen herzuschleichen und Sie zu berühren.«
»Hinter mir herschleichen und mich berühren? Warum nicht mich anrufen? Seltsam, um mich gelinde auszudrücken!«
»Darf ich Ihnen trauen?« fragte sie, »Sie denken nicht schlechter von mir, weil ich ein Unglück gehabt habe, wie?« Sie schwieg in Verwirrung, indem sie ihre Tasche aus einer Hand in die andere nahm, und seufzte bitterlich.
Die Einsamkeit und Hilflosigkeit der Frau rührte mich tief. Der natürliche Antrieb, ihr zu helfen und sie schonend zu behandeln, siegte über das Urtheil, die Vorsicht und den weltlichen Takt, den ein älterer, weiserer und kälterer Mann in dieser seltsamen Lage zu Hilfe gerufen hätte.
»Für jeden harmlosen Zweck dürfen Sie mir vertrauen,« sagte ich. »Falls es Sie betrübt, mir Ihre seltsame Lage zu erklären, so sprechen Sie nicht weiter davon. Ich habe kein Recht, Erklärungen von Ihnen zu fordern. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann; wenn es mir möglich ist, will ich es thun.«
»Sie sind sehr gütig, und ich bin sehr, sehr froh, Ihnen begegnet zu sein.« In diesen Worten zitterte der erste Anflug von weiblicher Zärtlichkeit, den ich bis jetzt in ihrer Stimme nicht gehört hatte; doch in den großen, sehnsüchtig aufmerksamen Augen, die noch immer auf mich geheftet waren, glänzte keine Thräne. »Ich bin erst einmal in London gewesen,« fuhr sie fort, indem sie immer schneller sprach, »und ich kenne den Theil dort von der Stadt gar nicht. Kann ich einen Fiaker oder irgend einen Wagen bekommen? Ist es zu spät? Ich weiß es nicht, wenn Sie mir zeigen wollen, wo ich einen Fiaker finden kann – und nur versprechen, sich nicht um mich zu bekümmern und mich fort zu lassen, wann und wie ich will – ich habe eine Freundin in London, die mich mit Freuden aufnehmen wird – weiter will ich Nichts – wollen Sie mir’s versprechen?«
Sie schaute ängstlich den Weg hinauf und hinab, nahm wieder die Tasche aus einer Hand in die andere, wiederholte die Worte: »Wollen Sie mir’s versprechen?« und sah mir so bang und mit einer so flehenden Angst und Verwirrung in’s Gesicht, daß sie mich förmlich traurig machte.
Was konnte ich thun? Hier war ein fremdes, völlig hilfloses Wesen in meiner Macht – und dieses Wesen ein verlassenes Weib. Kein Haus war in der Nähe; Niemand ging vorüber, den ich hätte zu Rathe ziehen können, und ich besaß in der Welt nicht das kleinste Recht über sie, selbst wenn ich gewußt hätte, in welcher Richtung ich dieses Recht hätte geltend machen sollen.
Ich schreibe diese Zeilen mit Zagen, indem die Schatten späterer Ereignisse schon auf das Papier fallen, auf dem ich schreibe; aber dennoch frage ich: was konnte ich thun?
Was ich that, war, daß ich Zeit zu gewinnen suchte, indem ich sie befragte:
»Sind Sie gewiß, daß Ihre Freundin in London Sie zu so später Stunde noch aufnehmen wird?« sagte ich.
»Ganz sicher. Sagen Sie nur, daß Sie mich nicht hindern wollen, Sie, wann und wie ich will, zu verlassen – sagen Sie, daß Sie mich nicht hindern werden, wollen Sie mir’s versprechen?«
Als sie diese Worte zum dritten Male wiederholte, trat sie dicht an mich heran und legte ihre Hand mit einer plötzlichen sanften Schüchternheit auf meine Brust, eine magere Hand, eine kalte Hand (ich fühlte es, als ich sie mit der meinigen hinwegnahm) selbst in jener heißen Nacht. Bedenke man, daß ich jung war und daß die Hand, welche mich berührte, einer Frau gehörte.
