Читать книгу Mord im Zeppelin - Natalie Masche, Ulli Schwan - Страница 8

Sonntag, 22. April 1923, gegen Mittag, San Francisco, Amerika

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Miro genoss entspannt die für April recht warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht, während er am Wagen auf seine Frau wartete.

Sie hatten einen kurzen Stopp an einem Zeitungsstand in der Nähe des Hotels eingelegt, um sich für die Reise mit Lektüre zu versorgen: er mit aktuellen Zeitungen, Becky mit ihren heißgeliebten Detektivgeschichten. Er hoffte, sie fand genug davon für die fünf Tage, die sie auf dem Zeppelin unterwegs sein würden. Nachdem ihr Fahrer netterweise und absolut verkehrswidrig direkt in der Straße neben dem Stand angehalten hatte, wartete er nun geduldig auf der anderen Seite des Wagens und drehte sich eine Zigarette.

Der Zeitungsstand sah aus wie ein buntes Papierungetüm, das gerade eine Straßenecke vertilgt hatte. Von der Häuserfront war nicht mehr viel zu sehen, stattdessen ragten Regale daran entlang bis auf den Gehweg hinaus. Sie waren vollgestopft mit aktuellen Tageszeitungen, farbenfrohen Magazinen mit Mode für die Damen und eher konservativ wirkenden Illustrierten für den sportlichen Gentleman. Ganz hinten, neben der Kasse fanden sich dann auch die nicht minder bunten und beliebten Blättchen mit Abenteuer- und Detektivgeschichten. Auf dem schmalen Stückchen Weg, dass zur Straße hin noch blieb, stand eine Gruppe von Männern vor den Regalen, die offensichtlich ihre Schicht beendet hatten und heftig diskutierten.

Ein beleibter Arbeiter, der sich immerfort Stirn und Hals mit einem quittengelben Taschentuch wischte, sagte gerade leidenschaftlich: »Ich sach dir, des wird immer schlimmer hier in der Stadt. Des ist der Alkohol. Hab immer schon gewusst, dass des nur des Schlimmste innen Leuten rausbringen tut ...«

»Nee, nicht der Schnaps, dat der fehlt is dat Problem ...«, hielt ein dunkelhäutiger Schlacks klug entgegen. »Nur deswegen kriegen so 'ne Gangster so viel Kohle dafür.«

»Aber et jeht trotzdem nich', dat se allet un' jeden umbringen können, ohne dat da jemand wat tut ...«

Der Besitzer der Schlagzeilen-Zentrale, schien der dritte Mann im Debattierclub zu sein: Er hatte noch einen Stapel des aktuellen Chronicle auf dem Arm.

»Ich sag Euch, das war irgendeine von diesen Banden und die haben sich einen Dreck darum geschert, ob in dem Laden wer draufgeht, der nur in Ruhe sein Feierabendbier trinken wollte.« Der Besitzer des Standes sah seine Kunden herausfordernd an.

»Klar waren das 'n paar Große, da brauchste kein Hellseher nicht sein«, meinte der Schlacks.

Der Korpulente wedelte sein Tuch trocken. »Wo kann man’nen noch den Feierabend in Ruhe anfangen, wenn selbst die Kneipen lebensgefährlich sind? Im Park kassieren einen die Bullen. Und zu Hause hockt die Alte.«

Becky ließ sich von dem Gespräch nicht weiter stören, sie blätterte am Regal mit den Pulp-Magazinen in den angebotenen Heften. Sein Geschäftssinn gewann offensichtlich die Oberhand, denn der Besitzer riss sich von der Diskussion los und fragte Miro: »Kann ich Ihnen helfen? Sie suchen bestimmt die aktuellen Nachrichten. Ich hab den Chronicle hier, druckfrisch, Mister, und die New York Times oder den Daily New Yorker. Oder lieber die London Times?«

»Einmal den Chronicle bitte, die London Times und haben Sie auch die Berliner Woche?«

»Aber sicher doch.«

Während Miro sich um die aktuellen Neuigkeiten kümmerte, hatte Becky sich ihre bevorzugten Detektivmagazine auf den Arm geladen.

»Hier, Miro, die müssen wir auch noch mitnehmen. Die neuen Ausgaben von Black Mask und den Detective Stories. Hoffentlich ist wieder was von Peter Collinson dabei!« Sie legte ihre Ausbeute schwungvoll auf den Stapel an Zeitungen, den Miro bereits trug.

Der Zeitungsverkäufer warf Becky einen überraschten Blick zu. »Sie lesen das, Misses? Aber das ist doch nichts für eine Dame.«

Becky lachte nur: »Ach was, ein wenig aufregende Lektüre schadet auch Damen nicht.«

»Na wennse meinen.« Der Mann schien nicht überzeugt.

Miro bezahlte, gekonnt den Packen Druckerzeugnisse balancierend, und ging dann mit Becky zurück zum Wagen, während sich der Zeitungsmann wieder zu seiner Diskussion begab. Es dauerte allerdings eine Weile, bis die beiden eine Lücke zwischen den fahrenden Automobilen fanden. Seit Ford das Land mit billigen Autos versorgte, waren Kutschen und Karren von den Straßen fast verschwunden, anders als in Berlin, wo sie immer noch einen guten Teil des Straßenverkehrs ausmachten.

»Jetzt geht es zum Flugplatz die Herrschaften, ja?!« Ihr Fahrer sah in den Rückspiegel und nickte ihnen dabei höflich zu.

»Zuerst müssen wir noch einen kleinen Umweg machen, um eine Freundin abzuholen.« Becky öffnete ihre Handtasche und begann darin zu suchen. »Irgendwo hier müsste der Zettel ... ah ja, da habe ich ihn ja. Wir müssen in die Lombard Street 7.«

»Lombard Street? North Beach?« Der Fahrer sah nicht besonders glücklich aus. »Ich weiß nich' ob das so 'ne gute Idee ist, mit dem Wagen hier nach North Beach reinzufahren. Is’n Lincoln L-Series, neuestes Modell.«

Miro war sofort beeindruckt. »Ein L-Series? Wie fährt er sich? Was haben die Fords mit ihm angestellt, nachdem der alte Lincoln verkaufen musste?«

Der Fahrer grinste breit. Er erkannte eine verwandte Seele, wenn sie sich so präsentierte. »Haben ihm neun PS mehr verpasst und hydraulische Stoßdämpfer, auch den Radstand verlängert. Der Boss, also Mister Ronson, kennt Mister Ford persönlich und hat eines der ersten neuen Modelle bekommen.« Er war sichtlich stolz auf sein Arbeitswerkzeug und die Begeisterung, die es bei seinem Fahrgast erzeugte.

