Читать книгу Frau Kaiser und der Dämon - Ulla Garden - Страница 5
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„Guten Tag, Herr von Moeltenhoff. Es ist gut, dass Sie sich bei mir gemeldet haben“, wurde Johannes von der Psychologin Martina Reimers begrüßt. Sie wies auf einen Stuhl, der ihr gegenüberstand „Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Nachdem Johannes sich gesetzt hatte, fuhr sie fort: „Ich hatte gestern noch Gelegenheit, mit Ihrer Frau zu sprechen, bevor sie bewusstlos wurde. Wie geht es ihr?“
„Sie liegt noch immer im Koma“, erwiderte Johannes kurz angebunden.
„Das tut mir leid, aber sie ist hier in den besten Händen“, versicherte sie ihm. Er nickte nur kurz.
„Ja also“, begann sie das Gespräch. „Wie gesagt, ich habe mit Ihrer Frau gesprochen und die kann nicht richtig verstehen, was da passiert ist. Bis jetzt scheinen Sie doch eine sehr harmonische Beziehung gehabt zu haben. Wie sehen Sie das denn?“
Johannes druckste rum und wusste nicht, wo er beginnen sollte. „Also, ähm, ja, ich liebe meine Frau über alles und wir haben in jeder Hinsicht eine wunderbare Beziehung. Ich weiß selber nicht, wie das passieren konnte“, begann er zögerlich. „Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit, ich war wütend, weil sie einfach keine Rücksicht auf ihre Schwangerschaft nimmt. Ich bin ins Gästezimmer gegangen, um mich dort hinzulegen, bis sie zur Vernunft gekommen ist. Was dann passiert ist, weiß ich selber nicht so genau. Als ich wieder zur Besinnung kam, lag ich auf ihr, ähm, na ja, also, ich war in ihr und sie hat furchtbar geschrien und mich so entsetzt angeschaut.“
„Und dann?“ fragte die Ärztin behutsam nach.
„Dann hab ich mich sofort zurückgezogen. Danach habe ich meine Sportsachen angezogen und bin Laufen gegangen, um den Kopf freizukriegen. Leider habe ich Lenes Anruf nicht angenommen, als sie versucht hat, mich zu erreichen und dann hab ich das Handy einfach ausgemacht“, gab er kleinlaut zu.
„Sie können sich also nicht an die Vergewaltigung erinnern?“ fragte die Ärztin nochmal nach.
„Nein, absolut nicht, nie im Leben würde ich ihr etwas antun“, erwiderte er kopfschüttelnd.
„Hatten Sie schon öfters solche Aussetzer?“
„Früher, als Junge, ja. Da hab ich wohl andere Kinder fürchterlich vermöbelt, weil sie meinen Bruder gemobbt haben“, erzählte er. „Das ist, wie wenn jemand einen Schalter umlegt. Ich versteh das doch auch nicht.“ Johannes zog die Schultern hoch.
„Waren Sie deshalb schon mal in Behandlung?“
„Ja, meine Mutter hat mich damals, als sich die Beschwerden über mich häuften, zu einem Psychologen gebracht und ich habe eine Zeitlang Tabletten bekommen. Ich habe aber keine Ahnung, was das war.“
„Wurde es dann besser?“
„Hm, na ja, eine gewisse Zeit schon, bis das mit den Mädchen anfing.“
„Mit den Mädchen?“
„Na ja. Also, es ist so, meine Familie hat einen großen Gutshof und die Mädchen aus dem Dorf waren ständig hinter mir und meinem Bruder her. Max hat das gefallen und er hat alle genommen, die das wollten.“ Er stockte, denn er hatte noch nie darüber gesprochen, welche Probleme er als Jugendlicher und auch noch als Student gehabt hatte.
„Und Sie?“
„Hm, na ja, ich mochte das nicht. Ich fand diese Mädchen nur doof und lästig.“ Er holte tief Luft. „Ich mag Frauen, aber keine, die sich mir aufdrängen, verstehen Sie, was ich meine?“, ergänzte er.
Die Ärztin nickte und forderte ihn auf weiterzusprechen.
„Ja, also, ähm, es ist so, nein, es war so, dass ich mich lange nicht getraut habe, mit einem Mädchen zu schlafen. Und wenn eine dann einfach nicht lockergelassen hat, dann wurde ich wütend und hab sie wohl ziemlich grob genommen.“ Er verstummte, weil er nicht wusste, wie er dieser Frau sein Problem beschreiben sollte.