»Wollen Sie mir’s versprechen?«
»Ja.«
Ein Wort! das kleine, gewöhnliche Wort, das zu jeder Stunde des Tages auf Jedermanns Lippen ist. Ach! und ich zittere, jetzt in dem Augenblicke, wo ich es niederschreibe. –
Wir wandten uns nach London zu und gingen zusammen in dieser ersten stillen Stunde des neuen Tages dahin – ich und diese Frau, deren Name und Charakter, deren Geschichte und Lebenszwecke, ja, deren Gegenwart an meiner Seite in jenem Augenblicke unergründliche Geheimnisse für mich waren. Es war wie ein Traum. War ich Walter Hartright? War dies der wohlbekannte, erlebnisarme Weg, den an Sonntagen bunte Volksmassen besuchten? Hatte ich wirklich vor wenig mehr als einer Stunde die ruhige, anständige, ehrbar häusliche Atmosphäre des Hauses meiner Mutter verlassen? Ich war zu verwirrt – zu sehr mir eines gewissen Selbstvorwurfes bewußt – um während der ersten Minuten zu meiner sonderbaren Gefährtin zu sprechen. Es war wieder ihre Stimme, die zuerst das Schweigen brach.
»Ich wünsche, Sie nach etwas zu fragen,« sagte sie plötzlich. »Kennen Sie viele Leute in London?«
»Ja, sehr viele.«
»Viele Herren von Rang, welche Titel haben?« Es lag ein unverkennbarer Ton des Argwohnes in dieser sonderbaren Frage. Ich zögerte, sie zu beantworten.
»Einige,« sagte ich nach kurzem Schweigen.
»Viele« – sie schwieg und sah mir prüfend in’s Gesicht – »viele im Range eines Baronets?«
Zu sehr erstaunt, um zu antworten, befragte ich sie meinerseits.
»Warum fragen Sie das?«
»Weil ich um meiner selbst willen hoffe, daß es einen Baronet gibt, den Sie nicht kennen.«
»Wollen Sie mir seinen Namen sagen?«
»Ich kann nicht – ich wage es nicht – ich vergesse mich, wenn ich ihn ausspreche.« Sie sprach laut und fast zornig, erhob ihre geballte Hand und schüttelte sie leidenschaftlich; dann, sich plötzlich fassend, fügte sie fast flüsternd hinzu, »sagen Sie mir, welche Sie kennen.«
Ich konnte ihr eine solche Kleinigkeit kaum versagen und nannte daher drei Namen. Zwei von Familienvätern, deren Töchter ich unterrichtete; und noch den eines jungen Mannes, der mich auf einer Seefahrt in seiner Jacht mitgenommen hatte, um Skizzen für ihn zu machen.
»Ach! Sie kennen ihn nicht,« sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Sind Sie selbst ein Mann von Rang und haben Sie einen Titel?«
»Weit entfernt. Ich bin nur ein Zeichenlehrer.« Als ich die Antwort aussprach – vielleicht mit etwas Bitterkeit – nahm sie mit der Hast, die alle ihre Handlungen kennzeichnete, meinen Arm.
»Kein Mann von Rang und ohne Titel,« sagte sie zu sich selbst. »Gott sei Dank! Ihm darf ich trauen!«
Es war mir bis hierher gelungen, meine Neugier aus Schonung für meine Gefährtin zu beherrschen. Jetzt aber überwältigte sie mich.
»Ich fürchte, Sie haben ernste Ursache, sich über einen Mann von Rang zu beklagen?« sagte ich. »Ich fürchte, der Baronet, dessen Namen Sie so ungern aussprechen, hat Ihnen irgend ein großes Unrecht zugefügt? Ist er die Ursache, daß Sie so seltsamerweise und in so später Nacht hier draußen sind?«
»Fragen Sie mich nicht, lassen Sie mich nicht davon sprechen,« entgegnete sie, »ich bin es jetzt nicht im Stande. Man hat mich grausam behandelt, mir ein arges Unrecht angethan. Es wird noch größere Freundlichkeit von Ihnen sein, wenn Sie schneller gehen und nicht mit mir sprechen wollen. Es thut mir so sehr nöthig zu schweigen – damit ich ruhig werde, wenn ich kann.«
Wir gingen schnellen Schrittes weiter, und während wenigstens einer halben Stunde wurde von uns Beiden kein Wort gesprochen, von Zeit zu Zeit – da sie mir verboten hatte, Fragen an sie zu richten – sah ich verstohlen auf ihr Gesicht. Es war immer dasselbe; die Lippen fest geschlossen, die Stirn gerunzelt, die Augen eifrig und doch scheinbar gedankenlos vor sich hinsehend, wir hatten die ersten Häuser erreicht und waren dicht vor der neuen Wesley’schen Schule, als ihre Züge milder wurden und sie wieder sprach.