»Dann werden wir die Fahrt besonders genießen, Mister ... oh, wir kennen Ihren Namen ja noch gar nicht. Wie unhöflich von uns.« Becky rutschte auf dem Sitz nach vorne und streckte ihre Hand aus. »Rebeka Berlioz. Und das ist mein Mann, Miroslav Berlioz.«

Etwas perplex ergriff der Fahrer ihre Hand. So etwas kam wohl nicht alle Tage vor. »Tom. Tom Hopper. Zur Ihren Diensten.« Bei diesen Worten tippte er sich kurz an die Chauffeursmütze, die zu seinem Dienstanzug gehörte.

»Freut mich sehr, Mister Hopper.« Auch Miro schüttelte ihm freundlich die Hand.

»Warum ist North Beach denn ein Problem? Kommen wir dort nicht hin? Gibt es Probleme mit den Straßen?«

»Nö.« Tom schüttelte den Kopf. »Das is' es nicht. Aber da lebt 'ne Menge zwielichtiges Gesindel. In ein paar Straßen traut sich nich' mal die Polizei mehr rein. Alkoholschmuggel, wissen sie. Das is' einfach keine gute Gegend für Leute wie sie und so’n Automobil. Aber wenn Sie hinmüssen, kriegen wir das schon hin, denke ich.«

»Wunderbar. Wir halten auch nur ganz kurz an, um eine Bekannte mitzunehmen, dann können wir sofort weiter«, erklärte Becky. Sie lehnte sich in die weichen lederbezogenen Sitze des Wagens zurück und seufzte behaglich.

»Es wird leider ein bisschen was dauern, bis wir in der Lombard Street sind«, erklärte Tom. »Wir müssen 'nen kleinen Umweg fahren, weil sie auf dem Russian Hill bauen. Wollen das steile Stück Straße da irgendwie ungefährlicher machen. Totaler Quatsch, wenn Sie mich fragen. Hier wissen doch alle, wie man das Stück zu nehmen hat. Aber sie haben ja jetzt 'ne Menge zu lesen für den Weg. Da vergeht die Zeit in nullkommanix.«

Miro breitete ihre Beute auf dem Rücksitz aus. »Dann schauen wir mal, was in der Welt so passiert ist. Womit möchtest du beginnen, ma chérie?«

»Mit dem Chronicle bitte. Dich interessieren die internationalen Blätter mehr, fang du doch damit an.« Becky griff sich den Chronicle und vertiefte sich in die neuesten Nachrichten aus San Francisco. Miro tat es ihr mit der Times gleich, während sie hügelauf in Richtung North Beach fuhren.

»Oh, ich glaube ich weiß, worüber die Männer am Zeitungsstand vorhin gesprochen haben.« Beckys Stimme durchbrach Miros Konzentration auf den Artikel, den er gerade gelesen hatte. Es ging um die neuen Sabotageanschläge im Ruhrgebiet. Er konnte den Druck verstehen, unter dem Arbeiter und Firmen dort standen, aber er glaubte nicht, dass Sabotage die Situation irgendwie verbessern würde. Es würde die Franzosen nur davon überzeugen, den Druck zu erhöhen. Miro seufzte.

»Miro, du hörst mir wieder einmal nicht zu.« Die Stimme seiner Frau klang allerdings eher amüsiert als empört, während sie das sagte.

Er sah sie an und versuchte, ein zerknirschtes Gesicht zu machen. »Entschuldige, Politik eben, die lenkt mich sogar von dir ein wenig ab. Was hattest du gesagt?«

»Hier, der kleine Artikel. In einem Lokal gab es ein Blutbad. Davon haben die Männer geredet.« Becky zeigte auf die Seite: Ein unscharfes Bild zeigte einen Raum mit zerstörter Einrichtung und einigen Gestalten am Boden, ein weiteres eine junge Frau, anscheinend die einzige Überlebende des Massakers. »Angeblich zwischen zwei Banden von Alkoholschmugglern. Aber man scheint nicht so recht zu wissen, wer tatsächlich dafür verantwortlich ist. Es gehen sogar Gerüchte um, dass es dieser Mafioso Belagio, war, der momentan vor Gericht steht. Anscheinend gibt es nie genug Beweise, um ihn wirklich zu verurteilen.« Sie schüttelte empört den Kopf. »Diese unsinnige Prohibition kostet Menschen das Leben! Wie kann man so etwas wollen?«

»Ich habe keine Ahnung. Immerhin sind die Engländer vernünftig genug, dagegen zu stimmen.« Er zeigte auf die Times.

»Und die Deutschen kommen gar nicht erst auf die Idee«, ergänzte Becky mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck.

»Dafür kommen sie auf andere Ideen, die Menschenleben kosten.« Miro runzelte die Stirn. »Diese Anschläge im Ruhrgebiet machen alles nur schlimmer. Dabei sind acht Menschen ums Leben gekommen. Ich weiß, dass der Versailler Vertrag verheerend für die deutsche Industrie ist und damit auch für die Arbeiter ... aber wenn das so weitergeht, schlittern die Deutschen direkt in den nächsten Krieg. Das sollte wirklich niemand wollen.« Düster sah er aus dem Fenster auf die Häuser, die neben ihnen vorbeizogen.

Becky legte ihre Hand auf die von Miro und drückte sie leicht. »Dazu wird es nicht kommen. Sie wollen doch nur ein ganz normales Leben führen und genug Geld für ihre Familien verdienen können. Frankreich und England werden das sehen und einlenken, ich bin mir sicher. Wenn die deutsche Wirtschaft nicht wieder auf die Beine kommt, dann haben auch sie nichts davon.«

Er sah seine Frau an. »Du glaubst wirklich an die Vernunft der Menschen, nicht wahr?«

»Ich hoffe zumindest immer noch, dass sie sich daran erinnern, überhaupt welche zu besitzen.« Becky lächelte ihn an und fuhr fort: »Manchmal funktioniert es sogar. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand bereit ist nochmal einen Krieg zu riskieren. Nicht nach dem, was wir alle im Letzten verloren haben.«

»Du hast Recht.« Er hoffte es von ganzem Herzen. Nur glauben konnte er es nicht.


