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Winterer
ОглавлениеKrischan sah heute beschissen aus.
Er war ein Mann in den Dreißigern, athletisch, mit vollem braunem Haar und dunklen Augen. Ein Frauenschwarm. Aber selbst so einer machte eine schlechte Figur, wenn ihm ein Stück Kopf fehlte. Murad hatte ihm mit dem Klappspaten ein Drittel des Schädeldachs weggehackt.
Murad war unser Türke. Ein aufgeschwemmter Dönerfresser, der von deutscher Stütze lebte, aber nichts von der Wildheit seiner Vorfahren im Pamirgebirge eingebüßt hatte, oder wie die Hügel dort unten heißen.
Vor einer Woche hatten wir unser Camp im Wald aufgeschlagen, auf dem Kamm des Erzgebirges, irgendwo im Osten. Was mich anging, konnte es ebenso gut der Pamir sein, denn es war viel zu weit von unserem Heim entfernt. Krischan und Claudia, unsere Betreuer, haben natürlich genau gewusst, auf welchem Berg wir waren. Immer alles unter Kontrolle, diese Sozialtherapeuten. Oder auch nicht, denn Krischan hatte nicht vorhergesehen, dass Murad derart ausflippen würde.
Unser Türke hatte ein Problem mit männlichen Autoritäten. Seine Brüder haben ihn jahrelang gequält, ihm Röcke angezogen und ihn den Abwasch machen lassen. Weiberarbeit! Für einen Kerl aus diesem Kulturkreis ist das die Hölle, und Murad hatte die Erniedrigungen nie verarbeitet. In Gegenwart anderer Männer war er scheu und misstrauisch, aber unter seiner teigigen Oberfläche brodelte Wut. Wenn man ihn herumschubste, explodierte er irgendwann.
Wie bei Krischan.
Ich war erwacht, weil ich Murad schnaufen hörte wie einen Wasserbüffel, der die Wasserkuh besteigt. Dann ein Geräusch wie Stahl, der auf einen Stein einhackt und ein Knirschen, das bestimmt nicht von einem Stein kam. Als ich aus dem Zelt lugte, war Krischans Kopf schon kaputt, und Murad prustete wie der Büffel, der es hingekriegt hat.
„Scheiße“, war das Scharfsinnigste, was mir einfiel.
„Scheiße“, echote Franko und blies Atemwölkchen in die kalte Luft. Wie ich war er zu spät aufgestanden, um etwas ausrichten zu können. „Verdammte Scheiße!“
Franko war ein umgänglicher Kerl. Grinste sich den ganzen Tag einen ab wie ein wichsender Schimpanse. Soweit war mit ihm alles in Ordnung. Bis auf eine Kleinigkeit. Er litt an maßloser Selbstüberschätzung. Keine Ahnung, wie die Krankheit heißt, aber wenn man Franko weismachte, er könne von der Brücke springen, ohne einen Kratzer davonzutragen, band er sich einen Gullydeckel um den Hals, ehe er runterhüpfte. Nur um zu zeigen, was für ein toller Typ er war.
Man sollte meinen, einer wie er würde nicht in einem Heim für psychisch Durchgeknallte leben. So wie unsere Gesellschaft drauf ist, hätte er es als Politiker ganz nach oben schaffen oder Chef der Deutschen Bank werden müssen. Aber Fehlanzeige. Franko war aus jedem Job geflogen, seine Frau war ihm weggelaufen, und er durfte seine kleine Tochter nicht mehr sehen. Hatte sich eingebildet, sie könne fliegen wie Supergirl, weil sie doch aus seinem Sperma gemacht ist.
„Murad ist stark“, sagte er mit einem Blick auf die Sauerei, die der Türke angerichtet hatte. „Aber ich bin stärker.“
Murad irrlichterte ihn aus wilden Augen an, aber Franko zeigte sein Affengrinsen, und der Türke beruhigte sich.
„Leg erst mal den Spaten weg“, sagte ich. Murad gehorchte: „Tut mir leid, Jo, der Kerl war fies zu mir.“
Eigentlich heiße ich Johannes, aber alle nennen mich Jo. Jo, ihr bester Kumpel. Jo, der keinem blöd kam. Der jeden für voll nahm, obwohl die Köpfe meiner beknackten Freunde ziemlich hohl waren, wie ich nur allzu gut wusste.
Und das hatte ich nun von meiner großherzigen Art: Wir waren allein in einem Wald im Erzgebirge, der Wetterbericht meldete Schneeregen, und wir hatten eine Leiche an der Backe. So wie die anderen mich anstarrten, glaubten sie, dass ich mich kümmern und alles ins Lot bringen würde.
Jo, der gute Onkel für eine Handvoll Insassen eines Heimes für Sozialtherapie aus Hinterschwabingen.
Ein gellender Schrei ließ mich herumfahren.
Claudia, unsere Psychotussi. Die hatte ich glatt ausgeblendet. Sie zeigte auf das weggesprungene Schädeldach und jammerte wie die blonde Frau hinter dem Duschvorhang in dem Film mit dem Mann und dem Messer.
„Beruhig´ dich erst mal“, sagte ich.
Letzte Nacht am Feuer hatte Claudia zu viel Glühwein getrunken. Ihre Haut war blass, ihre Lippen rot, und mit ihrem verstrubbelten schwarzen Haar sah sie aus wie Schneewittchen, das es den Zwergen besorgt hat.
Es war unpassend, so etwas zu denken, aber heimlich waren wir alle in Claudia verknallt.
Nicht, dass sie es herausgefordert hätte. Claudia war ein Bücherwurm, der sich durch armdicke Medizinschwarten bohrte. Mit Mitte dreißig wusste sie alles über Kopfkrankheiten, war aber nie auch nur in die Nähe einer Geschlechtskrankheit gekommen. Außerdem trug sie blutdrucksenkende Unterwäsche. In der zweiten Nacht hier draußen hatte ich es mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem war Claudia schön, auf eine spröde, ihr selbst nicht bewusste Art, und kein Schlüpfer der Welt konnte das ruinieren.
