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Der Birkenbusch

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Kahlisch sitzt am Küchenfenster, eine Tasse Kaffee vor sich und blickt auf die Straße mit den vorbeieilenden Passanten – Mütter bringen ihre Kinder in den Kindergarten –, der Mann vom Nachbarhaus schleppt, wie jeden Morgen, sein Bier nach Hause –, Kinder fahren mit dem Fahrrad zur Schule –, und im Wohnblock gegenüber rauchen zwei Frauen auf dem Balkon. Der Wind bläst eine leere Plastikflasche schräg über die Straße.

Kahlisch sieht alles durch das Fenster ablaufen, aber seine Gedanken sind bei dem Telefongespräch von eben. Es hat ihn in seine Kindheit zurückversetzt. Die Stimme des Schulfreundes, dessen sich wiederholende Art, seine Gedanken vorzubringen und sein stetige Monolog, zur Vergangenheit, bringen ihn ebenfalls dort hin – in den Birkenbusch – einen Ort, ihrer Kindheit, ein kleine Wäldchen, das inmitten der Felder, am Rande des Dorfes lag.

In Kahlichs Erinnerung war es für Kinder ein Wagnis, dieses Waldstück zu betreten, trotzdem taten sie es, um dort V e r s t e c k z u s p i e l e n, herumzutoben, mit Decken ein Zelt zu bauen oder einfach hindurchzustreifen. Die Bauern, denen die umliegenden Felder gehörten, trieben die Kinder sofort aus dem Wäldchen, wenn sie sie erwischten. Dann stob die Kinderschar auseinander und blieb unauffindbar, auch Kahlisch. Er hockte unter der Brücke des Dorfbaches, hielt einen Stock in die Strömung und war froh, dass ihn das Durcheinander nicht erreichte. Es wurde ihm mehr und mehr zum Bedürfnis, den Birkenbusch für sich zu erobern, ohne dass es jemand merkte.

An einem Tag schlich er sich durch Rübenfelder, Wiesenstücke und Ackerfurchen bis zum Waldrand hin, schlüpfte ungesehen ins Wäldchen und wartete auf seinen Schulfreund, der aus einer anderen Richtung kam.

Sie flüsterten, als sie sich begegneten, warteten und sicherten sich ab, dass sie allein waren.

Es waren nicht viele Bäume hier und es gab Büsche und Sträucher, die nie angepflanzt worden waren – Wildwuchs, Wildnis inmitten von Ackerland, zugängig, nur über einen Feldweg.

Vom Dorf aus ging dieser Weg über eine kleine Brücke am Bach, durch Wiesen zum Feld. Der kürzeste Weg zum Birkenbusch führte jedoch querfeldein über die Wiesen. Kahlisch hatte ihn für sich erprobt. Von zu Hause aus s p r a n g er über den Zaun, lief schräg am Ententeich vorbei, nahm sich vom Birnenbaum Proviant für den Nachmittag, s p r a n g an einer engen Stelle über den Dorfbach und erreichte die Wiesen. Im Wäldchen stand er still unter einer Buche und biss hastig in eine der Birnen. Hier hörte man die Kirchturmuhr schlagen und wenn der Schmied arbeitete, drang der helle Hammerschlag bis in den Birkenbusch. Stimmen aus dem Dorf waren selten zu vernehmen.

Aus dem Wäldchen, konnte man ungesehen nach draußen blicken. Wir sind in einer guten Deckung – sagte Kahlischs Freund, an jenem Nachmittag, als sie die Vogelnester ausfindig machten wollten. Dann ging es an die Arbeit – die Vogeleiersammlung sollte vervollständigt werden, eine verbotene Sache, das wussten beide. Die Pappschachteln mit den einzelnen Fächern und den vorbereiteten Namensetiketten der Vögel lagen auf dem Waldboden. Sie hatten einen Schnellkleber zum Befestigen der Eier und eine Papiertüte für die Pappschachteln dabei. Kahlisch kletterte als Erster zu einem Vogelnest, entnahm zwei Eier, grün mit kleinen Sprengseln. Amseleier, sagte sein Freund. Die kleinen, weißen Eier aus einem andern Nest, konnten sie nicht bestimmen, nahmen sie aber und klebten sie vorsichtig ein, steckten die Schachteln in die Papiertüten und diese wiederum in ihre Hemden, damit die Hände frei waren. Die Baumhöhle des Buntspechtes wollte sich Kahlisch in den nächsten Tagen vornehmen.