„Gut, ich denke, wir beenden unser Gespräch hier“, erlöste ihn die Ärztin. „Ich bin ja eigentlich nur für die Patienten in dieser Klinik zuständig und Sie scheinen ein tieferliegendes Problem zu haben. Ich würde Sie gerne an einen Kollegen überweisen, der Ihnen besser helfen kann als ich. Wenn es für Sie in Ordnung ist, informiere ich den Kollegen und vereinbare einen Termin für Sie“, schlug sie vor.
Johannes nickte, bedankte und verabschiedete sich.
Die Ärztin sah ihm besorgt nach.
Nachdenklich ging Johannes zur Intensivstation zurück. Was ist mit mir nicht in Ordnung?, überlegte er. Ich bin doch mittlerweile erwachsen. Ist es möglich, dass der Dämon, von dem ich mich früher so oft bedroht gefühlt habe, wieder zurückgekommen ist?
Immer noch in Gedanken versunken saß er am Bett und betrachtete seine Frau. „Liebste Lene, du bist das Beste, was mir je passieren konnte. Wie soll das mit uns weitergehen? Liebst du mich noch, nach dem, was ich dir angetan habe?“, sprach er leise mit ihr. Er begann wieder, ihren Bauch zu streicheln und spürte sofort die Bewegungen der Kinder. „Ich liebe euch und hoffe so sehr, dass wir eine glückliche Familie werden“, fuhr er fort und hoffte, dass seine Stimme Leni irgendwie erreichte.
Er blieb wieder die ganze Nacht bei ihr am Bett sitzen, bis seine Mutter morgens kam und ihn nach Hause schickte. Als er am späten Nachmittag wieder in die Klinik zurückkehrte, sagte ihm der Arzt, dass sie nochmals ein CT gemacht hätten und keine Blutungen mehr festgestellt werden konnten. Der Druck im Gehirn habe nachgelassen, so dass sie am nächsten Morgen anfangen wollten, die Sedierung runterzufahren, um Leni langsam aufwachen zu lassen. Johannes nickte erleichtert. Der Arzt machten ihn darauf aufmerksam, dass wahrscheinlich mit neurologischen Störungen, wie etwa Sprach- oder Gleichgewichtsstörungen, zu rechnen sei. Man werde aber sofort mit Rehabilitations-Maßnahmen beginnen, um die Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten.
Nachdem der Arzt aus dem Raum gegangen war, überlegte Johannes, was für Beeinträchtigungen er wohl gemeint hatte und wie sich das auf das Leben von Leni auswirken würde. Was heißt „so gering wie möglich“? Wird sie behindert sein?, fragte er sich. Wie sollte sein Leben weitergehen mit zwei Babys und einer behinderten Frau? Er seufzte verzweifelt und schüttelte den Kopf. „Oh Lene, Schätz-chen, bitte, bitte werde wieder gesund. Nicht für mich, aber für die beiden Kiddies. Die brauchen doch ihre Mutter.“
Er ging nochmals nach draußen, um seine Mutter anzurufen. Er berichtete ihr, dass Leni am nächsten Morgen aufgeweckt werden sollte und dass er deshalb bei ihr blieb. Er würde sich melden, wenn es etwas Neues gäbe. Er wollte keinesfalls, dass Leni beim Aufwachen in das Gesicht seiner Mutter schaute und meinte, so lange würde er schon durchhalten.