„Krischan!“, schrillte sie. „Was habt ihr getan!“
Inzwischen war auch Lothar aus dem Zelt gekrochen. Er stupste Krischan an, und als der keinen Mucks von sich gab, begann er, an der Leiche zu rütteln. Als wolle er dringend wissen, was Krischan heute alles an Programm für uns geplant hatte.
Lothar war fast fünfzig. Er hatte noch nie eine Frau gehabt, was niemanden wunderte, der Lothar beim Essen gesehen hat. Über seinem Mondgesicht saß eine bunte Strickmütze, die er einem kleinen Mädchen abgenommen haben musste, was meiner Ansicht nach zeigte, dass er gewisse Bedürfnisse hatte.
Ich meine, Lothar war ein richtiger Mann. Er funktionierte, zumindest untenrum. Nur im Kopf war er zurückgeblieben. Man musste ihm jeden Handgriff vorbeten. Lothar, mach dein Bett. Lothar, geh Essen fassen. Lothar, Zeit zu kacken. Solange man nichts vergaß, kam er ganz gut klar.
„Lothar, lass Krischan in Ruhe“, sagte ich. Hinter mir schluchzte Claudia wie eine hyperventilierende Sirene. Murad stand mit gesenktem Kopf daneben, und Franko untersuchte den Klappspaten. Mir musste rasch etwas einfallen.
„Lothar“, sagte ich, „komm her.“ Ich legte seine Hand um Claudias Schulter und schob die beiden aus dem Dunstkreis der Leiche, in dem es nach Blut und Exkrementen stank, die der blöde Krischan nicht bei sich behalten hatte.
„Bring Claudia in ihr Zelt, Lothar!”
Mit sanftem Druck führte er sie weg, und Claudia ließ es geschehen. Ich sah sie zittern. Lothar streichelte sanft ihre Haare, was zumindest keine nachteilige Wirkung zeigte.
Auch Franko und Murad stellten im Augenblick keinen Blödsinn an. Ich atmete durch.
Ich fühlte mich diesem Haufen nicht wirklich zugehörig, aber es war unbestreitbar, dass auch ich einiges durchgemacht hatte und eine Auszeit brauchte, um zu mir selbst zu finden.
Ich war damals Anfang zwanzig und hatte im Haus meiner Eltern gewohnt, zusammen mit meinen jüngeren Geschwistern Kevin und Sophie. Kevin der Kotzbrocken und Sophie die Schlange. Mein kleiner Bruder litt am Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, meine Schwester darunter, dass sie die Aufmerksamkeit der ganzen Welt für sich beanspruchte. Ständig schleimte sie sich bei Verwandten und Nachbarn ein, die ihr alles überließen, was sie gerade in den Händen hielten. Schokolade und Kirschen und Fünfeuroscheine. Für Kevin und mich blieb kaum was übrig.
Mein Bruder vergaß natürlich sehr schnell, welche Kostbarkeiten Sophie ihm weggeschnappt hatte. Er hampelte durchs Haus und hinterließ einen Bombenteppich aus Spielsachen, die ich nachher aufräumen musste, weil Kevin sich nicht merken konnte, wo die Star-Wars-Schurken, die Transformers und der Playstation-Kram hingehörten. Seine Krankheit machte ihn immun gegen Hausarbeit.
Meine Mutter unterstützte ihn darin. Kevin hier, Kevin da. Nur Sophie durfte sich mehr herausnehmen. Zum Kotzen. Mein Vater hätte durchgegriffen, aber er war seiner Frau nicht gewachsen. Sie hatte ihm drei Kinder abgetrotzt, danach konnte er bloß noch froh sein, dass sie sich nicht scheiden ließ und das Haus, die Autos und seine Briefmarkensammlung mitnahm. Einig waren sich die zwei nur in einem Punkt: Dass ich studieren sollte, statt als Pizzabote zu jobben. Sie verstanden das nicht. Ein Pizzajunge geht nie hungrig zu Bett. Außerdem kommt er ganz schön herum.
Wie dem auch sei, eines Nachts hatte ich ein paar Bier gekippt und kam zu spät nach Hause. Ich sah die Flammen schon von Weitem. Unser Haus glühte wie der Schlot des Krakataus. In der fettigen Asche, die vom Himmel rieselte, waren Teile meiner Familie drin. Sie verbrannten alle.
Die Polizei fand heraus, dass das Feuer zwei Stunden nach Mitternacht ausgebrochen war. Ursache war ein defektes elektrisches Gerät, ein alter Radiowecker, der nie richtig funktioniert hatte. Mein Vater hatte das Ding auf seinem Briefmarkenalbum stehen, das als erstes Feuer fing. Falls er eine Mauritius besessen hatte, war der Wert der anderen Marken dieser Sorte in jener Nacht explodiert.
Für einen Jungen wie mich war es ein traumatisches Erlebnis, auf einen Schlag seine gesamte Familie und vielleicht sein wertvollstes Erbstück zu verlieren. Sie brachten mich ins Heim, wo ich Lothar, Franko und die anderen Wirrköpfe kennen lernte. Wir alle waren ein bisschen neben der Spur, und Leute wie Krischan und Claudia sollten machen, dass wir wieder in Tritt kamen.
Aus naheliegenden Gründen regelten die beiden im Moment jedoch überhaupt nichts, und so musste ich mir etwas einfallen lassen, damit sich die Dinge hier draußen im Wald nicht in die falsche Richtung entwickelten.
„Murad, pack mal mit an!“ Ich wies auf Krischans Körper, der aufgehört hatte, in der kalten Morgenluft zu dampfen.
