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Sunniva

Der Mann parkte den Wagen vor dem Gebäude der Stadtverwaltung. Er genoss den Blick über das Inlet mit dem Namen Romet, das eine Art Lagune darstellte vor dem Strand von Selje in der Provinz Sogn og Fjordane, jetzt Vestland. Er blickte zur Stadtkirche, der Selje Kyrkje, auf der anderen Seite der Bucht. Mit ihrem hellen Holz thronte sie über der Reihe der Bootshäuser, die sie von der Wasserseite her zu beschützen schienen.

Asbjørn Solberg war am Ziel seiner Reise angekommen, von der er sagen würde, dass er sie unbedingt habe unternehmen müssen. Innere Widerstände hatten ihn bisher davon abgehalten. Auch hatte er das Gefühl, zu einer solchen Reise gehöre Mut. Etwas, das nicht unbedingt zu seinen Eigenschaften gehörte.

Jetzt im Spätsommer brauchte er zwar ohnehin mal wieder eine Auszeit mit ein wenig Ruhe und Luftveränderung, wenn man ihn aber nach dem eigentlichen Beweggrund der Fahrt gefragt hätte, wäre die Umschreibung ‚Reise in die eigene Vergangenheit‘ die passende gewesen. Mit dem Ort Selje verband er keinerlei Jugenderinnerungen, wohl aber mit einer Frau, von der er wusste, dass sie vor einiger Zeit hierhin an die Westküste gezogen war. Oft hatte er sich gefragt, ob es eine gute Idee sei, sich auf’s Geratewohl auf die Suche nach der Frau zu machen, die ihm in einem bestimmten Zeitabschnitt seines Lebens viel bedeutet hatte.

Vom Parkplatz fuhr er weiter zu dem kleinen Hotel, das er gebucht hatte. Von dort wollte er ausgedehnte Spaziergänge unternehmen, natürlich auch mit Ausflügen in die Kultur wie auf die Insel Selja mit den Ruinen des Klosters Selje. Und dann würde sich herausstellen, ob seine detektivischen Suchbewegungen zu einem Erfolg führen würden.

Vom Hotel öffnete sich der Blick über Selje und die Bucht. Sein Zimmer war eher klein und spartanisch eingerichtet, strahlte aber eine wohnliche, ja warme Atmosphäre aus. Asbjørn packte aus und legte sorgfältig die beiden Bücher auf das Nachtschränkchen, die er mitgenommen hatte. Es handelte sich um einen Kulturführer für Westnorwegen mit einem Artikel über das Kloster Selje und einer Monografie über die Heilige Sunniva, die Schutzheilige von Bergen und Westnorwegen, die in Selje gelebt und im Dom von Bergen ihre letzte Ruhestätte gefunden hat. Doch eher eine Kulturreise statt einer in die eigene Vergangenheit? Er war eigentlich nicht der Vergangenheitsmensch, ihm war nur bei seinem letzten Umzug eine Schatulle mit Fotos aus seiner Kindheit und Jugend in die Hände gelangt. Fotos von ihm und der Person, auf deren Spuren er sich nun begeben hatte. Nachbarskinder waren sie gewesen, schier unzertrennlich, obwohl sie einander mehrmals aus den Augen verloren hatten infolge von Wechseln des Wohnortes der Eltern, später wegen unterschiedlicher Ausbildungs- und Studienorte. Seit dem Fund der Schatulle ging ihm Mette Helgemo nicht mehr aus dem Kopf. Nachdem ihm ein Freund erzählt hatte, er habe ihren Namen vor Monaten in Zusammenhang mit einem Artikel über das Westkap in der Bergens Tidende gelesen, nahm Asbjørn Solberg ihre Spur auf. Er hatte sich den Artikel aus der Bergens Tidende besorgt und bestimmt zehnmal gelesen. Über die Frau aus seiner Vergangenheit wurde im Rahmen einer Bürgerinitiative berichtet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, sich für eine umweltschonende Politik in der Region Westkap stark zu machen. Mette Helgemo war so etwas wie die Sprecherin der Organisation gewesen.

