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Strohwaise
ОглавлениеKevin Lehmann war nicht der angesagteste Junge in der 12b, und auch der Horrorfilmabend war nicht seine Idee gewesen. Die anderen hatten ihn dazu überredet, ihn regelrecht genötigt, bis er nicht anders konnte, als sie zu sich nach Hause einzuladen.
„He, Kev, ich habe gehört, deine Eltern sind verreist?“ Robert Steiner, ein Typ mit der Statur eines Holzfällerlehrlings, hatte ihn in einer Pause angequatscht. Robert war zwei Klassen unter ihm und würde die Zehn vermutlich auch in diesem Jahr nicht schaffen, aber an der Schule hatte er dennoch fast uneingeschränkt das Sagen. Die einzige Einschränkung hieß Janek Kowalski und war ebenfalls mit von der Partie. Janek sah gut aus, besaß fette Kohle und konnte reden wie ein Bundeskanzler. Er wickelte alle um den Finger. An der Schule ging das Gerücht um, er habe Frollein Gründler, die rattenscharfe Biologielehrerin, so lange zugetextet, bis sie sich selbst Nachhilfestunden verordnet und ihm einen gelutscht hatte als wäre es die Weltmeisterschaft im Lollivernichten.
Janek hatte keine Ausflüchte zugelassen: „Sturmfreie Bude? Da lässt sich was draus machen, Mann. Vertrau mir!“
Kevin hatte überall herumerzählt, dass sein Vater mit seiner neuen Frau Marisa und ihrem Sohn Erik nach Finnland flog, um an einem geschäftlichen Meeting teilzunehmen. Marisa und Erik wollten einen Kurzurlaub daraus machen. Kevin blieb allein in ihrem großen Haus draußen am Stadtrand von Annaberg-Buchholz, und plötzlich war er für die anderen interessant geworden. Nur wenige lebten in einem Haus, das aussah wie die Villa eines Drogenbarons, der sich einen Architekten als Leibeigenen hielt. Man hatte einen weiten Blick über Äcker und Wiesen, gesäumt von Baumreihen, deren Laub im Herbst in goldenen Farben leuchtete. Bis nach Königswalde und Jöhstadt konnte man sehen, wo allerdings ein paar Windräder wie riesige Vogelscheuchen den Blick verstellten. Hätte das Haus wirklich einem Drogenbaron gehört, hätte es sicher längst ein paar unerklärliche Explosionen gegeben.
Robert wollte die Horrorfilme besorgen, Janek die Mädchen klarmachen. „Sieh zu, dass genug Bier und Wein da sind, um die Tussen abzufüllen“, befahlen sie Kevin, der sich in diesem Augenblick fragte, ob das Ganze nicht ein Fehler war.
Janek und Robert brachten Nicole und Denise mit, die zweifellos zu den besten Bräuten gehörten, die ihre Schule zu bieten hatte, aber wenn Kevin richtig gezählt hatte, wären sie am Ende des Abends einer zu viel. Er konnte sich schon denken, wer das sein würde.
So lief es dann auch. Janek führte das große Wort, und Robert kommandierte Kevin herum, als wäre er nicht der Gastgeber, sondern eine Art Hausdiener in der Probezeit: „He, Kev, das Bier ist gar nicht richtig kalt!“ Denise kicherte hämisch, nur Nicole hielt sich zurück. Es schien ihr peinlich zu sein, aber nicht so peinlich, wie es Kevin war.
Die Horrorfilme drehten sich um Mädchen, die gut aussahen, wenig anhatten und ständig die falschen Entscheidungen trafen. Sie wollten in den Bergen wandern, bogen aber verkehrt ab und landeten dort, wo Typen mit Ledermasken und Kettensägen darauf warteten, ihnen die Nippel abzuschneiden. Denise kicherte noch immer. Sie hatte natürlich kapiert, dass es später um ihre Nippel gehen würde. Sie kuschelte sich an Robert, aber ihre Blicke forderten Janek heraus. Kevin hielt sie bloß ihr leeres Glas hin. „Ist noch Wein da?“
„Ich glaube nicht“, sagte Kevin.
„Red keinen Scheiß, Mann“, lärmte Robert. „Ich wette, im Keller ist jede Menge davon. Ihr habt doch einen Keller?“
„Mmh“, brummte Kevin.