„Franko, du auch. Schaffst du das?“
„Null Problemo, Jo“, sagte Franko in einem Ton, der andeutete, dass er stark genug war, zehn Leichen zu schleppen. Er packte den Toten bei den Füßen; Murad nahm die Schultern. Der Türke schaute weg, als ich ihm das Rotztuch aus der Tasche zog und Krischans Schädeldach vom Boden klaubte. Ich hatte den Knochen noch nicht richtig eingewickelt, als Claudia wieder zu schreien anfing. Diesmal klang sie nicht bloß hysterisch. Es hörte sich an, als würde sie von etwas heimgesucht, das glühende Augen, Reißzähne und einen haarigen Arsch hatte.
Das kam nur annähernd hin.
Ich riss die Plane an ihrem Zelt beiseite, und da hockte Lothar. Sein Arsch hatte kaum Haare. Ich musste unwillkürlich an einen Mond mit Krätze denken. Einen Mond, dem Marionettenglieder aus den Ohren wuchsen, nur dass das die Beine von Claudia waren, die zuckten, während Lothar zwischen ihnen pumpte wie eine Ölförderanlage in Texas.
Claudia schrie jetzt nicht mehr, denn hinter ihr hockte Maik, der sich heimlich ins Zelt gezwängt haben musste. Er presste unserer Therapeutin eine schmutzige Hand auf den Mund und erstickte ihre Gegenwehr im Keim, während Lothar seine eigenen Keime in sie pflanzte. Er schien diesmal mit einem Minimum an Anleitung auszukommen.
Verdammter Maik! Ich nannte den Kerl die Ratte.
Keiner wusste, was in Maiks Schädel vor sich ging. Er war blass, hatte dünnes Haar von unbestimmter Farbe und einen schmalen Oberlippenbart, der aussah wie bei einem Zwölfjährigen, der gerade anfing, sich für die Titten seiner Lehrerin zu interessieren. Ich hätte darauf gewettet, dass Maik seiner Lehrerin nicht nur auf die Titten gestarrt hatte, aber wie lange das her war, konnte ich nicht mal schätzen. Der Kerl war irgendwie alterslos. Er konnte siebzehn sein oder siebenundvierzig, keine Ahnung. Genau haben das nur Krischan und Claudia gewusst, aber die sind beide tot.
Ja, Claudia auch. Es tut mir leid, davon berichten zu müssen, denn ich war echt verschossen in unsere Psychotante.
Aber wie sie so in ihrem Zelt lag, keuchend und jammernd, mit Lothar in sich drin und ohne Chance, auf jemanden einzureden, da hat sie Maik in die Hand gebissen. Sie war wohl echt verzweifelt. Maik brach ihr das Genick. Nicht mit einem Ruck, wie es Profis im Film machen, wenn sie das Böse auslöschen. Er bog ihren Kopf zur Seite, bis es nicht mehr ging, und dann bog er immer noch weiter. Vielleicht wollte er, dass sie ihn nicht mehr beißen konnte. Vielleicht hatte er aber auch auf das trockene Knacken gewartet, das sich erst spät einstellte. Bei Maik wusste man nie.
Wir nannten uns die Winterer. Ein Name, der spannend genug war, um Typen wie uns zu begeistern. Ich weiß nicht, ob Krischan ihn sich ausgedacht hatte oder Herr Tatzelhauer, der Heimleiter. Es war ein erlebnispädagogisches Projekt, mit dem man auf Kongressen glänzen konnte, falls es funktionierte. Eine Woche lang sollten wir draußen in der Natur und weit weg von zu Hause über die Runden kommen. Zusammenleben. Selbstvertrauen tanken. Arbeitsteilung entwickeln. Gewissermaßen den aufrechten Gang noch mal erfinden. Hinterher sollten wir bereit sein, unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Aus dem Wald ins Arbeitsamt: Wer mit der Axt umgehen kann, kommt in beiden Welten zurecht. Ich glaube aber nicht, dass sie darauf hinauswollten.
Wir fuhren in den Osten, wo Krischan mal Skiurlaub gemacht hatte. Es war April. Der Winter konnte uns jetzt nicht mehr umbringen, das Wetter würde uns aber auch nicht wie Urlaub vorkommen. So begründete es Herr Tatzelhauer. Aus einem Gespräch zwischen Krischan und Claudia habe ich aber herausgehört, dass auch Fördergelder eine Rolle spielten, die Anfang Mai verfallen wären.
Wir reisten in einem alten VW-Bus, den wahrscheinlich schon die RAF benutzt hatte. Herr Tatzelhauer suchte noch nach einem Sponsor für ein neues Fahrzeug. Wir waren sieben Leute mit fünf Zelten und genug Dosensuppen, um eine Speisung von fünftausend durchzuführen.
Ursprünglich sollte auch Gunnar mitkommen, aber den hatte Maik auf dem Gewissen. Maik hatte den Müll rausbringen müssen, fünf Tage hintereinander. Gunnar war bloß dreimal dran gewesen. Maik hielt ihm den Mülleimer hin, aber Gunnar, der ungefähr so schnell dachte wie ein Pantoffeltierchen auf Radedorm, hatte ihn bloß angeglotzt.
Maik drosch mit dem Eimer so lange zu, bis dieser so leer wie Gunnars Kopf war. So war dieser Maik. Hatte als Kind wohl bloß saure Muttermilch bekommen. Er durfte vermutlich nur mit ins Winterlager, weil Herr Tatzelhauer den unberechenbaren Kerl aus dem Heim haben wollte.
Die Stadt, zu der wir fuhren, hieß Johanngeorgenstadt. Ein von Gott und Bergleuten verlassener Ort, der mal groß gewesen war, als im Mittelalter Erze gefunden wurden. Als nach dem Krieg die Russen kamen, waren Silber und Zinn alle, aber es war noch Uran da, und das holten sie sich, um es in Atomraketen zu stopfen. Zurück blieben eine Milliarde Löcher unter der Stadt und ein paar Einheimische, die Schwibbögen schnitzten und auf Skifahrer warteten.