Ihr Mädchenname hatte also Bestand. Asbjørn hatte Mette seinerzeit spontan und unüberlegt einmal gefragt, ob sie sich vorstellen könne, mit ihm zusammenzubleiben. Sie hatte gelacht und er das Thema von diesem Moment an nicht mehr angesprochen.

Nun also hatte er sich in Richtung Westkap aufgemacht, um seinen Urlaub dafür zu nutzen, Mette aufzuspüren und wiederzusehen. Ein abenteuerliches Unterfangen. Die Provinz Vestland war groß und durch die zahllosen Inseln zu wenig kompakt für eine Personensuche. Die Nadel im Heuhaufen. Aber er hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt.

Als Erstes unternahm er einen Spaziergang durch den Ort. Vom Hotel, welches ein wenig auf einer Anhöhe lag, gelangte er zum Hafen. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er sie fand: Sunniva. Aus weißem Stein hatte der Künstler die Statue gefertigt, die auf einem kleinen Platz vor den Landungsstegen stand. Spontan fiel Asbjørn das Wort ‚souverän‘ ein: Sunniva stand aufrecht und im Wind schien ihr wallendes Haar nach hinten zu schweben. Ihr Blick, der stolz dem Meer zugewandt war, schien in Richtung der Insel Selja mit dem gleichnamigen Kloster gerichtet zu sein. Die Ruinen des vermutlich ältesten Klosters in Norwegen standen auch ganz oben auf Asbjørns Ausflugsplan. Er würde sich gleich über die Abfahrten des Klosterbåten erkundigen.

Am Abend fasste er den Entschluss, nach dem Essen irgendwo noch etwas zu trinken. Es war ein noch milder Abend, als er später einen Spaziergang am Strand unternahm. Die Feuchtigkeit des Herbstes machte sich in Gestalt von Nebelschwaden bemerkbar, die über die Sandfläche waberten. Es war dunkel geworden. Lichter der Boote auf dem Romet rahmten die Szenerie ein. Vereinzelt begegneten ihm Menschen auf dem Weg nach Hause, eine Gruppe Jugendlicher alberte lautstark herum. Vor ihm in Richtung Kirche ging eine Gestalt, die Asbjørn nur schemenhaft erkennen konnte. Sie war langsamer unterwegs als er, sodass er sie bald einholen würde. Sie musste ihn bemerkt haben, denn sie wandt sich um und schaute ihn erschrocken an. Dann beschleunigte sie ihre Schritte. Mette? Wie Mette damals hatte sich die Frau ihr rötliches Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Wie besessen war er schon von seiner Idee, dass er eine fremde Frau, die in Selje abends allein am Strand entlanggeht, für seine Jugendliebe hält? Es war aber nicht nur die Art, wie sie ihr Haar trug; die Art und Weise, wie sie sich bewegte, erinnerte Asbjørn an Mette. Sollte er sie ansprechen? An ihrer Stimme würde er sie erkennen. Glaubte er. Nach so vielen Jahren?

Da die Frau vor ihm immer schneller lief, verwarf er schnell diese Idee. In seinem Kopf befand sich anscheinend eine Art Gedankenwirrwarr, Gedanken an Mette.

Er machte sich auf den Weg zu seinem Hotel.

Am nächsten Morgen setzte er sich im Frühstücksraum an einen Tisch, der ihm den Blick über den Strand bis zur Selje kyrkje ermöglichte.

Um 11 Uhr würde er das Klosterbåten nehmen, das ihn in fünfzehn Minuten auf die Insel Selja übersetzen würde.

Er ging hinunter zum Hafen und stellte sich in die Reihe der wartenden Ausflügler, die das Kloster Selje besichtigen wollten. Das Wetter war gut und Asbjørn beschloss, sich nicht der Führung anzuschließen, sondern die Umgebung der Klosterruine auf eigene Faust vorzunehmen. Die MS Selja legte ab, ein modernes, komfortables Ausflugsboot für kleinere Gruppen. Asbjørn stand an Deck und genoss den frischen Fahrtwind. Wie schön müsste es sein, wenn in diesem Moment Mette neben ihm stünde mit ihrem langen Haar. Oder Sunniva.