Kahlisch gießt sich Kaffee nach und blickt immer noch auf die Straße. Was war so besonders am Birkenbusch, überlegt er. Die Erinnerungen sind ihm gegenwärtig und die Eigentümlichkeiten des Ortes haben für ihn immer noch den gleichen Zauber. Wenn sich ein Mensch tief genug mit einem Ort verbindet, sagt er sich, dann bleibt diese Verbindung im Laufe seines Lebens bestehen, nährt seine Gedanken und Empfindungen und wird zum Bezugspunkt für ähnliche Sinneseindrücke, die wiederum Impulse geben, für das Denken und Handeln.

Dass der Birkenbusch für Kinder eine verbotene Zone war, wusste Kahlisch schon als Kind. Den Grund verstand er erst, als reifer Mann. Die Zeit lüftete ihm ihre Geheimnisse. Kahlisch begriff Zusammenhänge, die er als Kind bereits spürte, aber bedeutungslos fand.

Wenn er damals in der Wohnung auf der Nähmaschine der Mutter saß, konnte er den Birkenbusch gut erkennen. Er blickte vom Fenster auf das Teerdach des Anbaues, über den Teich des Bauerngehöftes, mit den vielen Enten, zu den Wiesen, zum Dorfbach, auf die Felder und schließlich zum Birkenbusch. Anziehend war für Kahlisch, die ständige Gegenwart des Waldstückes, gleich ob er sich draußen im Dorf aufhielt oder in der Wohnung war. Alle Jahreszeiten erlebte Kahlisch mit dem Birkenbusch. Das Waldstück zog ihn magisch an, doch war er darinnen, verspürte er Einsamkeit. Diese gedrückte Stimmung hielt ihn nicht lange im Wäldchen, er machte sich immer bald auf und davon. Sein Freund empfand dies ähnlich und auch er glaubte noch heute an die Magie dieses Ortes.

Während des letzten Krieges war eine gut getarnte Flakstellung im Birkenbusch.

Amerikaner beschossen von dort die russische Stellung im nahen Steinbruch. Granaten flogen über die Felder. Als die Amerikaner weg waren, bauten die Russen eine Verteidigungsstellung hier auf und feierten im Wäldchen. Kein Dorfbewohner durfte dieses Territorium betreten. Man hörte nur Akkordeonmusik und ab und zu sah man, wie eine Frau im Kopftuch und mit einem Brotkorb ins Wäldchen schritt. In manche Baumrinde waren kyrillische Buchstaben geritzt. Patronenhülsen lagen noch viele Jahre im Wald herum. Kahlisch suchte oft gezielt danach und er wurde nur einmal fündig. Goldfarben lag die Hülse in seiner Hand. Neben dem Zündhütchen waren Zahlen und Buchstaben eingeprägt. Er grübelte über deren Bedeutung und sagte schließlich zu sich: – Pistole.

Und die Bauern vergruben im Birkenbusch heimlich die verendeten Jungtiere. Das sollten spielende Kinder nicht entdecken.

Kahlisch will Klarheit. Er macht sich auf den Weg zum Birkenbusch, mit ihm seine Gedanken, seine Gefühle, seine Überlegungen von damals, die sich mit jenen von heute verbinden.

Ein breit angelegter Fahrweg für Landwirtschaftsmaschinen führt Kahlisch an das Wäldchen heran. Abgestellte Geräte säumen den Waldrand. Durch die Felder führt der tiefe Graben einer im Bau befindlichen Wasserleitungstrasse, nahe am Wäldchen vorbei. Kahlisch ist allein und betritt den einzigen Trampelpfad des Waldes. Die Einsamkeit befällt ihn wieder. Er schreitet still dahin, sieht durch die Bäume auf das Dorf und trifft auf einen Jungen, der im Erdboden gräbt und einen Wall anlegt. Kahlisch spricht ihn auf sein Vorhaben an. Zögerlich erhält er die Antwort – es wird eine Rennstrecke für Fahrräder. Der Junge wendet sich ab und gräbt ruhig weiter. Kahlisch denkt, während er ihm zusieht, dass keiner den Jungen hier verscheuchen wird, er wird seine Tätigkeit in Ruhe und selbstverständlich weiterführen, bis die Fahrstrecke angelegt ist, – später werden die Freunde dazukommen und die wilde Jagd durch das Wäldchen wird beginnen, – Vogelnester werden die Kinder nicht suchen und die kyrillischen Buchstaben an den Bäumen sind längst verwachsen.

Kahlisch merkt die Veränderung augenblicklich und geht aus dem Wäldchen, begegnet einem Hund, der zielgerichtet vom Besitzer zum Wald geschickt wird – Such!, hört Kahlisch noch.

Er verspürt einen kalten Schauer, läuft zügig auf das Dorf zu, über die kleine Brücke am Bach, an der Schmiede vorbei und setzt sich in sein Auto. Die Entzauberung des Birkenbusches hat für ihn schon begonnen.

Der Zug hält nicht in Pasewalk

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