Читать книгу Sunnivas Spuren - Uli Hoffmann - Страница 6
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Es war immer das Gleiche. Immer, wenn Severin Delcroix an einen Ort seiner Vergangenheit kam, entstand vor seinen Augen ein Bild entweder in brillanten Farben oder in Schwarzweiß. Nichts dazwischen. Je nachdem, welche Erinnerung er an diesen Ort hatte. Nun sind Erinnerungen per se etwas sehr Persönliches. Zuschreibungen sowohl negativer wie positiver Art erfolgen aufgrund individueller Erlebnisse und Einordnungen.
Vor fast zehn Jahren musste es gewesen sein, als er mit Marie-Thérèse zum letzten Mal hier war. Zum letzten Mal. Das klingt so lapidar. Für Marie-Thérèse war es jedoch der letzte Tag ihres jungen Lebens. Mit einem Ruderboot waren sie aufs Meer hinausgefahren. Rémy Manaudou, der Bootsvermieter, hatte noch gewarnt. Das Wetter drohte umzuschlagen.
Aber das konnte Severin Delcroix nicht gelten lassen. Es wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen, wenn er an Land geblieben wäre. Und Schwäche war das, was Severin nie zeigen würde, zumal nicht in der Gegenwart von Marie-Thérèse. Sie waren damals ein Vierteljahr verheiratet, als er sich in Brest als Unternehmensberater selbstständig gemacht hatte. Damit verbunden war ein erhebliches finanzielles Risiko; die Verschuldung belastete ihn weiterhin. Marie-Thérèse hatte dort eine Stelle als Grundschullehrerin angetreten. Ihre Eltern waren erfolgreiche Unternehmer in Quimper.
An den Hergang des Unfalls hatte Severin keine Erinnerungen. Der Polizei gegenüber hatte er immer wieder geschildert, wie er bei den ersten Starkböen die Jolle gewendet und den Rückweg in Richtung des Phare du Petit Minou eingeschlagen hatte. Der Sturm hatte das kleine Boot jedoch auf die Felsen vor dem Fort de Toulbroc’h gedrückt. Beim Aufprall wurde Marie-Thérèse aus der Jolle geschleudert und prallte mit dem Kopf auf einen Felsen. Sie muss sofort tot gewesen sein. Es gab natürlich eine Untersuchung durch die Polizei. Ihm konnte jedoch keine Schuld an dem Unglück nachgewiesen werden.
Heute war Severin also zum ersten Mal seit dem Unfall wieder hier. Die Szenerie mit dem Leuchtturm bot ihm das erwartet düstere Schwarzweißbild. Er überlegte, wann sich zum letzten Mal ein kontrastreiches und heiteres Farbfoto in seine Netzhaut eingebrannt hatte. Vielleicht war es die Hochzeit mit Monique vor zwei Jahren. Die Farben des Bildes waren zwar mit der Zeit verblasst, aber als er damals Marie-Thérèse heiratete, musste es ein ebenfalls brillantes Foto gewesen sein.
Monique war heute in der kleinen Pension in Plouzané geblieben. Severin ging vom Parkplatz in Richtung des Phare du Petit Minou. Grauabstufungen. Vom gepflasterten Weg, der auf beiden Seiten von Bruchsteinmauern gesäumt war, hatte er den Leuchtturm immer im Blick. Die Farben waren ihm abhandengekommen, aber er erinnerte sich, dass der Turm über ein rotes Lampenhaus verfügte. Seine Schritte verlangsamten sich, als er das Postkartenmotiv mit Leuchtturm und der Meeresbucht im Blick hatte. Er überlegte, ob man von einem Farbspiel von Grautönen sprechen durfte. Dazu engten die Mauern seinen Weg nach vorne deutlich ein. Oft war er damals mit Marie-Thérèse dieses Spalier von Steinen durchschritten. Es führte zu seinem unausweichlichen Ende.
Nachdem er zum Auto zurückgegangen war, fuhr er in westlicher Richtung bis Portez. Dort fand er ein attraktives Segelrevier und einen Bootsverleih. Für den nächsten Tag mietete er eine Jolle. Wie damals, dachte er. Seine finanzielle Situation war immer noch prekär. Von seinem größten Problem, dem Glückspiel, war er immer noch nicht losgekommen.
Am Abend eröffnete er Monique, er habe ein vortreffliches Segelrevier gefunden und gleichzeitig für den kommenden Tag eine Jolle gemietet.
„Willst du das wirklich?“, fragte sie.
„Du weißt, wie gerne ich segele, Monique.“
„Ja, aber die Sache von damals!“
„Ich bin darüber hinweg!“, erwiderte Severin.
Sie fuhren am nächsten Morgen nach Portez und Severin zeigte Monique stolz das Boot, das er ausgesucht hatte.
Da der Wetterbericht einen ruhigen Frühsommertag prophezeite, entschied sich Severin für einen größeren Törn. An der Plage de Porsmilin herrschte bereits reger Badebetrieb.
Severin hielt weiter auf die offene See zu. Nur mittels eines guten Fernglases hätte man erkennen können, wie der Mann seine leblose Begleiterin über Bord warf. Das angehängte Gewicht würde sie in die Tiefe ziehen.
Severin blickte zurück in Richtung des Badeortes. Details konnte er jedoch nicht erkennen, da das entstandene Bild erneut in unzähligen Grautönen komponiert war.