»Wohnen Sie in London?« fragte sie.
»Ja.« Als ich antwortete, fiel mir ein, daß sie möglicherweise beabsichtige, mich um Rath oder Beistand zu bitten und daß ich ihr eine Täuschung ersparen sollte, indem ich ihr sofort meine bevorstehende Abwesenheit von zu Hause mittheilte. Deshalb fügte ich hinzu: »Aber morgen werde ich London auf einige Zeit verlassen. Ich reise auf’s Land.«
»Wohin?« fragte sie, »nach Norden oder Süden?«
»Nach dem Norden – nach Cumberland.«
»Cumberland!« sie wiederholte das Wort mit zärtlichem Tone. »Ach! ich wollte, ich reiste auch dorthin. Ich war einst glücklich in Cumberland.«
Ich versuchte noch einmal den Schleier zu lüften, der zwischen mir und dieser Frau gezogen.
»Vielleicht,« sagte ich, »sind Sie in dem schönen Lande der Seen geboren?«
»Nein,« entgegnete sie, »ich bin in Hampshire geboren; aber ich ging einmal auf kurze Zeit in Cumberland zur Schule. Seen? Ich erinnere mich keiner Seen. Es ist das Dorf Limmeridge und Limmeridge House, das ich so gern einmal wiedersehen möchte.«
Jetzt war ich an der Reihe, plötzlich stille zu stehen. Da meine Neugierde in jenem Augenblicke einmal sehr erregt war, erfüllte mich die zufällige Erwähnung von Mr. Fairlie’s Wohnorte von den Lippen meiner seltsamen Gefährtin in Erstaunen.
»Hörten Sie Jemanden hinter uns rufen?« fragte sie, sowie ich still stand, indem sie erschrocken den Weg auf und ab blickte.
»Nein, nein. Mir fiel nur der Name Limmeridge House auf – ich hörte denselben vor einigen Tagen von Leuten aus Cumberland aussprechen.«
»Ach! nicht von meinen Leuten. Mrs. Fairlie und ihr Mann sind todt und ihre kleine Tochter mag jetzt wohl schon verheiratet und fortgezogen sein. Ich weiß nicht, wer jetzt in Limmeridge wohnt, wer sie auch sein mögen; sobald sie denselben Namen tragen, weiß ich, daß ich sie liebe um Mrs. Fairlie’s willen.«
Sie schien im Begriffe noch mehr zu sagen; doch während sie sprach, waren wir weiter gegangen und sahen jetzt den Schlagbaum am oberen Ende des Avenue-Road. Ihre Hand erfaßte meinen Arm fester, und sie sah ängstlich auf das Thor vor uns.
»Sieht der Chausseegeldeinnehmer heraus?« fragte sie.
Er sah nicht heraus; es war Niemand in der Nähe, als wir durch das Thor gingen. Der Anblick der Gaslampen und der Häuser schien sie zu beunruhigen und ungeduldig zu machen.
»Dies ist London,« sagte sie. »Sehen Sie irgend einen Wagen, den ich nehmen kann? Ich bin müde und furchtsam. Ich möchte jetzt gern im Wagen sitzen und fortfahren.«
Ich erklärte ihr, daß wir etwas weiter gehen müßten, um eine Droschkenstation zu finden, wenn wir nicht das Glück hätten, einem leeren Fuhrwerke zu begegnen, und dann versuchte ich, die Unterhaltung wieder auf Cumberland zu leiten. Doch war dies nutzlos. Der Gedanke, im Wagen zu sitzen und wegzufahren, beschäftigte sie jetzt ausschließlich, und es schien ihr fast unmöglich, von etwas Anderem zu sprechen.
Wir hatten kaum den dritten Theil des Avenue-Road zurückgelegt, als ich in geringer Entfernung vor einem Hause auf der gegenüberliegenden Seite der Straße einen Fiaker still halten sah. Ein Herr stieg aus und ging durch das Gartenthor. Ich rief den Kutscher an, als dieser seinen Bock wieder bestieg. Als wir über die Straße gingen, wuchs die Ungeduld meiner Gefährtin in dem Grade, daß sie mich zwang, meinen Gang zu beschleunigen.