Am Anleger pilgerten die Passagiere zum Kloster, welches genau vor ihnen lag. Eine Dame bot den Ausflüglern eine Führung zum Kloster und zur Sunniva-Legende an. Asbjørn jedoch trennte sich von der Gruppe und ging voraus. Er umrundete zunächst die Ruine und entschloss sich dann, die Anhöhe hinaufzuklettern, um die Klosteranlage in ihrer Gesamtheit auf sich wirken zu lassen. Hier oben musste auch die Höhle gewesen sein, in die sich die irische Prinzessin Sunniva mit ihren Gefährten zurückgezogen hatte. Asbjørn setzte sich auf einen größeren Stein davor und blickte zum Kloster hinunter. Die Gruppe hatte sich im Halbkreis um die Führerin auf einer quadratischen Rasenfläche, dem ehemaligen Klosterhof, versammelt. Auf den Terrassen unter ihm sah er sie! Wieder wehte ihr langes Haar im Wind. Er wollte rufen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Eigentlich hatte er vor, länger auf seinem Aussichtsplatz zu verweilen. Jetzt aber rannte Asbjørn die Stufen wieder herunter und gelangte auf die obere Terrasse. Gerade ging hinter der Stützmauer die Frauengestalt schnell vorbei und tauchte später noch ein einziges Mal auf der unteren Terrasse auf, bevor sie ganz verschwand. Er war aufgeregt und gleichzeitig enttäuscht. Jetzt war er so weit gereist und die Frau, die er seit langem suchte, war zweimal aufgetaucht. Sunniva? Er erinnerte sich an die zahlreichen Legenden, die von Erscheinungen und Wundern berichteten.

Auch Mette hatte bei ihm einiges bewirkt. Konnte man das Wunder nennen? Sie hatte es damals geschafft, ihn über Lebenskrisen hinwegzuretten. Sie hatte ihm einfach gutgetan. Er hatte lange gebraucht, um dies zu realisieren. Umso mehr ging er jetzt mit sich ins Gericht, sie aus den Augen verloren zu haben. Warum hatte er die Suche nach ihr nicht früher begonnen. War es bereits zu spät? Ihm wurde bewusst, dass er vor kurzem die fünfzig überschritten hatte.

Er bewertete die Tatsache, dass er ihr hier zweimal begegnet zu sein glaubte, als Hoffnungsschimmer. Glaubte. Mehr nicht. Asbjørn würde sich hier im Ort erkundigen müssen, ob es eine Spur zu Mette gab. Er umrundete noch mehrmals die Reste des Klosters, machte Fotos und dachte an die alljährlich stattfindende Pilgerwanderung auf dem Sunnivaleia von Florø bis zum Ziel in Selja. Er nahm sich vor, im nächsten Sommer einmal diese Wallfahrt auf sich zu nehmen. Vielleicht mit Mette!

Dieser kulturhistorische Ort mit den Ruinen des Benediktinerklosters aus dem 12. Jahrhundert hatte für Asbjørn etwas Zauberhaftes, fast Mystisches.

Er verließ die Insel und die MS Selje näherte sich wieder dem Ort mit der markanten Bucht.

Noch ganz unter den Eindrücken der Klosterinsel ging er mit unsicheren Schritten hoch zum Hotel. An der Rezeption traf er Borghild Aanes, die Besitzerin.

„Nun, Herr Solberg, hatten Sie einen schönen Ausflug auf die Insel Selja?“

„Wunderschön, inspirierend. Ich muss gestehen, es gibt noch einen wichtigen Grund für meine Reise: Ich bin auf der Suche nach einer Jugendfreundin, die wahrscheinlich hier in der Gegend lebt. Sagt Ihnen der Name Mette Helgemo etwas?“

Borghild schien zu grübeln.

„Sagt mir zunächst nichts. Der Familienname Helgemo ist mir hier in Selje überhaupt nicht bekannt. Sie sagten Jugendfreundin? Hat die Dame eventuell geheiratet und den Namen gewechselt?“

„Soviel ich weiß, nein. Ich habe hier einen Artikel aus der Bergens Tidende. Dort wird sie erwähnt in Zusammenhang mit einer Bürgerinitiative.“

Asbjørn legte Borghild den mittlerweile ziemlich zerknitterten Ausschnitt hin.