Ungefähr eine Stunde nachdem sie Annett aufgelesen hatten, bog der Lincoln schließlich von der Straße ab in Richtung Flugfeld. Die einzigen Gebäude dort waren zwei riesige Hallen, so groß wie mehrere Wohnblöcke in San Francisco. Sie standen auf einem Acker von der Größe einiger Fußballfelder. Nur hier und da wehten einzelne Wetterfahnen im Wind und auf dem Dach eines nahe stehenden Schuppens rotierten verschiedene seltsam aussehende Geräte.

Obwohl nur die Hallen zu sehen waren, war es das betriebsamste Feld, dass Becky je zu Gesicht bekommen hatte. Um sie herum, neben dem Fahrweg, liefen Menschen auf die Gebäude zu und vor ihnen fuhren bereits einige Automobile.

»Hier ist ganz schön was los«, stellte Becky begeistert fest und drehte sich erst nach rechts, dann nach links, um möglichst viel von dem Treiben mitzubekommen.

Zu einem kleinen Gebäude, das an die größte Halle angrenzte, führte eine abgesperrte Auffahrt, auf die der Fahrer ihr Automobil lenkte. An den Absperrungen stand Wachpersonal, denn ansonsten wären sie vermutlich keinen Meter weit gekommen. Dutzende, sogar Hunderte Schaulustige, hatten sich zum Abflug des Zeppelins eingefunden, obwohl der genaugenommen erst am frühen Morgen gegen fünf Uhr stattfinden würde. Sie alle jubelten den Neuankömmlingen zu und winkten, hielten Transparente hoch oder schwangen Bücher durch die Luft. Unglaublich, dachte Becky, was für eine Partystimmung.

Annett fragte überrascht: »Wieso sind denn so viele Menschen hier?«

»Ich schätze, sie sind wegen der Cabes hier, diesem Schriftsteller-Paar, das sich als Geisterjäger betätigt.« Miro sah aus dem Fenster und betrachtete die Menge interessiert.

»Sie meinen Lily und Colin Cabe?«, fragte Annett. »Die reisen mit uns?«

»Laut Gästeliste, ja«, murmelte Miro nicht sonderlich begeistert von dieser Tatsache.

Becky sah ihren Mann von der Seite an. Sie wusste, dass er die Cabes für absolute Scharlatane und Geldschneider hielt. Aber sie hatte nicht gewusst, dass die Cabes auf dieser Reise dabei sein würden.

»Du wusstest, dass sie an Bord sein würden?«, fragte sie nun Miro.

»Die Gästeliste stand in der Zeitung, vermutlich ist es deswegen hier so voll. Wir haben übrigens wohl auch noch ein Medium an dabei.« Miro schüttelte den Kopf. »Im Artikel haben Sie den Flug schon das ›Geisterschiff‹ genannt!«

»Tatsächlich?«, fragte Annett aufgeregt. »Oh, ich bin ja so gespannt, ob wir eine Séance haben werden. Finden Sie das nicht auch wunderbar, Becky?«

Sie murmelte etwas Unverfängliches und lächelte die junge Sängerin an. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Tatsache, dass sowohl die Cabes als auch ein Medium an Bord waren, wunderbar fand. Irgendwie hatte sie das Gefühl, in eine Situation hineinmanövriert worden zu sein, die weder sie noch Miro mochten: Presserummel. Der war garantiert bei dieser Gästeliste, denn die Cabes liebten es, in der Öffentlichkeit zu stehen. Und in Kombination mit einem Medium würde sich die Presse darauf stürzen.

Miro stand dieser Szene skeptisch gegenüber, und machte daraus keinen Hehl. Er lobte seinen amerikanischen Kollegen Harry Houdini und den Engländer Harry Price für ihre Verdienste – sie hatten es sich immerhin zur Aufgabe gemacht, die Betrüger in der Spiritismus-Szene zu entlarven. Und wenn Miro selbst auch noch keine Séance gesprengt hatte, so war er der Vorstellung alles andere als abgeneigt. Vielleicht hatte Russel Barker, der Besitzer der Luftschifflinie, genau so ein Duell für diese Fahrt im Sinn, überlegte Becky verärgert. Sein Angebot war, wie es aussah wohl doch nicht so uneigennützig gewesen, wie sie gedacht hatte. Für den Moment schien es allerdings, als könnten sie nur gute Miene zum Spiel machen, daher wandte sie sich wieder dem Gespräch zu.

»Sie haben was von ihnen gelesen, Annett?«, fragte Miro gerade.

Becky selbst hatte einen kurzen Blick in das letzte Buch der Cabes geworfen und sich – wenn sie ehrlich war – tatsächlich gut amüsiert. Ob das, was die Cabes schrieben, wirklich so geschehen war? Sie ging davon aus, dass sie zumindest ein wenig übertrieben, das legte schon der Stil der Bücher nahe. Doch wer weiß schon, ob nicht etwas dran war, an den Geschichten, dachte sie. Sie fühlte sich ein wenig illoyal bei dem Gedanken, aber auch Miro sagte ja immer, dass es vermutlich mehr gab zwischen Himmel und Erde. Und die Idee, Geistern mit Wissenschaft zu begegnen, fanden sie beide eigentlich sehr spannend.

»… mich stört dabei einfach, dass die Cabes aus dem Tod ein Geschäft machen und es unter dem Deckmantel des Mitgefühls tun«, erklärte Miro gerade Annett. »Zu mir kommen die Leute auch wegen der Illusion – aber ich verkaufe ihnen auch nicht mehr als das.«

In Wirklichkeit, das wusste Becky, regte sich Miro nicht über die Bücher auf – ihn ärgerte schlicht die Unprofessionalität der Cabes. Es war das Unverständnis eines jeden Künstlers, der sich ganz und gar seiner Profession verschrieb. Und der dann feststellte, dass das Publikum jemanden anhimmelt, der das Handwerk nur dilettantisch beherrscht und benutzt, um schnell an Geld zu kommen.

»Für mich klang es so, als würden Sie den Menschen helfen«, antwortete Annett vorsichtig. »Und ich fand die Bücher wirklich spannend. ›Verlorene Seelen in Anford Manor‹ konnte ich kaum weglegen!«

Miro brummte darauf nur: »Schreiben können sie, das stimmt. Aber warum dann nicht Romane?«

Becky fand es an der Zeit, das Thema zu wechseln. Bevor sie jedoch ansetzen konnte, hielt der Wagen an.