Claudia erzählte, dass hier auch eine berühmte Band lebte, De Randfichten. Drei Männer in Kniehosen und schwulen Socken. Für mich klangen ihre Lieder wie Windrauschen in einer Fichtenmonokultur. Aber ich will nicht urteilen, denn immerhin stand ich mal auf Mayhem, und das sind Satanisten.
Johanngeorgenstadt liegt an der tschechischen Grenze. Da gibt es Wald soweit man blicken, und weiter als Gretel laufen kann. Dort wollten wir campen. Claudia hantierte mit der Wanderkarte. Krischan fuhr nach ihren Anweisungen. Wenn Claudia nicht hinsah, schüttelte er genervt den Kopf, aber letztlich fanden wir doch noch die richtige Gegend.
Ein Orkan war hier durchgefegt und hatte Bäume geknickt wie altbackene Salzstangen. Die gefallenen Riesen lagen durcheinander wie in einem Mikadospiel.
„Orkan?“, fragte Lothar.
„Wind“, erklärte ihm Krischan. „Stark blasen.“ Dabei schaute er Claudia komisch an, aber die merkte nichts, sondern stellte fest: „Wahrscheinlich Kyrill.“
Maik horchte auf. Er hatte was gegen Ausländer. Nur Murad respektierte er, weil der Türke ein echter Koloss war.
„Wer weiß“, sagte ich, „vielleicht hieß der Orkan ja Lothar.“ Das gefiel unserem Mondmann. Aufgeregt knetete er die Bommeln seiner Strickmütze. „Wirklich, Jo?“
„Klar, warum nicht. Lothar, der Orkan.“
Wir fanden eine Stelle, wo Lothar, oder wie der Sturm geheißen hatte, zwei Fichten aus der Erde gerissen hatte. An ihren Wurzeln hing noch der ganze Waldboden dran, mit Nadeln, Moos, irgendwelchen Flechten, totem Holz und Eichhörnchenscheiße. Von Weitem sah es aus wie der Erdwall eines Wehrdorfes. Von Nahem stellte es einen exzellenten Windfang dar. Hier schlugen wir unsere Zelte auf.
In der Nähe war ein Gasthof, der Henneberg hieß, nach einer Siedlung, die es dort mal gegeben hatte. Krischan handelte aus, dass wir zum Duschen in die Herberge kommen durften. Außerdem für Geschäfte, die man üblicherweise in groß und klein einteilte. Die Wirtsleute waren nett. Sie versorgten uns mit warmem Tee und rasteten nicht gleich aus, wenn Lothar in seinen dreckigen Schuhen quer durch die Gaststube latschte, um die Hauskatze zu belästigen. Er liebte Tiere. Dreckige Fußböden waren ihm egal.
Am zweiten Tag machten wir einen Ausflug ins Moor. Es war nach einem großen Vogel benannt worden, einem Kranich, Storch oder Strauß. Ich erinnere mich nicht genau. Es war kein Moor wie im Kino, mit schwarzem Schlamm, der einen runterzog und tausend Jahre später als Mumie wieder ausspuckte. Man konnte sich dieses Moor als grünen Bergsee vorstellen. Statt auf Wasser blickte man auf ein Meer aus Moorkiefern, Heidekraut und mickrigen Sträuchern. Man ging auf einer schwankenden Decke, aber man versank nicht.
„Gibt’s hier Bambis, Jo?“, wollte Lothar wissen. Ich nahm an, dass im Frühjahr vor allem die Mücken rauskamen und einen aussaugten, bis man eine Transfusion brauchte, aber ich sagte: „Sicher, ein paar vielleicht“, und Lothar war glücklich.
Der Wind pfiff über die Krüppelbäume und blies uns Eiskörner ins Gesicht. „Wunderschön“, fand Claudia, aber als Murad ihr mit einem Eisklumpen die Kapuze vom Kopf schoss, war sie sauer.
„Pass auf, was du tust!“, schimpfte Krischan.
Franko wollte Claudias Ehre wiederherstellen, indem er Murad eine Ladung Schneematsch ins Gesicht warf. Der Türke nahm ihn in den Schwitzkasten, und Claudia musste ihre gesamte Autorität und ihre schrille Stimme einsetzen, damit Franko nicht erstickte.
Maik sah mit dünnlippigem Grinsen zu.
Am dritten Tag kam der Jäger. Im Morgendunst tauchte er im Lager auf und fing an, mit seinen Bergstiefeln gegen die Zeltwände zu treten. „Aufwachen!“
Als wenn das nicht laut genug gewesen wäre, kläffte auch noch sein Köter los als hätte er Fehlzündungen.
Ich schob meinen Kopf aus dem Zelt und starrte dem Untier direkt in die Fänge. Es war ein großer Jagdhund, der nur aus rotem Fell, roter Zunge und roten Augen zu bestehen schien.
Inzwischen regten sich auch die anderen. Der Jäger fing mit Krischan eine Diskussion an, die sich darum drehte, was wir in seinem Wald verloren hatten. Krischan redete etwas von Absprachen mit dem Landratsamt, doch der Jäger wollte davon nichts wissen. Er war alt und verbohrt.
Lothar ging auf den Hund zu, um ihn zu streicheln, aber das rothaarige Monster grollte ihn an, was gefährlicher klang, als wenn Murad einen Batzen Schleim hochwürgte.
„Warte“, rief Franko, „ich werd´ ihn dressieren!“
Der Hund schnappte nach ihm und riss ein Dreieck aus seinem himmelblauen Daunenanorak. „Das bezahlst du“, murmelte Franko, hielt sich von da an aber im Hintergrund.
Maik starrte schweigend das Gewehr des Jägers an, eine Bockflinte mit drei Läufen, einer bösartiger als der andere.