„Es gibt einige Bürgerinitiativen hier in Vestland. Eine Frau namens Helgemo ist mir in diesem Zusammenhang nicht bekannt.“

„Wer könnte mir vielleicht bei meiner Suche behilflich sein?“

„Einar“, antwortete sie.

„Einar?“, fragte Asbjørn.

„Ja, Einar Lindahl. Er wohnt ein bisschen außerhalb auf dem Lindahl-Hof. Er hat angeblich den besten Überblick über die Dorfhistorie. Den sollten sie mal fragen.“

Borghild Aanes zeigte ihm auf der Karte, wo er den Hof finden würde.

Asbjørn bedankte sich und beschloss, nach dem Mittagessen aufzubrechen.

Am Hafen kaufte er sich eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken und setzte sich auf eine Bank auf dem Platz, wo die Sunniva-Statue stand. Als er sie so betrachtete, kamen ihm Zweifel, ob es wirklich das wallende Haar war, das der Künstler als im Wind flatternd dargestellt hatte. Er erinnerte sich an bildliche Darstellungen der Heiligen, auf denen sie eine Art Schleier als Kopfbedeckung trug. Wie auch immer. Sunniva war an diesem Ort und in dieser Darstellung auf jeden Fall eine imposante Erscheinung.

Asbjørn fuhr auf dem Fylkesveg 631, der Provinzstraße, ein kurzes Stück aus dem Ort Selje heraus und bog dann nach rechts ab, wo einige einzelne Häuser und Gehöfte lagen. Ein hölzernes Brett am Zaum wies auf den Lindahl-Hof hin. Asbjørn parkte den Wagen vor einem Stall und ging auf das Haus zu. Ein älterer Mann um die siebzig saß auf einer Bank davor und las Zeitung.

„Hei, mein Name ist Asbjørn Solberg. Borghild Aanes vom Hotel schickt mich zu Ihnen. Herr Lindahl, nehme ich an?“

„Einar! Was kann ich für Sie tun?“

„Ich bin auf der Suche nach einer Frau, sie heißt Mette Helgemo. Borghild sagte mir, Sie kennen sich wie kein zweiter in Selje aus, Einar.“

Der alte Mann überlegte einen Moment und schüttelte den Kopf.

„Tut mir leid, der Name Helgemo ist nicht typisch für Selje. Aber Mette gibt es wie Sand am Meer.“

Asbjørn erzählte von dem Zeitungsartikel in der Bergens Tidende.

„Eine Bürgerinitiative, die sich um den Erhalt unserer Umwelt kümmert, gibt es auch hier in Vestland. Ich habe nur von den Organisationen gehört, verbinde aber nichts mit deren Personen.“

„Können Sie mir jemanden nennen, der mir weiterhelfen könnte?“, fragte Asbjørn.

„Fragen Sie einmal in der Gemeindeverwaltung oder in der Schule nach. Vielleicht können die mit dem Namen etwas anfangen. Aber verraten Sie mir, warum Sie diese Frau suchen?“

„Es handelt sich um eine Jugendfreundin, die ich leider aus den Augen verloren habe.“

„Das nenne ich mal einen Grund!“, sagte Einar und lachte.

Als Asbjørn schon im Aufbruch begriffen war, sagte der Alte: „Ich werde mich mal umhören im Dorf. Lassen Sie mir bitte Ihre Handynummer da, dann rufe ich Sie an, sobald ich etwas erfahren habe.“

„Das ist sehr nett, vielen Dank, Einar!“

Er verabschiedete sich und bestieg sein Auto.

Das würde wohl eine komplizierte Suche werden! Aber was hatte er sich eigentlich gedacht? Egal, es musste sein.

Als er wieder unten in Selje war, hatte er eine Idee: Er machte einen Abstecher zur Selje Kyrkje und ging über den Friedhof. Vielleicht könnte er ja dort einen Anhaltspunkt finden zu Mettes Familie. Eigentlich abwegig, denn sie war ja hier nicht aufgewachsen und erst spät hierhergezogen. Hauptsache, er entdeckte etwas, eine Spur, die er weiterverfolgen konnte.