»Mister Berlioz«, rief einer der Wartenden, ein Mann im mittleren Alter, eine Mütze auf dem Kopf. »Mister Berlioz, wie hat Ihnen Amerika gefallen? Kann ich ein Autogramm bekommen?« Anscheinend hatten einige der Zuschauer auch Miro erkannt.

Miro lächelte den Mann freundlich an und ging zu ihm. Was auch immer er behauptet, dachte Becky, er liebt das Rampenlicht und das Bad in der Menge.

»Ich bin für die Warmherzigkeit der Amerikanerinnen und Amerikaner und die Begeisterung mit der ich hier Willkommen geheißen wurde sehr dankbar und verspreche, bald zurückzukehren.« Miro hatte einen Stift gezückt und dem Fragesteller ein Autogramm auf eine Karte gegeben.

Doch der Mann sah nur verwirrt auf die Karte. »Da steht nichts«, klagte er.

»Nichts?« Miro nahm die Karte zurück, pustete darauf – und sein Schriftzug erschien auf der bisher leeren Oberfläche.

Der Mann strahlte, als er die verzauberte Karte entgegennahm. Ein anderer drängte sich vor, Block und Stift gezückt, diesmal offensichtlich ein Reporter. »Mister Berlioz, was glauben Sie, wird auf dem ›Geisterschiff‹ passieren?«

»Geisterschiff?« Miro zog fragend eine Augenbraue hoch. »Ich hoffe, Sie wissen da nicht mehr als ich. Vielleicht sollte ich lieber nicht an Bord gehen, nicht dass ich jede Nacht von den Geistern alter Motoren geweckt werde.« Das brachte ihm einen Lacher der Umstehenden ein.

»Na ja, auf diesem Flug sind nicht nur Sie, ein bekannter Zauberer, sondern auch das Medium Madame Silva und die Geisterforscher, die Cabes. Deswegen haben wir den Flug ja das ›Geisterschiff‹ getauft. Kommen Sie, verraten Sie es uns, warum sind sie alle an Bord? Geht es um ein gemeinsames Projekt?«

Wie ich es mir dachte, die Presse springt darauf an. Becky hakte sich bei Ihrem Mann ein und wollte bereits freundlich aber bestimmt auf ihren Abschied drängen – doch das war gar nicht notwendig. Miro antwortete über­aus höflich auf diese Frage – das Knirschen seiner Zähne war anscheinend nur für sie hörbar.

»Nun, meine Frau und ich hatten eigentlich nur vor, den Ozean zu überqueren. Alles andere wird sich zeigen.«

Nach einem guten Dutzend weiterer Autogramme, erklärte Miro, dass sie nun an Bord gehen müssten. Gemeinsam gingen die drei durch eine, im Verhältnis zur Halle, winzige Tür, die in einen weitläufigen und elegant gestalteten Warteraum führte, der eher dem Empfangsraum eines Hotels glich, als einer Wartehalle. Auf nied­rigen Tischen standen Obstkörbe, flankiert von ledernen Sofas und Sesseln. Topfpalmen sorgten für eine entspannte Atmosphäre und an einer hochglanzpolierten Theke gab es Erfrischungen für die ankommenden Passagiere. Die Melodie von leise durcheinander klingenden Gesprächen erfüllte die Luft, hier und da von Gelächter unterbrochen. Eine willkommene Abwechslung zu dem lauten Chaos vor der Tür.

Bodenpersonal im grünen Livree kümmerte sich um die Wünsche der Gäste: Essen, Getränke und die allgegenwärtigen Fragen zu Ablauf, Gepäck und Verzollung.

Miro ging zu ihrem Chauffeur, der einem der uniformierten Helfer die Koffer übergeben wollte. Er legte eine Hand auf den kleinen Lederkoffer mit seinen Zauberutensilien. »Der hier geht ebenfalls als Handgepäck mit«, sagte er.

»Tut mir leid«, meinte der Kofferträger. »Nur ein Gepäckstück pro Person in den Kabinen.«

»Das hatte ich so mit Herrn Barker vereinbart. Mein Name ist Miroslav Berlioz.«

Der Angestellte zog eine zerknitterte Liste aus seiner Hosentasche, strich sie glatt und ging, unterstützt vom Zeigefinger seiner rechten Hand, die Einträge durch. »Ja, ich sehe hier einen Vermerk. Extra-Handgepäck und Sie und Mister Norris haben freien Zugang zum Laderaum.«

Becky sah Miro begeistert an. »Du darfst in den Laderaum?«

Er nickte und lächelte sie an. »Ich darf, ma chérie.«

»Du nimmst mich doch mit!« Sie zog erwartungsvoll eine Augenbraue hoch.

»Aber das verstieße ja gegen die Flugsicherheit«, gab Miro lächelnd zurück.

Prüfend sah Becky ihrem Mann ins Gesicht. Ich hoffe wirklich, dass er nur scherzt, dachte sie. Na warte, mein Lieber, das kann ich auch. »Da bleibt mir ja nur noch eins«, sagte Becky, drehte sich zu dem Kofferträger um und fragte: »Wer ist Mister Norris? Und wo finde ich ihn?«

Der junge Mann sah wieder in seine allwissende Liste. »Ein Pilot, Ma’am, der ein Flugzeug nach Europa überführt. Er scheint aber noch nicht eingetroffen zu sein.«

Miro hob die Hände in einer Geste, die wohl ›Pech gehabt, wie?‹ sagen sollte. Dann fragte er neugierig: »Er transportiert sein Flugzeug in einem Zeppelin?«

»Anders herum wäre es sicherlich komplizierter«, kommentierte Becky.

Der Angestellte zuckte mit den Schultern, es schien ihn nicht zu interessieren, was er zu laden hatte, solange es auf seiner Liste stand.

Becky fragte: »Wollen wir noch was trinken, bevor wir uns dem Verladen stellen?«

»Gern«, sagte Annett.

»Wieso nicht,« stimmte Miro zu. »Wie es aussieht, kann das noch etwas dauern.«

Damit spielte er auf den Menschenauflauf an, der sich vor der Abfertigung für das Gepäck angefunden hatte. Umringt von Koffern und livriertem Bodenpersonal, einer völlig überforderten blassen Frau und einem gelangweilten, schlicht gekleideten Mann stand eine zeternde ältere Dame vor einem Zollbeamten.