Aber es kam wieder mal alles ganz anders als gedacht. Über den ganzen Tag verteilt wurde die Sedierung langsam runtergefahren, aber Leni zeigte keinerlei Reaktion. Man machte ein EEG und stellte fest, dass Gehirnströme vorhanden waren. Dann entfernte man vorsichtig den Beatmungsschlauch und alle waren erleichtert darüber, dass Leni selbständig atmete. Aber sie reagierte auf nichts, sie lag im Wachkoma. Die Ärzte versuchten, Johannes zu beruhigen und meinten, dass das nach einem künstlichen Koma nichts Ungewöhnliches sei. Auf die Frage, wie lange der Zustand anhalten würde, konnte ihm aber niemand eine Antwort geben, man sprach von Stunden, Tagen oder länger. Als sich Lenis Zustand am nächsten Morgen nicht gebessert hatte, legte man ihr eine Magensonde, um sie künstlich zu ernähren. Im Laufe des Tages öffnete sie die Augen, blickte aber nur ins Leere, sie reagierte weder auf Ansprache noch auf Personen. Sie wurde von der Intensivstation auf ein normales Zimmer verlegt und man riet Johannes, so viel wie möglich mit ihr zu reden oder ihr Musik vorzuspielen. Außerdem gestatte man ihm, sich auf das zweite Bett, das im Zimmer stand, zu legen, falls er müde sei. Er rief Max an und bat ihn, etwas Musik für Leni zusammenzustellen, was dieser liebend gern tat. Ein paar Stunden später kam er und war schockiert, als er Leni so teilnahmslos in ihrem Bett liegen sah. Er legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter und sagte leise: „Arme Leni, das hat sie wirklich nicht verdient.“
„Wird sie wieder gesund?“, wollte er dann wissen.
Johannes zuckte die Schultern: „Darauf kann mir keiner eine Antwort geben. Aber wie ich zwischen den Zeilen rausgehört habe, wird sie wohl, selbst wenn sie wieder aufwacht, behindert sein.“
„Verdammte Scheiße“, entfuhr es Max. „Die süße Leni behindert, das möchte ich mir lieber gar nicht vorstellen“, sinnierte er weiter. „Und wenn es wirklich so kommt, dann zieht ihr am besten zu uns auf den Hof“, schlug er vor.
Johannes nickte und legte den Zeigefinger auf den Mund. „Pst, wir wissen nicht, was sie mitkriegt“, forderte er seinen Bruder auf, leise zu sprechen.
„Wie ich gehört habe, hast du deinen Job geschmissen?“, wollte Max, jetzt leiser sprechend, wissen.
Johannes nickte. „Diesen Job anzunehmen war ein echter Griff ins Klo. Die wollten einen Rechtsberater, halten sich aber an nichts, was ich ihnen rate. In dieser Firma stehe ich ständig mit einem Bein im Bau. Das kann ich doch meiner jungen Familie nicht antun.“
„Und jetzt? Wie soll es weitergehen? Hast du schon was in Aussicht?“
„Nein, bis jetzt nicht. Ich bin noch bis Ende Oktober bezahlt. Ich versuche, wieder in einer Kanzlei unterzukommen. Aber im Moment ist Lene wichtiger.“
„Ja schon, aber überleg nicht zu lange. Denn so wie es aussieht, wird sie vielleicht nie mehr arbeiten können. Und eure schöne, große Wohnung ist sicher nicht gerade billig“, gab Max zu bedenken.
„Ja, das stimmt, die Miete ist ziemlich gesalzen“, gab Johannes zu. „Ich habe zwar für das nächste Semester einen Vertrag als Gastdozent an der Uni, aber leider nur eine Vorlesung pro Monat. Und in den letzten Wochen habe ich auch einige Artikel für Fachzeitschriften verfasst, das bringt auch ein paar Euro ein. Aber ohne vernünftigen Job, und vor allem ohne den Verdienst von Lene, würde das Geld natürlich hinten und vorne nicht reichen“, bestätigte er. „Es sind ja noch zwei Monate, da wird sich schon was finden“, versuchte er, optimistisch zu klingen.
In den nächsten Tagen änderte sich am Zustand von Leni nichts. Sie wurde zwar intensiv betreut und von einer Physiotherapeutin und einem Ergotherapeuten behandelt, aber ohne erkennbaren Erfolg. Was Johannes besonders mitnahm, war die Tatsache, dass sie gewindelt werden musste wie ein Baby.
Er hatte von zu Hause das Öl mitgebracht, das Sarah Leni gegen das Auftreten von Schwangerschaftsstreifen empfohlen hatte. Liebevoll ölte er täglich, so wie er es in den vergangenen Monaten immer getan hatte, ihren Bauch, ihre Brüste und ihre Oberschenkel und, soweit es möglich war, ihren Po damit ein und hoffte, dass sie es spürte.
„Na, wie geht es unserem Dornröschen heute?“, fragte der junge Pfleger, der das Krankenzimmer betrat. Johannes zuckte die Schultern und murmelte: „Unverändert.“ Als der junge Mann anfangen wollte, Leni zu waschen und die Windeln zu wechseln, bat Johannes ihn, das zu unterlassen.