Reihe für Reihe schritt er die Grabstätten ab. Am Ende hatte er neunmal den Namen Mette gefunden, aber nicht ein einziges Mal Helgemo.

Alle ‚Mettes‘ konnten von den Daten her nichts mit seiner Mette zu tun haben. Also war der Besuch des Friedhofs ein Schuss in den Ofen gewesen. Abgesehen von der malerischen Lage an der Bucht des Romet.

Er fuhr zurück zum Hotel und überlegte. Den Besuch bei der Gemeindeverwaltung, die unweit des Hafens lag, konnte er am Nachmittag gut mit einem Spaziergang verbinden. Die örtliche Schule würde am nächsten Morgen aufsuchen. Die Suche aufzugeben kam jetzt nicht mehr in Frage. Am Sunnivadenkmal setzte er sich wieder auf die Bank, nachdem er sich in der Bäckerei ein Stück Kuchen gekauft hatte.

Am Abend ging er wieder in das kleine Restaurant direkt am Hafen. Mit hochgeschlagenem Kragen seiner Wolljacke machte er wieder einen ausgedehnten Spaziergang in die Randlagen von Selje, wo er neben dem Campingplatz noch weitere hübsche kleine Bauernhäuser antraf. Er fragte sich, ob die Landwirtschaft hier für ein auskömmliches Dasein würde sorgen können. Er erinnerte sich daran, dass Mette schon immer die Natur geliebt hatte. Unter Umständen war sie hier als Bäuerin untergekommen. Aber das würde Einar gewiss herausbekommen.

Er sah sie, als der Weg hinter einer Baumgruppe einen Knick machte. Ihr helles Haar wippte im Pferdeschwanz hin und her. Asbjørns Herz pochte. Warum blieb sie nicht stehen? Immer wenn er seine Schritte beschleunigte, tat sie das ebenfalls. Hatte er sie bereits gefunden? Drehte er im Gedanken an Mette bereits durch? In welchem Film durfte er sich wähnen?

Hinter einem größeren Schuppen war sie verschwunden.

Als er wieder im Hotel ankam, berichtete er Borghild über seinen Besuch bei Einar. Auch erzählte er nach anfänglichem Zögern von der Gestalt, die ihm wieder begegnet war. „Mittlerweile habe ich Sorge, dass ich anfange zu halluzinieren.“

„Keine Sorge! Die Frau scheint Ihnen derart wichtig zu sein, dass für Sie Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Außerdem sind wir es hier in Selje gewohnt, dass erstaunliche Dinge passieren.“

„Sunniva?“

„So ist es. Manchmal erleben wir Menschen Dinge, die wir mit unserem Verstand nicht erklären können.“

„Ich baue darauf, dass Einar noch etwas herausbekommt. Er will mich anrufen.“

„Wenn es einer schafft, dann Einar. Er ist hellwach und richtig gut vernetzt.“

Asbjørn ging früh zu Bett. Mette und Sunniva bewegten sich durch seine Träume.

Der Schule von Selje stattete er am anderen Morgen einen Besuch ab. Er schilderte der Rektorin sein Anliegen.

„Sagt Ihnen der Name Mette Helgemo etwas? Vielleicht gab es eine Familie, die hierhin zugezogen war. Oder gab es eine Frau namens Mette Helgemo, die durch Heirat anders hieß und eventuell ein schulpflichtiges Kind hatte?“

„Es tut mir leid, aber in meiner Zeit als Leiterin dieser Schule sind mir die Namen nicht begegnet.“

Wieder nichts! Asbjørn verabschiedete sich und ging hinunter zum Strand, um es sich in der Sonne gemütlich zu machen und nachzudenken. Drüben auf der Insel Selja hatte eine irische Prinzessin Zuflucht und Schutz gesucht vor einem heidnischen Mann. Asbjørn suchte im Gegenteil nach der Frau, die ihm einmal wichtig war. Nein, die ihm noch immer viel bedeutete, und zwar in dem Maße, wie es ihm bisher nicht bewusst gewesen war.