Claudia holte ein Schriftstück aus ihrem Zelt, irgendwas Offizielles, denn der Mann studierte es mit aufeinander gepressten Lippen und gab es ihr mit einem einsilbigen Brummen zurück. Dann fixierte er uns, als seien wir ein Rudel Frischlinge. „Ich fass es nicht“, knurrte er. „Hirnis im Wald.“
Er versuchte erst gar nicht zu verbergen, dass wir ihn anwiderten. Na gut, Lothar lief der Rotz aus der Nase und Murads Schwabbelbauch war nur von einem bleichen Turnhemd bedeckt. Ein unschöner Anblick, aber kein Grund, ausfallend zu werden. Er selbst sah auch nicht wie ein Unterwäschemodel aus. Aus seinen Ohren wuchsen graue Haarbüschel und aus seinem Hut ein Rasierpinsel.
„Böser Mann“, brabbelte Lothar, als der Jäger außer Hörweite war. Ich nickte: „Er schießt Bambis tot.“
Claudia schaute mich an, als hätte ich etwas Gemeines gesagt, aber vermutlich kannte auch sie keinen Typen, der Jäger geworden war, um den Wald aufzuräumen.
Krischan winkte ab: „Reden wir von was anderem.“
„Mein Radio ist im Eimer“, sagte Claudia.
Ich hatte mir vorgenommen, die Woche im Wald auf meinem frierenden Arsch abzusitzen und mich nur so weit einzubringen, wie es nötig war, um nicht aufzufallen. Aber ich fühlte mich schuldig, weil ich Claudias pädagogische Bemühungen bei Lothar untergraben hatte. Ich wollte ihr gefallen. Also sagte ich: „Ein Radio? Zeig mal her!“
Es war ein billiges Ding, das man ihr in einem Elektromarkt nachgeworfen hatte. Ich checkte als Erstes die Batterien, aber die schienen in Ordnung zu sein. Deshalb borgte ich mir von Krischan Werkzeug aus dem Auto. Er gab mir auch eines von diesen Multitools, mit denen man in Notsituationen ein Raumschiff bauen und davonfliegen kann.
Während ich werkelte, warf er mir kritische Blicke zu. Ich denke, er wollte, dass ich scheiterte, damit ich bei Claudia keine Pluspunkte sammelte. Schließlich war er es, der sie flachlegen wollte. Aber ich scheiterte nicht. Ich fand einen unterbrochenen Kontakt zwischen Batteriefach und Leiterplatte, keine große Sache. Ich ließ mir Zeit mit der Reparatur, um mich um die Lagerarbeit zu drücken.
Krischan schickte Maik zum Holzhacken, aber der konnte sich nicht vorstellen, was das Horten harzverklebter Äste mit Alltagstüchtigkeit zu tun haben sollte. Er würde später ohnehin nur in eine Wohnung mit Zentralheizung ziehen.
„Geh einfach“, sagte Krischan. „Los!“ Als Pädagoge taugte er so viel wie ein Pinguin als Eisbärenköder. Maik blieb stur.
Claudia redete eine Weile auf ihn ein, mit der Geduld und den Lippen eines Engels. Ich bin sicher, auch Maik war vernarrt in sie, aber er hatte seinen Stolz, verschränkte die Arme vor der Brust und murmelte etwas, das wie Fick dich, Fotze klang. Claudia schnappte nach Luft.
Krischan trat vor. Meister Streng. „Und wie stellst du dir das vor, Maik?“ Er hatte wohl mal einen Kurs belegt, in dem man den Teilnehmern beibrachte, schwierigen Klienten die Absurdität ihrer Forderungen vor Augen zu führen.
Unser Türke rettete die Situation.
„Ich geh Holz holen“, erklärte Murad leise.
Krischan gab ihm ein nagelneues Campingbeil mit einer Schneide so scharf wie eine Zahnarztgattin und einem neongelben Kunststoffgriff. Falls man das Beil in den Wald schmiss, kam es zwar nicht von alleine zurück, aber man würde es selbst dann noch wiederfinden, wenn man sich zuvor ein Auge ausgehackt hatte. Es war ein großartiges Beil.
„Nein, ich gehe“, bestimmte Maik. Sie durften dann beide gehen, denn Krischan hatte zwei von den Dingern im Wagen.
Das Holz war für das Lagerfeuer, das Krischan und Claudia für diesen Abend geplant hatten. In der Stadt kauften sie Toast und anderthalb Meter Bratwürste. Sie spendierten auch ein paar Tetrapaks Glühwein, den wir in einem Topf zum Dampfen brachten. Als ich ihr das Radio gab, bedankte sich Claudia überschwänglich, obwohl das Erste, was sie hörte, der Wetterbericht war, und der sagte Schneeregen voraus.
„Ich wusste gar nicht, dass du dich mit elektrischem Zeugs auskennst, Johannes“, meinte Krischan beiläufig. Er tat, als hätte Claudia mir einen Heiratsantrag gemacht.
Ich zuckte nur mit den Schultern.
Franko rief: „Ich hätte das auch hingekriegt! Viel schneller als Jo!“ In gewissem Sinne rettete unser Möchtegern damit den Tag, und ich nickte ihm zu: „Klar, weiß ich doch.“
Es wurde ein schöner Abend. Sieben Gestalten, erhellt vom warmen Schein des Feuers, der uns alle gleich erscheinen ließ. Sogar Lothar unter seiner bunten Bommelmütze sah gesund aus. Claudia fragte, was wir in den Tagen hier draußen gelernt hätten. Sie wollte hören, dass wir in der Gruppe stark waren, notfalls aber auch allein klarkämen und dass wir die anderen tolerierten, selbst, wenn sie nachts im Zelt furzten.
Lothar sagte, dass Winter doof sei, Maik runzelte bloß die Stirn und Franko verlangte mehr Glühwein. Es muss ziemlich desillusionierend gewesen sein, zumindest, bis Murad sich ein Herz fasste und mit leiser Stimme erklärte, dass wir alle seine Freunde seien. Ich hatte das Gefühl, er meinte es ernst.