„Aber warum denn? Das ist doch mein Job“, meinte der Pfleger verblüfft.
„Weil ich meine Frau kenne und ich weiß, dass es ihr furchtbar unangenehm wäre, wenn Sie das machen. Sie ist nun mal sehr schamhaft. Haben Sie denn kein weibliches Personal?“, fragte er. „Selbst in diesem Zustand sollte man ihr doch ihre Intimsphäre bewahren. Holen Sie bitte eine Kollegin“, forderte er dann mit Bestimmtheit in der Stimme.
Der Pfleger ging schulterzuckend aus dem Zimmer und Johannes hatte das Gefühl, dass Leni ihm hinterhergeschaut hatte. Auch wenn der junge Pfleger nicht mehr zur Körperpflege von Leni eingesetzt wurde, sollte ihr der Name Dornröschen erhalten bleiben.
Einige Zeit später kam dann tatsächlich eine Pflegerin und versorgte Leni. Johannes machte sie auf seine Beobachtung aufmerksam und sie bat ihn, doch mal ein paar Schritte zur Tür zu machen, wobei sie feststellte, dass Leni tatsächlich versuchte, ihm mit den Augen zu folgen.
„Das ist gut, es scheint, dass sie in die nächste Phase gekommen ist. Ich werde gleich die Ärzte informieren“, meinte sie aufmunternd zu Johannes. Der schaute zwar noch etwas ungläubig, freute sich aber doch über diesen minimalen Fortschritt.
Als später die Physiotherapeutin kam, stellte sie Leni unter Mithilfe von Johannes auf die Füße.
„Halten Sie sie gut fest“, ermahnte die Therapeutin ihn.
„Hallo, Frau Kaiser“, flüsterte Johannes seiner Lene ins Ohr, „hör mal die Musik, du hast doch so ein gutes Rhythmusgefühl.“ „Komm, wir tanzen jetzt“, flüsterte er weiter und wiegte sie ganz sachte im Rhythmus der Musik.
„Ja, das ist sehr gut, machen Sie weiter“, ermunterte ihn die Therapeutin. „Ich glaube, sie versucht, die Arme zu heben“. Sie legte Lenis Arme um Johannes, der so gerührt war, dass ihm Tränen in die Augen traten.
Nach einigen Minuten legten sie Leni wieder ins Bett, der das aber gar nicht zu gefallen schien. Sie bewegte unkoordiniert ihre Arme und drehte den Kopf hin und her. Johannes beugte sich zu ihr. „Na, mein Schätz-chen, hat dir das gefallen?“, sagte er leise und lächelte sie an. Sie sah ihn groß an und er hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. „Das machen wir jetzt öfters“, versprach er ihr und streichelte sanft ihre Wange. Als die Therapeutin gegangen war, setzte er sich wieder an das Bett seiner Frau und hing seinen Gedanken nach. Da die Ärzte ihm gesagt hatten, dass er so viel wie möglich mit ihr reden sollte, sprach er, entgegen seiner Gewohnheit, seine Gedanken leise aus:
„Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben? Damals auf der Baustelle, als ich euch das Leben so schwer gemacht habe? Ich fand das so süß, wie du mich trotzig angeschaut hast mit deinen schönen grünen Augen und mir gesagt hast, dass ich als Kunde zwar der König, du aber die Kaiserin bist“, begann er seinen Monolog. „Du hast keinen Zweifel daran gelassen, dass ich von nichts eine Ahnung habe und du hattest verdammt Recht damit“, fuhr er mit einem kleinen Lächeln fort. „Die Visitenkarte, die du mir damals gegeben hast, habe ich immer noch.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: „Und ich Idiot habe nicht erkannt, dass das junge Mädchen, das in meine Nachbarwohnung eingezogen war, dieselbe Person ist. Du hast mir aber auch keine Gelegenheit gegeben, dir in die Augen zu schauen, dann hätte ich es sicher gemerkt. Diese strahlenden grünen Augen und die süßen Sommersprossen über den Wangen sind ganz bestimmt einmalig.“ Er schaute ihr ins Gesicht und streichelte sanft ihre Wange. „Du weißt ja, ich mag chic gekleidete Frauen“, fuhr er dann mit seinem Monolog fort. „Junge Mädchen und dazu noch im Schlabberlook, in dem ich dich auf dem Balkon oder im Treppenhaus öfters mal gehen habe, das ist nun wirklich nicht meine Kragenweite und deshalb habe ich dich auch gar nicht weiter beachtet. Und außerdem hatte ich den Eindruck, dass du was gegen mich hast und mir aus dem Weg gehst.