Die Erscheinung im Mittelpunkt des Aufruhrs war komplett in Schwarz und im Stile des letzten Jahrhunderts gekleidet. Sie trug dazu eine beeindruckende Menge an Colliers, Armreifen und Ringen zur Schau, die sie wie einen Vorgeschmack auf Weihnachten aussehen ließen. Trotz ihres Alters stand sie kerzengerade, das aschgraue Haar am Hinterkopf kunstvoll aufgesteckt und mit einem nicht minder beeindruckenden Wagenrad von einem Hut gekrönt. Sie hatte ihre Augenbrauen hochgezogen, um damit unmissverständlich klar zu machen, wie unnötig sie die Behandlung empfand, der man sie hier unterzog.

In einem Englisch mit kantigem deutschem Akzent erklärte sie laut: »Ich werde sicherlich nicht gestatten, dass all meine Koffer hier in dieser Halle öffentlich durchsucht werden. Ich wüsste nichts in meinem Gepäck, das für Sie von Interesse sein könnte.«

Der Zollbeamte an der Theke lächelte, was ihm sichtlich schwerfiel und ließ sich von der Tirade nicht weiter beeindrucken. »Wir wollen auch gar nicht all Ihre Koffer öffnen, Gräfin, nur die, die Sie in Ihre Kabine nehmen. Die anderen Koffer, werden im Frachtraum untergebracht und können daher verschlossen bleiben, da Sie während der Fahrt keinen Zugriff auf sie haben.«

»Wie bitte? Was soll das bedeuten? Ich kann nicht an meine Koffer?«

»Den Passagieren ist der Aufenthalt außerhalb des Passagierbereichs nur in Ausnahmefällen und in Begleitung von Personal gestattet.« Der Beamte schien den Spruch heute schon einige Male aufgesagt zu haben, er leierte ihn mit so viel Betonung herunter wie ein Schlafwandler.

»Natürlich nur mit Personal, Sie glauben doch nicht, dass ich meine Koffer selbst trage?« Die Dame schien fassungslos ob dieser Unterstellung.

Das Lächeln des Zöllners flackerte nun doch. »Madam, laut Richtlinien der Gesellschaft dürfen sie nur einen Koffer mit in Ihre Kabine nehmen. Alle anderen Gepäckstücke werden sicher im Frachtraum verstaut, das garantiere ich Ihnen. Ihr Kabinengepäck müssen wir jedoch untersuchen. Möglicherweise haben Sie Gegenstände dabei, die gegen die Ausfuhr- oder Sicherheitsbestimmungen verstoßen.«

Die Gräfin warf der Frau neben ihr einen verurteilenden Blick zu. »Das könnte Tuggle durchaus passieren. Wäre nicht das erste Mal.«

Die Frau, vermutlich die Zofe der Gräfin, blickte auf ihre Schuhe. Sie trug ein schlichtes erdbraunes Kleid, das ihr bis knapp zu den Knöcheln reichte und praktische feste Lederschuhe. Das Schweigen, mit dem sie die verbale Attacke einsteckte, schien das lang erprobte und beste Mittel gegen solche Anschuldigungen zu sein.

Der Mann neben den beiden versuchte hingegen, die Situation zu beruhigen. Sein Englisch war besser als das der Gräfin, die deutsche Herkunft aber noch deutlich zu hören. Er fuhr sich geziert über das streng zurückgekämmte Haar – wobei er darauf achtete, die Frisur nicht durcheinanderzubringen – und drängte sich an der alten Dame vorbei zum Zöllner. »Haben Sie vielleicht eine Kabine, wo Sie sich die Koffer der Gräfin anschauen können und es niemand anders sieht? Wäre das in Ihrem Sinne, Gräfin?«

»Nein, das wäre es nicht, Bleibtreu.« Die Gräfin schien kurz davor zu stehen, jemandem ihren Spazierstock überzuziehen, ein stabiles hölzernes Gebilde mit einem runden silbernen Knauf.

Eine klare Antwort, dachte Becky amüsiert und beobachtete das kleine Drama interessiert weiter. Natürlich aus sicherer Entfernung, so wie der Rest der anwesenden Gäste und Angestellten.

Bleibtreu ließ sich von der Gräfin nicht einschüchtern, sondern versuchte es nun erneut: »Aber es wäre doch sicher angenehmer, wenn wir diese ganze Diskussion in einer privateren Umgebung führen könnten.«

Er wandte sich an den Zöllner vor ihm, der es inzwischen aufgegeben hatte, sein verrutschtes Lächeln wieder in die richtige Position zu bringen. »Möglicherweise könnten wir das ja mit jemandem weiter diskutieren, der etwas mehr Autorität in dieser Sache hat? Ich gehe davon aus, dass Mister Barker hier ein Büro zur Verfügung steht?

Der Beamte atmete sichtlich auf. An zwei hinter ihm bereits wartende Kollegen gewandt, sagte er umstandslos: »Schaffen Sie die Koffer der Gräfin in das Büro von Mister Barker und rufen sie ihn bitte.«

Zu der schwierigen Dame vor ihm sagte er nur: »Wenn Sie den Herren bitte folgen würden, Gräfin.«

Die Gräfin antwortete kalt: »Gut, ich werde schließlich nicht jünger während wir hier diskutieren. Tuggle, Bleibtreu, wir gehen.«

Bleibtreu blieb stehen, wo er war. »Dann tun Sie doch bitte jetzt Ihre Pflicht bei mir, guter Mann. Dies ist mein Koffer.«

Sollte die Gräfin bemerkt haben, dass jemand aus ihrer Entourage ihr nicht umgehend gehorchte, so zeigte sie es nicht. Ohne sich weiter darum zu kümmern, was hinter ihr vorging, folgte sie den Männern der Luftschifffahrtslinie. Die Zofe trottete ihr mit gesenktem Blick hinterher.

Kaum war sie außer Sichtweite, ging ein Raunen von amüsierten und erleichterten Kommentaren durch die Vorhalle. Erst jetzt wagten die Zuschauer, ihre Limonaden zu trinken – sie hatten damit aufgehört, um nur keine Sekunde des Spektakels zu versäumen.

»Wer war das?«, fragte Annett in den Raum.

Der Gepäckträger neben ihr antwortete darauf: »Das war Gräfin Edeltraud von Brauntroet.«

»Sie macht ihrem Namen alle Ehre«, murmelte Miro so, dass nur seine Frau und Annett ihn hören konnten.

»Das muss ein ehrwürdiger deutscher Name sein, wenn er so lang ist«, die Sängerin wiederholte ihn genüsslich, »Edeltraud von Braun... »

»Bitte, nicht nochmal«, sagte Becky gepresst und wischte sich eine Lachträne aus dem Auge. Manche Menschen, dachte sie, haben tatsächlich den Namen, den sie verdienen.