Asbjørn war wahrlich kein religiöser Mensch; Umgang mit Heiligen war ihm gänzlich fremd. Aber konnte man eine Heilige anrufen und in seinem Anliegen um Hilfe bitten?

Er wunderte sich immer mehr, in welchen Gedankengebäuden er sich bereits verlaufen hatte. Sein Handy riss ihn aus seinen Gedankenspielen. Einar!

„Ich habe viel herumtelefoniert für Sie. Wenn Ihnen so viel an Mette Helgemo liegt, fahren Sie morgen zur Insel Vågsøya. Am Anleger in Raudeberg wartet Svend Lindahl auf Sie. Er ist ein Vetter von mir. Der wird Ihnen weiterhelfen.“

„Danke“, sagte Asbjørn.

Am nächsten Morgen bestieg Asbjørn ein Boot, mit dessen Betreiber er gestern noch die Überfahrt nach Raudeberg verabredet hatte. Er bezahlte den vereinbarten Preis und der Bootsführer startete den Motor. Asbjørn wusste nicht, worauf er sich hier eingelassen hatte. Zu Einar aber hatte er großes Vertrauen und er hatte am Telefon recht konkret geklungen.

Asbjørns Aufregung wuchs, als das Boot in Raudeberg am Kai festmachte. Vor einem Auto stand ein großgewachsener Mann, der mit beiden Armen Asbjørn zuwinkte.

„Hei, ich bin Svend. Einar hat mir gesagt, dass Sie eine Person suchen. Vielleicht kann ich Ihnen helfen, folgen Sie mir.“

Asbjørn stieg ins Auto und Svend fuhr los.

„Eine Frau also. Freundin?“

„Ehemalige Freundin aus fast vergessenen Zeiten“, antwortete Asbjørn.

Svend vermied es, weitere Fragen zu stellen und fuhr die Straße am Ulvesundet entlang, bis sie das Dorf Måloy erreichten. Kurz bevor die Rampe zur Måloybrua in den Blick kam, fuhr Svend nach rechts ab und hielt vor einer Kirche. „Wir sind da! Dies ist die Sør Vågsøy Kirke. Schön, nicht wahr?“

„Ja, aber was hat das mit meiner Suche nach Mette Helgemo zu tun?“

„Gleich!“, erwiderte Svend. „Bitte steigen Sie aus! Aber zuvor noch eins: Ich bewundere Ihren Mut, sich auf die Suche in die Vergangenheit zu begeben.“

„Warum gehört Mut dazu?“

„Weil man das Ergebnis seiner Suche nicht kennt. Es könnte einem zum Beispiel nicht gefallen.“

„Sie haben recht, so ist das Leben halt.“

„Wenn Sie die letzte Etappe auf Ihrer Suche zu gehen bereits sind, kommen Sie mit!“

Was redete dieser Mann? Eine Vorahnung bekam Asbjørn, als er etwas erblickte, das ihm einen Schauder versetzte: Neben der Sør Vågsøy Kirke lag ein Friedhof!

Mit einem Gang, der plötzlich weniger selbstbewusst und sicher wirkte, folgte er Svend. Sein Herz pochte.

Svend ging in Richtung der Reihe, deren Grabstätten offensichtlich neueren Datums waren.

Plötzlich blieb er stehen und zeigte auf ein Grab. „Ist es das, was Sie suchen?“

Der Granitstein, der die Grabstelle identifizierte, trug die Inschrift

Mette Helgemo

1969 – 2020

elsket og savnet

Darunter war ein Segelschiff symbolisiert. Asbjørn Solberg ging auf eine Bank zu und hielt sich fest. Er hatte sie gefunden, seine Sunniva! Entsetzt starrte er auf den Grabstein. Svend Lindahl sah, dass er mit den Tränen zu kämpfen hatte. Er hatte also richtig vermutet, als er den Gast aus Selje hierhin geführt hatte. Er machte sich auf den Wegen zwischen den Grabreihen zu schaffen, zupfte Unkraut, hob vereinzelten Müll auf. So ließ er Asbjørn die Zeit, von der er glaubte, dass er sie brauchte, um mit der Situation umgehen zu können.