“ Wieder machte er eine kurze Pause und beobachtete, ob sie irgendeine Reaktion zeigte. Sie sah ihn mit großen Augen an und er redete leise weiter: „Tja, und als deine Freundin uns dann zu deiner Geburtstagsparty eingeladen hatte, da musste Max mich schon mit Gewalt zu dir rüberziehen. Freiwillig wäre ich wirklich nicht gekommen. Aber meinem lieben Bruder hast du auf Anhieb gefallen und ich wollte nicht, dass er was Dummes anstellt, deshalb bin ich dann doch mitgegangen. Und du hast es dir nicht nehmen lassen, mich so richtig vorzuführen, du kleine Hexe, du“, fuhr er fort und streichelte ihre Hand. „So blamiert habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht wie an diesem Abend. Du hättest dich ja wirklich mal früher zu erkennen geben können“, flüsterte er vorwurfsvoll. „Für Max war das natürlich ein gefundenes Fressen. Zuerst mache ich der Architektin das Leben schwer und dann erkenne ich sie nicht wieder.“ Er lachte leise. „Ich glaube, das hab ich wohl verdient und zugegeben, deine Wohnung ist wirklich viel schöner geworden als meine. Obwohl du mich mit deiner Hartnäckigkeit wohl noch vor dem Schlimmsten bewahrt hast. Ich wollte es halt einfach nur zweckmäßig haben, ohne viel Schnickschnack. Und als ich erfahren habe, dass du noch gar nicht ganz fertig warst mit dem Studium, sondern dass deine Wohnung ein Teil deiner Masterarbeit war, da war ich ziemlich beeindruckt. Du hast echt was drauf, mein Schätz-chen“, lobte er seine Frau. „Nachdem ich nun wusste, wer du warst und mir auch dein Bruder noch so einiges über dich erzählt hatte, wollte ich es nicht zulassen, dass der aufreißerische Max dir zu nahe kommt. Ihr habt fast den ganzen Abend miteinander geflirtet und getanzt. Aber dass du keine Frau für einen One-Night-Stand bist, das hat sogar Max erkannt.“ Er machte eine kurze Pause, küsste sie sanft auf die Lippen und redete weiter: „Und dann hab ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und dich zum Tanzen aufgefordert. Du hast so was von distanziert und kühl zugesagt, dass mir angst und bange wurde und ich fast einen Rückzieher gemacht hätte“, wieder lachte er leise und streichelte sie. „Aber was ist dann passiert, meine liebe Frau Kaiser? Dein Blick sagte mehr als tausend Worte und ich war total überrumpelt von dem, was da in den nächsten Minuten mit uns passiert ist.“ Er schwieg für einen Moment. „Und trotzdem habe ich dich zurückgewiesen“, er schüttelte leicht den Kopf. „Was ich dir gesagt habe, stimmte schon, ich hatte kurz zuvor meine Familie durch einen Unfall verloren und um den Kleinen habe ich wirklich sehr getrauert. Deshalb haben mich wohl meine plötzlichen Gefühle so verunsichert. Aber warum ich es nicht geschafft habe, über meinen Schatten zu springen und mich stattdessen mit Jessica eingelassen habe, verstehe ich bis heute nicht.“ Er zuckte die Schultern. „Ich konnte es kaum ertragen, wie du mit Max geflirtet hast, wenn wir drei uns getroffen haben, aber trotzdem war ich irgendwie gehemmt. Vielleicht hatte ich damals schon Angst, dir weh zu tun? Lene, Schätz-chen, ich weiß echt nicht, was in mich gefahren ist“, er schüttelte betrübt den Kopf. „Ich hoffe wirklich sehr, dass der Therapeut mir helfen kann. So etwas darf nie wieder passieren. Ich möchte dich auf keinen Fall verlieren. Ich liebe dich so sehr.“ Ihm traten Tränen in die Augen und er war erleichtert, als wenige Minuten später seine Mutter kam, um ihn am Bett abzulösen. Er berichtete ihr von Lenis Fortschritten und dass sie beide „getanzt“ hätten und ging, nachdem er sich liebevoll von Leni verabschiedet hatte, zum Ausgang und ließ sich wie jeden Tag von Max nach Hause fahren. Auch dem erzählte er natürlich von Lenis Fortschritten.