»Mister und Misses Berlioz!«, schallte es ihnen da entgegen. Vorbei an einer vierköpfigen Familie kam ein korpulenter Mann auf sie zugeeilt, die Arme zur Begrüßung weit geöffnet. Seine Haare waren nur mehr ein Kranz und die kleinen Augen lagen hinter einer runden Brille. Der dreiteilige dunkelgrüne Anzug war ihm auf den Leib geschneidert, so professionell wie das freundliche Lachen. »Es freut mich sehr, Sie an Bord meines Zeppelins zu begrüßen zu dürfen.«

»Mister Barker, die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte Becky. Sie musste nach unten sehen, denn Barker reichte ihr gerade mal bis zur Brust. Als sie ihm ihre Hand reichte, ergriff er sie und drückte schmerzhaft fest zu. »Mein Mann, Miroslav Berlioz.« Sie überlegte, ob sie ihn direkt darauf ansprechen sollte, dass er sie ausgerechnet zu dieser Fahrt eingeladen hatte, beschloss jedoch, dass dies auf keinen Fall der richtige Moment war. Das würde sie sich für später aufheben.

»Es ist mir eine Ehre, Mister Berlioz.« Nun schüttelte Barker auch Miro die Hand.

Becky drehte sich zu Annett um. »Und diese junge Dame ist Annett Jennings, unser Überraschungsgast sozusagen. Vielen Dank übrigens, dass Sie noch eine Kabine für uns zur Verfügung stellen.«

»Die Sängerin, natürlich, begabt und dazu wunderschön.« Der Besitzer des Luftschiffs verbeugte sich. »Russel Edgley Barker, zu Ihren Diensten. Ich hoffe doch sehr, Sie geben uns während der Überfahrt eine Kostprobe Ihres Talents, Miss Jennings. Misses Berlioz hat bei unserem heutigen Telefonat so begeistert von Ihrer Stimme erzählt. Entgegen meinen ursprünglichen Plänen werde übrigens auch ich auf dieser Fahrt mit von der Partie sein. Dringende Geschäfte, die meine persönliche Anwesenheit erfordern, sie verstehen …«

»Es wird mir eine Freude sein, Mister Barker«, sagte Annett höflich.

Barker lächelte und klatschte in die Hände. »Dann ist es also abgemacht. Haben Sie den Koffer, den wir sicher für Sie aufbewahren sollen, Mister Berlioz?«

»Zur Hand«, nickte Miro.

»Nun, leider müssen auch Sie durch die Kontrolle, da kann ich nichts machen. Aber direkt hinter den Beamten erwartet Sie ein Junge, der Sie zum Frachtmeister bringen wird. Kommen Sie, ich verschaffe ihnen da vorne einen winzigen Vorteil, Sie sind ja schließlich Ehrengäste, nicht wahr?« Er zwinkerte Becky zu.

Was für ein unangenehmer kleiner Mann, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hoffte nur, dass er in geschäftlichen Belangen ein angenehmeres Gegenüber sein würde, doch da hatte sie bereits nach diesem kurzen Zusammentreffen so ihre Zweifel.

Während sie zur Kontrolle gingen, flüsterte Becky Annett ins Ohr: »Barker ist der Besitzer der Fluglinie. Er hat im Großen Krieg viel Geld gemacht und in den Jahren danach noch mehr. All das steckt in dem neuen Projekt: eine regelmäßige Linie von Luxus-Luftschiffen über den Atlantik. Die ersten Fahrten sind gut gelaufen, aber jetzt sucht er nach weiteren Finanziers – und hofft, sie bei meiner Familie zu finden.«

»Sind Sie denn interessiert an einem fliegenden Hotel?«, fragte Annett.

Becky nickte. »Deswegen haben wir die Einladung angenommen. Ich werde mir die Demetrio und Mister Barker mal ansehen. Na ja, und weil Miro einem so großen Spielzeug nicht widerstehen kann.«

»Genauso wenig wie du einem Abenteuer, meine Liebe.« Miro legte einen Arm um die Schultern seiner Frau.

Inzwischen hatten sie die Tische erreicht, an denen die Angestellten der Fluglinie zusammen mit den Zollbeamten saßen und die Pässe und Koffer der Reisenden untersuchten. Vor ihnen stand nur noch die Familie mit den beiden Kindern. Vater und Mutter waren in ein Gespräch mit den Beamten vertieft, die Tochter spitzte interessiert die Ohren, um alles mitzuhören, nur der Sohn lungerte gelangweilt herum. Der Junge – wohl acht Jahre alt – sah zu Miro auf und runzelte die Stirn, so als würde er angestrengt nachdenken. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit kurzen Hosen, weißen Kniestrümpfen und eine graue Mütze.

Becky sah, dass Miro den Blick des Jungen erwiderte und ihm zuwinkte. Miro mochte Kinder sehr, das wusste sie bereits. Und er nutzte immer die Gelegenheit, sie mit kleinen Zaubertricks zu überraschen. Sie beobachtete gespannt, was weiter geschah.

Das Winken schien das Zeichen für den Jungen, reden zu dürfen. Er kam zwei Schritte auf Miro zu und fragte auf Deutsch: »Sie sind doch dieser Zauberer? Ich habe die Plakate gesehen und wollte hin, aber Papi sagte, wir hätten keine Zeit dafür.«

»Sowas«, meinte Miro. »Wie wäre es mit einer Gratisvorführung? Jetzt und hier.«

»Geht das denn?«

»Nur, wenn du mir hilfst.« Miro zog eine Streichholzschachtel aus seiner Jackentasche und sah sich nach einer zweiten um. Fündig wurde er auf dem Tisch der Zollbeamten; aus Brandschutzgründen sammelten sie alle Feuerzeuge und Streichhölzer ein, da offenes Feuer auf dem Luftschiff verboten war. Also nahm Miro kurzerhand eine konfiszierte Schachtel und reichte sie dem Jungen. »Wie heißt du, Kleiner?«

»Walther Kellermann Junior. Ich komme aus Koblenz.«

»Also gut, Walther aus Koblenz.« Miro schob seine Streichholzschachtel auf. »Ich habe ein paar Hölzer. Und du?«

Etwas linkisch drückte Walther Junior die Schachtel auf. »Ich auch.«

»Sehr gut. Wie wäre es, wollen wir sie verschwinden lassen?«

»Klar!« Der Junge lachte begeistert.