Danach quatschten, aßen und tranken wir frei von der Leber weg. Vier Tetrapaks später fing Krischan ein bescheuertes Spiel an. Es hieß: Was wir uns wünschen. Er hoffte wohl, Claudia würde eine Ansage machen, dass sie die Nacht nicht alleine verbringen wollte. Aber sie wünschte sich bloß, dass wir später alle mal Jobs fänden. Sie hatte echt eine soziale Ader. Franko sagte, er wolle seine kleine Tochter wiedersehen. Mitfühlend schwiegen wir, bis Lothar erklärte, er werde nie wieder zeitig zu Bett gehen. Krischan, der Stress auf sich zukommen sah, versuchte, ihm das auszureden.
„Jeder Mensch muss schlafen, Lothar.“
„Ich nicht.“
„Auch du, Lothar. Du bist doch ein Mensch, oder?“
„Später vielleicht.“
Dass die anderen nun anfingen, aufzuzählen, wer schon mal wie lange ohne Schlaf ausgekommen war, stärkte Krischans Position nicht gerade. Ich räusperte mich: „Also ich, Leute, ich bin noch nie später als Mitternacht heimgekommen.“
„Ehrlich, Jo?“, fragte Lothar.
„Ehrlich. Als ich noch Pizzabote war, habe ich mich immer für die Nachmittagsschicht eintragen lassen, damit es abends nicht zu spät wurde. Da könnt ihr meinen Boss fragen.“
Obwohl Lothars Schlafstreik damit vom Tisch war, schaute Krischan mich seltsam von der Seite her an. Der Mann hatte wirklich Komplexe. Es begann zu graupeln.
Als alle schlafen gegangen waren, musste ich noch mal raus zum Pinkeln. Der Schnee hatte eine dünne Decke gebildet, und so sah ich die Fußspuren. Sie führten von Krischans Zelt zu Claudias Schlafplatz. Hatte der Kerl also einen Vorstoß gewagt. Aber vielleicht wollte er sich auch nur einen Salzstreuer borgen und über hartgekochte Eier reden.
Leise schlich ich näher, um zu hören, wie es klang, wenn ein Pädagoge und eine Psychotussi intimes Zeug laberten.
Eigenartigerweise schienen sie wirklich nur zu reden. Darüber, wie sie Maik in den Griff bekamen, wie gut Murad sich machte und dass Franko ein Erfolgserlebnis brauchte.
Und dann fiel mein Name.
Zurück im Zelt, lag Lothar wach.
„Jo“, sagte er.
„Ja, Loth’?“
Er hatte gegrübelt. Über das, was Maik zu unserer engelsgleichen Betreuerin gesagt hatte.
„Claudia ist hübsch“, sagte Lothar.
„Das ist sie.“
„Ich mag sie.“
„Das ist ein wertvolles Gefühl, Lothar.“
„Jo?“
„Mmh“, brummte ich.
„Was ist eine Fotze?“
Am nächsten Morgen explodierten die Emotionen in unserem Winterlager.
Es ist nicht leicht, zwei Leichen verschwinden zu lassen, wenn der Waldboden gefroren und weit und breit kein Wildschwein in Sicht ist. Ich habe gelesen, dass die Viecher wirklich alles vertilgen, warum also nicht auch Sozialarbeiter. Aber auf die Schweine im Erzgebirge war kein Verlass, weshalb Murad noch mal mit dem Klappspaten ranmusste.
Trotz der Kälte schwitzte der Türke wie ein Tier, aber weil er uns als Freunde betrachtete, verlangte er nicht, dass wir ihm beim Graben halfen. Selbst Franko war nicht scharf darauf zu zeigen, wie gut er mit dem Spaten umgehen konnte.
Der Schnee schien als Fertigmatsch vom Himmel zu regnen, und bald sah Murad aus wie etwas, das aus der Erde gekrochen ist. Das erklärte, wieso der Jäger nicht zum Verhandeln aufgelegt war, als er hinter uns auftauchte.
„Ihr verdammten Kloppis, was macht ihr da?“ Er hatte sein dreiläufiges Gewehr im Anschlag.
Vielleicht war er noch mal gekommen, weil er uns ärgern wollte, oder er hatte eine einstweilige Verfügung erwirkt oder wollte uns einfach bloß über den Haufen ballern. Jedenfalls erwischte er uns an der halb fertigen Grube mit zwei Leichen daneben. Maik und Franko hatten Claudias Körper auf Krischan geschmissen. Ich überlegte eine Sekunde lang, ob ich dem Jäger erzählen sollte, dass sie scharf auf ihn gewesen sei und dass beide dann einen Kollaps erlitten hatten. Lothar nahm mir die Entscheidung ab.
„Böser Mann!“ Er sprang auf den Alten los.
Das Gewehr krachte. Eine Ladung Schrot traf Lothar und wütete sich durch seinen Brustkorb. Der rote Hund knurrte und verbiss sich in Lothars Arm. Murad drosch dem Untier den Spaten auf den Schädel. Der Hund ließ los und jaulte, aber das half ihm jetzt auch nichts mehr, denn Murad klemmte ihn sich unter den Arm. Er presste und schüttelte, bis das Genick des Hundes wie ein verdorrter Zweig zerbrach.
Der Jäger starrte die Szene mit offenem Mund an. Dann fasste er sich und schwenkte das Gewehr auf Murad.
Der Türke gab den toten Hund nicht frei. Er grunzte und fletschte die Zähne, und seine Augen rollten nach innen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. So stellte ich mir einen Berserker vor, nur dass diese Typen unter Drogen standen und trotzdem geistesgegenwärtig genug wären, der Hundescheiße auszuweichen, die aus dem Kadaver herausgeschüttelt wurde.
Der Anblick war so fürchterlich, dass der Jäger zögerte, und das brachte ihn um seine Chance.