In den letzten Tagen war Max nicht untätig gewesen. Da er sich wieder um seinen Job als Eventmanager kümmern musste und auch seine Mutter nicht ewig in Leipzig bleiben konnte, hatte er Freunde und Verwandte von Johannes und Leni angeschrieben oder angerufen, mit der Bitte, sich doch für ein paar Tage Zeit zu nehmen, um Johannes bei der Betreuung von Leni zu unterstützen und sich um die Wohnung und die beiden Katzen Lilli und Mäxle zu kümmern. Alle fanden sich sofort bereit dazu und anhand der Termine, die ihm genannt wurden, erstellte er einen Einsatzplan für die nächsten Wochen. An den wenigen Tagen, an denen niemand da sein konnte, würden sich die Nachbarn aus dem Erdgeschoß um die beiden Stubentiger kümmern und auch jeweils die Schlüssel übergeben.
In der Klinik war man zwar nicht sehr erfreut, dass so viele verschiedene Menschen zu Besuch kamen und Johannes wurde ermahnt, auf die Einhaltung der Hygieneregeln zu achten und vor allem darauf, dass die Besucher Leni möglichst nicht zu nahe kommen sollten. Denn eine Infektion wäre eine Katastrophe für sie gewesen.
Als Erstes kamen Lenis Mutter und Bruder für eine Woche und lösten Max und Susanne ab. Stéphanie Kaiser war entsetzt, als sie ihre Tochter in diesem Zustand sah. „Mon Dieu, ma puce“, weinte sie und, wie befürchtet, brachte sie ziemlich viel Unruhe in das Krankenzimmer. Dafür tat es Johannes aber gut, mit Tobias zu reden und ihm seine Zukunftsängste anzuvertrauen. Die beiden hatten sich von Anfang an gut verstanden und führten lange Gespräche miteinander.
Ganz allmählich verbesserte sich der Zustand von Leni und nachdem der Ergotherapeut mit ihr das Schlucken geübt hatte, wurde die Magensonde entfernt und sie konnte gefüttert werden.
Johannes war dankbar für jeden kleinen Fortschritt, den man sah, machte sich aber große Sorgen um die Zukunft und um die Kinder. Wie sollte er eine behinderte Frau und zwei Babys versorgen? Mit dem Vorschlag von Max, dass sie ins Münsterland auf den Gutshof ziehen sollten, machte er sich immer mehr vertraut, denn dort könnten ihn seine Mutter und seine Schwester unterstützen. Aber vor allem fragte er sich, ob die Kinder das alles problemlos überstanden hatten. Er hatte große Angst davor, dass die Kinder auch behindert sein könnten. Auf seine Fragen hin konnte keiner der Ärzte ihm sagen, was auf ihn zukommen würde. Vorsorglich wurde nochmals eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt und so wie es aussah, waren die Ungeborenen gesund. Es wurde überlegt, Leni nach Hause zu entlassen, aber wegen der fortgeschrittenen Schwangerschaft sah man vorerst davon ab, denn für eine Geburt wäre es doch noch einige Wochen zu früh gewesen. Solange sie in der Klinik weilte, konnte man ihr sofort einen Wehenhemmer geben, falls verfrühte Wehen einsetzen sollten.
Die Wochen vergingen und allmählich erkannte Leni ihre Besucher, Pfleger und Ärzte. Sie wurde jedes Mal sehr unruhig, wenn Johannes für ein paar Stunden nicht an ihrem Bett war. Er hatte mittlerweile eine Therapie begonnen und um den Kopf etwas freizubekommen, ging er hin und wieder zum Laufen oder ins Fitnessstudio. Zudem musste er sich auch endlich um einen neuen Job kümmern und noch dazu machte sich bei ihm das Schlafmanko bemerkbar, so dass er einfach nicht mehr Tag und Nacht bei ihr sein konnte. Dank des ausgeklügelten Plans von Max war fast immer jemand bei Leni, so dass sie selten alleine war. Die jeweiligen Besucher redeten viel mit ihr oder lasen ihr vor. Sie selber war aber immer noch nicht in der Lage, richtig zu sprechen, obwohl die Logopädin bereits angefangen hatte, mit ihr zu üben.