Nach einiger Zeit ging er auf Asbjørn zu und setzte sich neben ihn auf die Bank. Die beiden Männer schwiegen sich zunächst an. Dann ergriff Svend das Wort.

„Ist es das, was Sie suchten? Entschuldigung: Ist es die Person, die Sie suchten. Ich bin der Küster dieser Kirche und als Einar mir von Mette Helgemo erzählte, fiel mir eine Beisetzung hier vom vergangenen Jahr ein. Mein Blick auf die Inschrift brachte Gewissheit.“

„Wissen Sie etwas über sie? Ich meine, woran sie gestorben ist.“

„Soweit ich weiß, war sie Umweltaktivistin und segelte leidenschaftlich gern. Bei einem schweren Herbststurm wurde ihr Boot auf einem Felsen vor Vågsøya zerschmettert.“

„Hat sie hier auf der Insel gewohnt?“

„Nein, im Sommer auf ihrem Boot, in der übrigen Zeit kam sie bei Freunden unter. Sie war wohl das, was man eine Aussteigerin nennen könnte. Was meinen Sie, was sie für ein Mensch war?“

„Nicht einfach zu sagen: Selbstbewusst, mit Visionen, mitunter auch geheimnisvoll und träumerisch.“

„Waren Sie ein Paar?“

„Irgendwie schon, aber andererseits war sie auch ein wenig distanziert. Und ich habe es versäumt, sie an mich zu binden!“

Asbjørn hatte die Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln abgestützt und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

„Ich bin leider zu spät gekommen.“

„Das finde ich nicht! Sie haben Sie gefunden, zwar nicht als Lebende, aber Ihre Suche haben Sie vollendet. Dadurch, dass Sie an ihrem Grab angekommen sind, können Sie abschließen. Die Erinnerung wird in Ihrem Herzen bleiben. Hat Mette nicht einen schönen Grabstein? Elsket og Savnet, und dann das Segelboot?“

„Ja, sehr schön“, sagte Asbjørn. Geliebt und vermisst. „Das passt!“

„Es tut mir leid, aber wenn ich Sie zum Hafen in Rauderberg zurückbringen soll, müssten wir so langsam aufbrechen.“

„Verstehe. Was schulde ich Ihnen für Ihre Mühe?“

„Ich bitte Sie! Gar nichts. War ja auch ein Freundschaftsdienst für meinen Vetter Einar.“

„Dann geben Sie bitte dies dem Friedhofsgärtner! Für ein paar Blumen. Für Mette.“

Asbjørn raffte sich endlich auf, sich von der Bank zu erheben und mit Svend den Friedhof zu verlassen. Sie setzten sich ins Auto und fuhren los. In Rauderberg lag noch das Boot, das Asbjørn nach Selje zurückbringen würde. Er verabschiedete sich herzlich von dem Küster der Sør Vågsøy Kirke.

In Selje angekommen, ging er sofort in sein Hotel und verschwand in seinem Zimmer.

Am Abend ging er zum Essen am Hafen und berichtete Borghild an der Rezeption, dass Einar bzw. Svend Lindahl seine Suche nach Mette Helgemo zum Erfolg gebracht hatten.

„Ich komme leider zu spät“, stellte er fest. „Aber es war wichtig, dass ich dort war.“

Noch am späten Abend konnten Passanten in Selje beobachten, dass ein Mann trotz Kälte auf der Bank ausharrte, von der er einen guten Blick auf die Statue der Sunniva hatte, die beharrlich und stolz auf das Meer und Selja schaute. In der Miene des Mannes war so etwas wie Zufriedenheit und eine dankbare Freude abzulesen.

Er harrte zu später Stunde auch noch aus, als der Regen einsetzte. Da er praktisch nur auf die Statue fixiert war, sprach ein junges Pärchen ihn an, und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ohne die Blickrichtung auch nur in einer Nuance zu verändern, murmelte der Mann mit sanfter Stimme immer wieder den gleichen Namen: „Sunniva.“

Sunnivas Spuren

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