»Dann mach mir alles genau nach.« Mit großen Gesten besprach Miro seine Schachtel, und Walther Junior folgte seinem Beispiel: Drehte die Schachtel, tippte mit dem Mittelfinger darauf, drehte sie erneut. Dann hielt Miro inne, schloss die Augen und schnippte. Langsam schob er seine Schachtel bis zu Mitte auf – und sie war leer. Walther Junior gluckste vergnügt.

»Öffne deine Schachtel«, wies Miro ihn an, wobei er seine schloss.

Walther Junior tat, wie ihm geheißen – und verzog enttäuscht das Gesicht: Alle Hölzer waren noch da. »Es hat nicht geklappt«, sagte er mit trauriger Miene.

»Ça alors!«, rief Miro in gespielter Überraschung. »Das kann der große Berlioz nicht auf sich sitzen lassen. Ich muss etwas falsch gemacht haben.« Er nahm Walther Junior behutsam die Schachtel ab, untersuchte sie fachmännisch, hielt sie neben seine, schüttelte beide, legte eine ans Ohr und sagte endlich: »Jetzt muss es klappen. Versuchen wir es noch mal.«

Walther Junior nahm die Schachtel entgegen, schüt­telte, um die Hölzer darin zu hören. Wieder folgte er den Anweisungen Miros, drehte sie, tippte sie an, drehte sie, bis Miro schnippte. Miro nahm sie ihm ab, schob die Schachtel auf – und es waren keine Hölzer zu sehen. Walther Junior lachte und klatschte begeistert in die Hände.

»Voilá!« Miro grinste, wobei er die Schachtel schloss.

Da wurde der Junge an der Schulter gegriffen und fortgezogen. Walthers Mutter stellte sich zwischen Miro und ihren Sohn und schoss einen bösen Blick auf den Illusionisten ab. »Ist es bei ihnen üblich, fremde Kinder zu belästigen?«, fuhr sie ihn an.

Überrascht über den harschen Ton zögerte Miro, bevor er sich in einer Entschuldigung leicht verbeugte. »Verzeihung, ich hatte nicht die Absicht, Ihren Sohn zu belästigen. Er schien sich etwas zu langweilen.«

»Er ist ein anständiger Junge«, stellte die Mutter klar. »Er braucht keinen Umgang mit Menschen Ihres Schlages.«

»Meines Schlages?«, wiederholte Miro verwirrt.

»Franzosen!« Die Mutter zischte dieses Wort wie eine Verwünschung, drehte sich auf dem Absatz um und schob Walther Junior an der Theke vorbei, darauf achtend, dass der Junge ja nicht zurückblickte.

Miro starrte der Frau hinterher.

Becky konnte ihm ansehen, dass die Freude fortgewischt war, die ihm die Begeisterung des Kleinen geschenkt hatte. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Es bedurfte keiner Worte zwischen ihnen, denn solche Szenen hatten sie schon zu oft erlebt.

Die Wunden, die der große Krieg zwischen Franzosen und Deutschen geschlagen hatte, waren so tief wie die Schützengräben und für die meisten so unüberwindlich wie die stacheldrahtbewehrten Felder dazwischen. Ihr Mann hatte vier Jahre gegen deutsche Soldaten gekämpft, für ihn war die Zeit des Hasses aufeinander lang genug gewesen; umso enttäuschter war er, wenn er sah, dass dieser Hass bei vielen immer noch brannte.

Die letzten Wochen in Amerika waren in dieser Hinsicht so ganz anders gewesen. Bei den vielen Fremden und den verschiedenen Nationalitäten waren Miro und sie – ganz anders als sonst – gar nicht aufgefallen.

»Wir sind dran«, sagte Becky leise auf Französisch.

So traten sie Arm in Arm vor und einer der Zöllner fragte: »Name?«

»Rebeka Berlioz. Mit einem K, mein Vater hielt Doppelbuchstaben für Verschwendung.« Der Zöllner blickte kurz auf, grinste und fuhr dann fort. Da Miro sich gewissenhaft um alle Formalitäten gekümmert hatte, wurden die beiden schnell durchgewunken.

Miro öffnete den Koffer mit seinen Zauberutensilien, die Zöllner warfen aber nur einen kurzen Blick darauf. Becky sah, dass ihr Mann die beiden Streichholzschachteln mit leichtem Bedauern in einen Abfalleimer warf. Er hatte ihr jedoch mal erklärt, dass er in einem solchen Fall lieber auf einen Trick verzichtete, als ihn zu erklären.

Wie von Barker versprochen, wartete bereits ein junger Mann von ungefähr fünfzehn Jahren hinter dem Zollschalter auf sie. Er trug wie alle anderen Angestellten der Gesellschaft eine grüne Livree, auf der Brust prangte ein goldenes B in einem Federnkranz, das Symbol der Barker-Fluglinie. Er hatte rotblondes Haar und ein som­mersprossiges Gesicht mit Stupsnase.

»Mister und Misses Berlioz? Miss Jennings? Sehr erfreut. Gus Noles, ich bin Ihr Kabinenboy auf diesem Flug. Wenn Sie irgendwelche Wünsche haben, ich bin immer für Sie da. Hier lang.«

Er führte sie einen vollgestellten Gang entlang, wobei er es schaffte, mit der Karre, auf der ihre Koffer standen, nirgendwo anzuecken. »Sie haben doch bestimmt schon viel von der Welt gesehen, Mister Berlioz? Wo sie doch eine Welttournee hinter sich haben.«

»Kann man sagen. Misses Berlioz ist allerdings auch weit gereist«, antwortete Miro.

»Darauf wette ich. Das sieht man den Koffern auf den ersten Blick an. Gute Qualität, nicht so ein schickes Zeug, das nur gut aussieht.« Er bog um eine Ecke und grinste sie über die Schulter an. »Aber so was haben sie noch nich' gesehen, darauf wette ich.«

Sie bogen nun ebenfalls um die Ecke und Becky, Annett und Miro verhielten im Schritt beim Anblick des schlanken Riesen vor ihnen.

»Wette gewonnen«, murmelte Becky, die sich als Erste wieder erholt hatte.

Das Bild, das sich ihnen bot, war atemberaubend. Die Halle, die sie von draußen für so unglaublich groß gehalten hatte, kam ihr nun, da sie den Zeppelin sah, fast klein vor. Seine riesige silberne Hülle füllte sie nahezu aus und der höchste Punkt schien an die Decke zu stoßen.