»Es ist so spät,« sagte sie, »und nur deshalb beeile ich meine Schritte.«
»Ich kann Sie nicht fahren, Sir, wenn Sie nicht nach dem Tottenham-court-road wollen,« sagte der Kutscher höflich, als ich die Wagenthür öffnete. Mein Pferd ist todtmüde, und ich kann es nicht weiter nehmen, als bis zum Stalle.«
»Ja ja, das paßt mir. Ich wollte eben dorthin – gewiß!« Sie sprach in athemloser Hast und drängte sich an mir vorbei in den Fiaker.
Ich überzeugte mich, ehe ich sie einsteigen ließ, davon, ob der Mann sowohl nüchtern als höflich sei, und als sie dann im Wagen saß, bat ich sie, mir zu erlauben, sie an ihren Bestimmungsort zu begleiten, bis sie in Sicherheit sei.
»Nein, nein, nein,« sagte sie heftig. »Ich bin jetzt ganz sicher und ganz glücklich, wenn Sie ein Gentleman sind, so denken Sie an Ihr Versprechen. Lassen Sie ihn zufahren, bis ich ihm sage, stille zu halten. Ich danke Ihnen, o! ich dank’ Ihnen, dank’ Ihnen!«
Meine Hand lag auf der Wagenthür. Sie ergriff dieselbe, küßte sie und stieß sie fort. In demselben Augenblicke setzte sich der Fiaker in Bewegung – ich eilte in den Weg, mit einer unbestimmten Idee, ihn wieder anzuhalten, ich wußte selbst nicht, warum – zögerte aus Furcht, sie zu erschrecken oder zu beunruhigen – und rief endlich, aber nicht laut genug, um von dem Kutscher gehört zu werden. Das Geräusch der Räder verlor sich in der Entfernung – der Fiaker verschmolz sich mit dem schwarzen Schatten der Straße – die Frau in Weiß war fort.
Zehn Minuten oder etwas mehr waren verstrichen. Ich war noch auf derselben Seite der Straße, bald mechanisch ein paar Schritte vorwärts gehend, bald zerstreut stehen bleibend. Einen Augenblick bezweifelte ich die Wirklichkeit meines Abenteuers, im nächsten verwirrte und beunruhigte mich ein Bewußtsein, unrecht gehandelt zu haben, das mich jedoch völlig in Unwissenheit darüber ließ, wie ich recht gehandelt hätte. Ich wußte kaum, wohin ich ging oder was ich zunächst zu thun beabsichtige; ich war mir Nichts, als der Verwirrung meiner Gedanken bewußt, als ich plötzlich zum Selbstbewußtsein zurückgerufen – erweckt wurde, möchte ich fast sagen – durch das Geräusch schnell hinter mir heranfahrender Räder.
Ich war auf der dunklen Seite der Straße, im Schatten einiger Bäume der Gärten, als ich still stand und mich umschaute. Auf der gegenüberliegenden, helleren Seite der Straße, in kurzer Entfernung von mir ging ein Constabler langsam der Richtung von Regent’s Park zu.
Der Wagen fuhr an mir vorbei – eine offene Chaise, in der Zwei Männer saßen.
»Halt’ still!« rief der Eine. »Da ist ein Constabler. wir wollen ihn fragen.«
Das Pferd wurde augenblicklich ein paar Schritte jenseits der dunklen Stelle angehalten, wo ich stand.
»Constabler,« rief der, welcher zuerst gesprochen hatte, »Haben sie eine Frau dieses Weges kommen sehen?«
»Was für eine Art Frau, Sir?.«
»Eine Frau in einem lavendelfarbigen Kleide –«
»Nein, nein,« rief der zweite Mann dazwischen. »Wir fanden die Kleider, die wir ihr gegeben hatten, auf ihrem Bette. Sie muß in den Kleidern fortgegangen sein, die sie trug, als sie zu uns kam. In Weiß, Constabler, eine Frau in Weiß.«
»Ich habe sie nicht gesehen, Sir«
»Falls Sie oder einer ihrer Leute der Frau begegnen, so halten Sie sie fest und schicken sie unter sorgfältiger Aufsicht nach dieser Adresse. Ich bezahle alle Kosten und gebe noch eine gute Belohnung obendrein.«
Der Constabler besah die Karte, die ihm herabgereicht wurde.
»Warum sollen wir sie festhalten, Sir? Was hat sie gethan?«
»Gethan?! Sie ist aus meiner Irrenanstalt entflohen, vergessen Sie es nicht, eine Frau in Weiß. Fahr zu.«