Maik griff unter seinen Anorak und zog zwei Campingbeile hervor. Gelbe Griffe, rattenscharfer Stahl. Er musste die Dinger gestern Abend aus dem VW-Bus gestohlen haben. Die eine Axt erwischte den Arm des Jägers, die andere drang ihm seitlich in den Hals. Blut spritzte, das Gewehr fiel zu Boden.
Maik hackte so lange auf den Mann ein, bis das, was von seinem Kopf übrig war, in die Grube rollte. Dann nahm er sich den Hund vor. Dieser Kerl war wirklich schräg drauf.
Murad, der sich wieder eingekriegt hatte, starrte voller Abscheu auf die Hundeleiche. Er schien entsetzt über das, was er getan hatte. „Er war gemein zu Lothar, Jo“, murmelte er.
Ich nickte: „Klar, hab’ ich gesehen.“
Dann sagte ich den anderen, dass sie mir helfen sollten, Lothar, der Blut und Rotz hustete, ins Lager zu tragen.
Der Mondmann starb ein paar Stunden später im Zelt, das wir drei Nächte lang miteinander geteilt hatten. Er sah mich aus schmerzumnebelten Augen an und wollte wissen, ob er die Bambis vor dem bösen Jäger gerettet habe. Ich sagte ja.
Außerdem wollte er noch mal an dem Schlüpfer riechen, den er Claudia am Morgen von den Hüften gezerrt hatte. Man soll nicht schlecht von Toten reden, weshalb ich das nicht kommentieren werde. Ich hoffe, man wird später auch nicht schlecht von mir reden, denn ich erfüllte Lothars letzten Wunsch. Zu Mittag war er tot.
Ich hatte die ganze Zeit über bei ihm gesessen. Zwischendurch war ich höchstens eine Viertelstunde weg gewesen, um mich um ein paar Sachen zu kümmern. Ich bat Maik, dass er den zerrissenen Schlüpfer in Lothars Tasche steckte, als Grabbeigabe sozusagen, aber Maik wollte ihn selbst behalten. Er machte einen ziemlichen Aufstand deswegen, und erst, als Murad sich drohend vor ihm aufbaute, kroch er ins Zelt zurück und stopfte dem Toten die Trophäe unter den Pulloverkragen. Ich ließ es dabei bewenden.
Mich bewegten andere Sorgen, denn Franko kam aus der Herberge zurück. Er hatte auf dem Klo ein Geschäft erledigt und dabei den Aufruhr mitbekommen. Ein Lieferant hatte zwei Köpfe auf der Zufahrtsstraße gefunden. War mit seinem Auto fast darüber gebrettert. Wenn ich Franko richtig verstand, hätten sie Mann mit Hund auf die Speisekarte schreiben können, entschieden sich aber, die Polizei anzurufen.
Die Köpfe des Jägers und seiner Töle! Wie die wohl auf der Straße gelandet waren. Was blieb jetzt noch zu tun?
Ich wollte wissen, ob Franko sich mit Gewehren auskannte, und als er stürmisch nickte, ließ ich ihn die Waffe des Jägers holen und schickte ihn auf einen Beobachtungsposten an der Hauptzufahrt, von wo die Polizei am ehesten anrücken würde. Auf der Wanderkarte hieß der Weg Eisenstraße. Maik schickte ich auf die andere Seite, zum Kammweg. Er schob sich die Beile hinter den Gürtel, ehe er loslief.
„Kann ich auch was tun, Jo?“, wollte Murad wissen.
„Ja“, sagte ich. „Mach das Loch größer und schmeiß die Leichen alle rein.“
Ich ordnete im Lager, was unter diesen Umständen zu ordnen war, dann ging ich nachsehen, was Maik tat. Etwa eine dreiviertel Stunde war vergangen. In der Ferne hörte ich einen Schuss. Dann noch einen. Die Eisenstraße. Frankos Gewehr.
Später erzählten sie mir, was passiert war: Franko hatte auf den ersten Funkstreifenwagen geballert, der sich im Wald blicken ließ. Die Drillingsflinte hatte noch zwei Schuss. Als es Klick machte, lief Franko fort. Sie hetzten ihn durch den Wald. Er floh in ein Tal, in dem drei Sprungschanzen standen. Die Leute im Erzgebirge sind verrückt auf Skispringen. Es gab eine Schanze für Kinder, eine Jugendschanze und eine für Könner. Franko entschied sich natürlich für die große. Er kletterte nach oben, und als sie ihn eingekreist hatten, versuchte er, den Polizisten davonzuspringen, ohne Skier, nur mit alten Schuhen und seiner Einbildungskraft ausgerüstet.
Ich habe gehört, dass er zehn Meter über den Schanzentisch hinaus geflogen ist und sich dann wie eine Sternschnuppe in den verharschten Schnee gebohrt hat.
Mit dem Kopf zuerst.
Ich hörte das Klopfen eine ganze Weile, bevor ich Maiks Position erreichte. Er hockte hinter einem der hölzernen Strommasten, über die das Kabel zur Gaststätte verlief. Er drosch mit seinen Beilen zu, dass die Späne flogen. Der Mast sah aus, als habe ein Biber an ihm genagt.
„Was machst du da?“
„Ich kappe die Stromzufuhr“, keuchte er, kranken Eifer in der Stimme. „Wenn sie keine Verbindung zur Zivilisation haben, können sie die Bullen nicht rufen.“
„Das haben sie längst getan, Maik.“
Neben ihm im Schneematsch bemerkte ich ein blutiges Stoffbündel. Als ich genauer hinsah, erkannte ich Fell. Die Katze der Wirtsleute. Sie war sehr zutraulich gewesen, aber wie ich schon sagte, Maik war nicht zu trauen.
„Sie ist die Straße langmarschiert. Wollte Hilfe holen.“
Die Belastung wurde allmählich zu groß für ihn. Ich musste mich vorsehen.