Janek spürte Kevins Unsicherheit. Er grinste. „Lass ihn, Robbie. Siehst doch, dass er Schiss hat. Kein Wunder bei den Filmen, die du anschleppst. Das ist harter Stoff, nichts für Weicheier.“ Übertrieben theatralisch stemmte er sich von der Couch hoch. „Ich werde das dann mal in die Hand nehmen. Also, wo geht’s zum Keller?“
„Ne, lass mal“, meinte Kevin. Er war jetzt die Ruhe selbst. Der Keller stellte kein großes Problem dar. Er musste sich sowieso davon überzeugen, dass alles seine Ordnung hatte.
„Vergiss den Wein nicht“, rief ihm Denise hinterher.
Was für ein Scheißtag, dachte Kevin, als er das Kellerlicht anknipste. Vater war mit dem Stuhl umgekippt, den Kopf in einer Pfütze aus Kotze, und rührte sich nicht mehr. Vermutlich hatte sein schwaches Herz schlappgemacht. Der Elektroschocker, die Fesseln, Wassermangel. Das war wohl ein bisschen viel auf einmal gewesen. Kevin wünschte, er hätte seinem Vater die Tortur ersparen können, aber ein Gespräch unter Männern hatte ja nicht gefruchtet: Vater wollte sich absolut nicht von Marisa trennen.
Seine Stiefmutter gab wütende Laute von sich. Wollte sich wieder aufspielen, doch unter dem Knebel hörte sie sich bloß kläglich an. Die Stricke quetschten ihre Titten, als hätte sich ein Ballonkünstler an ihnen zu schaffen gemacht. Kevin nahm den Elektroschocker von der Werkbank und verpasste ihr noch eine Ladung, sodass sie unter sich machte. Vielleicht sollte er die Pisse des Miststücks in Flaschen füllen und sie Denise als Riesling halbtrocken mit nach oben nehmen, überlegte Kevin, bevor er rüber zu Erik ging, um dessen Fesseln zu überprüfen.
Sie saßen straff. Die Hände des Fünfjährigen waren dunkelblau angelaufen. Vielleicht würden sie absterben, aber das wäre nur gerecht. Der kleine Egoist musste begreifen, dass er sich nicht alles in diesem Haus unter den Nagel reißen durfte, vor allem nicht, wenn die Sachen Kevin gehörten.
Alles in allem war das Ergebnis seines Kontrollganges zufriedenstellend. Keine Ahnung, wieso die anderen glaubten, er hätte ein Problem damit, in den Keller zu gehen.
„Hey, Kev.“ Nicole war ihm nach unten gefolgt. „Kann ich dir … Oh. Mein. Gott.“
Eine Erbsenprinzessin war Nicole nie gewesen, aber Kevin konnte es ihr nicht verdenken, dass sie beim Anblick seiner Familie die Contenance verlor, wie eine Diakonisse im Puff.
„Kev, was …“
Nicole war ein patentes Mädchen. Er bedauerte, dass er sie nun nicht mehr gehen lassen konnte. Beim Gedanken an Robert, Janek und Denise hielt sich sein Mitgefühl in Grenzen.
Ich werde noch Stühle brauchen, dachte Kevin schulterzuckend.
(Erstveröffentlichung dieser Story 2013 in „Mord-Ost“, Buchvolkverlag, ISBN 978-3981560435.)
Eine der Fragen, die auf Lesungen am häufigsten gestellt werden, lautet: Wie ist der Autor auf die Idee gekommen, ausgerechnet diese Story zu schreiben? Da viele Leser Vergnügen an den Antworten auf solche Fragen haben, will ich versuchen, im Laufe dieser Anthologie ein paar Einblicke zu geben.
Ausgerechnet bei dieser Auftakt-Story ist die Antwort allzu banal, wie ich fürchte: Die Geschichte ist ein Abfallprodukt. Ich wollte eine möglichst kurze Story schreiben, die schlimm beginnt und dann mit jedem Absatz schlimmer wird. „Strohwaise“ ist nicht diese Geschichte, nur eine Idee, mit der ich experimentiert habe und die ich später, weil sie mir trotzdem gut gefiel, zu einer eigenen Story ausgebaut habe. Der Titel der immer schlimmer werdenden Geschichte lautet „Fahrerflucht“. Sie finden Sie ganz hinten im Buch.