Eine Sirene heulte. Blaulichter zuckten zwischen den Bäumen. Die Polizei mit dem kompletten Angeberarsenal.
Maik lugte hinter dem Mast vor. Als das Fahrzeug um die Kurve kam, schleuderte er eins seiner Campingbeile. Es bohrte sich in die Windschutzscheibe, die eine Sekunde später aussah, als sei eine Kolonie Spinnen darüber gerannt. Türen klappten, Uniformierte hechteten auf die Straße, darauf bedacht, dem Angreifer kein Ziel zu bieten.
Hier war meine Chance, die Dinge ins Reine zu bringen.
Maik wog die zweite Axt in seinen Händen, aber ich fiel ihn von hinten an. Wir rangen miteinander. Er gab nicht auf, also floh ich. Maik rannte hinter mir her.
„Stehen bleiben!“ Die Beamten, Pistolen im Anschlag.
Aber dann tauchte Murad auf, dreckverklebt wie ein Erdteufel, mit dem Klappspaten in der Faust. Das setzte ihn auf ihrer Prioritätenliste ganz nach oben.
Nach dem, was später in der Zeitung stand, war Murad zunächst davongerannt. Aber nur bis zur Grube mit den Toten. Dort lieferte er einen großen Kampf. Er verletzte einen Streifenpolizisten mit dem Spaten und nahm einen anderen in die Klemme. Im Heim hätte er damit gewonnen, aber der Verletzte hatte noch einen zweiten Arm, mit dem er seine Pistole aufhob. Und weil Murad im Berserkerrausch nicht bereit war aufzugeben, drückte der Polizist ab.
Ho?çakal, Türke!
Mit Maik auf den Fersen rannte ich zum Moor.
Ein Bretterweg führte an nassen Wiesen entlang. Ich übersprang eine morsche Planke. Blindwütig tappte Maik hinein. Er tobte wie ein Wiesel im Kaninchenloch. Ich gewann einen Vorsprung und überlegte, ob ich mich auf der Aussichtskanzel verstecken sollte, die fürsorgliche Naturfreunde am Rand des Moors aufgestellt hatten.
Ich blickte zurück, aber Maik kam nicht. Da ich auf Nummer sicher gehen wollte, lief ich an der Kanzel vorbei ins Moor. Geduckt schlich ich zwischen niedrigen Kiefern hindurch. Hinter einer lauerte Maik und sprang mich an. Den ersten Hieb mit dem Beil konnte ich abblocken, aber die Wucht, mit der er zugeschlagen hatte, ließ mich nach hinten taumeln. Ich fiel auf den Rücken. Maik beugte sich über mich.
Im selben Moment, als er meinen Schädel zu Knochensplit zerspanen wollte, tauchten Polizisten zwischen den Krüppelbüschen auf und schossen ihn von mir runter. Das Blut, das ich in meinem Gesicht spürte, sprudelte aus Maiks Hals, der von einer Neunmillimeterkugel zerfetzt wurde.
Perfektes Timing.
Denn nun würde keiner darauf kommen, wer hinter dem ganzen Unheil steckte, das die Winterer angerichtet hatten.
Sehen Sie, ich konnte die anderen nicht am Leben lassen. Ich musste sie alle zum Schweigen bringen. Krischan, indem ich Murad nachts eingeflüstert habe, dass der Pädagoge darauf aus war, ihn zu erniedrigen. Lothar habe ich erzählt, dass Claudia endlich mal einen Mann brauchte, einen wie Lothar, den Orkan. Maik hat unverhoffterweise nachgeholfen.
Der Jäger und sein bescheuerter Hund waren nicht eingeplant, aber wo sie schon mal da waren, konnte ich ihre Köpfe benutzen, um den Bullen klarzumachen, dass sie ihre Pistolen besser entsicherten, wenn sie zu uns in den Wald kamen. Der Rest ließ sich ganz gut improvisieren. Die meisten Heimbewohner sind berechenbarer, als Konrad Tatzelhauer, unser selbstherrlicher Direktor, glaubt.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich hatte nichts gegen die Typen, nicht mal gegen Maik. Krischan war ein Arsch, aber Claudia habe ich wirklich gemocht. Nach dem Abend am Lagerfeuer durfte ich jedoch kein Risiko eingehen.
Ich weiß nicht, ob’s am Glühwein lag oder an der Leutseligkeit, die da zwischen uns herrschte. Claudias Radio zu reparieren wäre vermutlich noch durchgegangen. Eine Menge Leute kennen sich mit Elektrokram aus. Aber dann habe ich darauf bestanden, dass ich nie später als Mitternacht nach Hause gekommen bin. Obwohl das Feuer, in dem meine Familie aufhörte zu nerven, zwei Uhr nachts ausgebrochen war. Und da bin ich angeblich ja noch beim Bier gesessen.
Krischan hatte den Widerspruch mitgekriegt und Claudia einen Floh ins Ohr gesetzt. Und die anderen? Nun, man weiß nie, was diese Hirnis im Kopf behalten und was nicht.
Tut mir leid, Leute, mein Fehler.
(Erstveröffentlichung dieser Story 2008 in „Mords-Sachsen 2“, Gmeiner Verlag, ISBN 978-3899777536.)
Sozialpädagogische Projekte wie das in dieser Geschichte gibt es wirklich, wenngleich ich mir einige Freiheiten genommen habe, insbesondere was die blutige Eskalation angeht. Die Idee kam mir beim Betrachten eines Fotos, das zu einem Zeitungsartikel gehörte, der über solch ein Projekt berichtete. Da stand eine Gruppe junger Männer im Mistwetter neben einem Zelt und grinste in die Kamera. Ich musste sie nur ansehen, und die Charaktere erwachten zum Leben. Ich überlegte, was wohl passieren würde, wenn diese Truppe austickt. Das Resultat meiner Überlegungen haben Sie eben gelesen.