Die Form der Demetrio war schlicht, eigentlich sah sie aus wie eine überdimensionierte Zigarre mit Flossen am hinteren Ende. Allerdings war die Zigarre ungefähr fünfzehn Stockwerke hoch und so lang wie der größte Ozeandampfer. Nur sah man normalerweise von Schiffen nichts außer den Aufbauten und einem Teil des Rumpfes.

Hier war es, als stünde man unter einem Ozeanriesen, würde nicht nur die Decks, sondern auch den Rumpf über sich sehen. Obwohl Becky wusste, dass der Zeppelin nahezu komplett hohl war, gaukelte die Größe ihr vor, unter einem soliden Gebilde zu stehen. Einem Gebilde, das durch nichts abgestützt wurde. Es war unwirklich und majestätisch.

»Wie kann etwas so Großes bloß fliegen?«, fragte Annett.

»Helium«, murmelte Miro, in dessen Stimme Begeisterung mitklang.

Auch Becky war hingerissen: »Ich glaube, ich habe mich verliebt.«

»Also bitte Madame, schließlich sind Sie verheiratet.« Miro gab ihr einen kleinen Stups und lächelte.

Sie griff nach seiner Hand, betrachtete aber weiterhin den Zeppelin. Nur schwer löste sich ihr Blick von der gigantischen silbernen Zigarre. Die Arbeiter, die um sie herumliefen, erinnerten Becky von Größe und Betriebsamkeit an Ameisen. Und doch kann es fliegen, dachte Becky. Seit sie denken konnte, faszinierte sie alles, womit man zwischen den Wolken reisen konnte. Autos machten Spaß, Schiffe waren eine gute Gelegenheit, um zu entspannen, und Züge fand sie langweilig. Aber Fluggeräte jeder Art brachten sie zum Träumen.

»Das sind die Motoren«, sagte Miro und zeigte auf Gondeln, die etwa auf der Höhe des Äquators am hin­teren Teil des Luftschiffs platziert waren. Sie hatten in etwa die Größe von Autos und große Propeller zeigten nach achtern. »Ohne sie wäre der Zeppelin nichts weiter als ein Ballon, dem Wind völlig ausgeliefert.« Miro zeigte auf die Unterseite des Rumpfes: Weit vorne hing etwas am Rumpf, in Größe und Form ähnelte es dem Passagierwaggon eines Zuges, wirkte jedoch im Gegensatz zum gesamten Gebilde winzig. Er erklärte: »Das hier vor uns ist, glaube ich, der Speisesaal. Unsere Kabinen müssen dann bei den Fenstern darüber sein.«

»Wir wohnen im Ballon?«, fragte Becky erstaunt. »Ist der denn nicht komplett mit Helium gefüllt?«

Es war Gus, der ihr antwortete, noch bevor ihr Mann es konnte: »Nein Ma’am, da drinnen sind zwar auch Kammern mit Helium, aber außerdem auch die Kabinen für Sie und die Crew, die Küchen, die Waschräume, Lagerfläche, Wassertanks und 'ne ganze Menge Stangen, damit das Ding stabil bleibt. Is nämlich 'n sogenanntes Starrluftschiff.« Er war sichtlich stolz auf sein Wissen – und sein Luftschiff.

Becky schüttelte verwundert den Kopf: »Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen.«

Sie sah den Ballon entlang und ihr fiel auf, dass das Luftschiff mit Seilen festgemacht war, die Gondeln aber nicht den Boden berührten. Sie sah nach oben zu den Fenstern am Bauch des Zeppelins, vier Stockwerke über ihr.

Um sie herum liefen Passagiere, Arbeiter und Techniker durcheinander und riefen sich entweder staunende Kommentare oder kurze Befehle zu während Kanister, Koffer und Fässer eingeladen wurden. Ein junger chinesischer Arbeiter nahm sich ihrer Koffer an und schob sie in Richtung Laderaum weiter. Vor diesem Giganten wirkt alles wie Spielzeug, dachte Becky. Sie sah sich nach Annett um, der es anscheinend die Sprache verschlagen hatte.

»Das ist eine wirklich fette Lady!«

»Bitte?«, entfuhr es Annett, die sich bei diesen Worten umdrehte. Vermutlich hatte sie schon häufiger unpassende Bemerkungen über ihre Figur gehört, dachte Becky, es gehört sich aber trotzdem nicht. Sie sah sich nach demjenigen um, der den unhöflichen Kommentar abgegeben hatte.

Der große Mann in Lederjacke, der die Halle nach ihnen betreten hatte, schien jedoch nicht Annetts rundliche Figur gemeint zu haben, denn er wies an ihr vorbei auf die Demetrio. »Das Gerät da. Groß, klar, aber auch fett und langsam wie eine kalbende Seekuh.«

»Sie haben wohl keinen Blick für Ästhetik«, gab Annett etwas spitz zurück.

Das kann sie wohl auch nicht auf dem Zeppelin sitzen lassen, dachte Becky amüsiert.

»Mag sein. Aber in der Luft bevorzuge ich wendige, schnelle Flugzeuge. Diese Zeppeline sind doch jetzt schon museumsreif.«

Miro schaltete sich ins Gespräch ein. »Also für den Flug über den Atlantik nehme ich lieber ein Luftschiff …«

Der Mann kam zu ihnen, mit großen Schritten, den Kragen seiner wollgefütterten Lederjacke hochgestellt, ein breites Lachen auf dem Gesicht. Er war einen Kopf größer als Miro und kräftig gebaut. Das wellige Haar und der breite Schnurrbart waren rabenschwarz. Er trug ein grobes Hemd, Baumwollhosen und Stiefel; eine Garderobe, die nicht zu der der anderen Gäste passen wollte.

»Ach was, das würde meine kleine Lady schon schaffen.« Er zwinkerte Miro zu. »Aber sicher ist sicher und ich schwimme ungern, also steig' ich besser mal hier ein. Quebec Norris der Name.« Damit schüttelte er Annett kräftig die Hand. »Nett Sie kennenzulernen.«

Auch Becky wurde mit einem Handschlag begrüßt. Fest, aber nicht unangenehm. »Sie sind Flugzeugpilot?«, fragte sie interessiert.

Quebec grinste erfreut. »Ja, meine einzig wahre Leidenschaft ist es, hinter einem knatternden Motor durch die Luft zu jagen. Das da«, er nickte zum Zeppelin, »ist mir zu brav. Allemal besser, als sich auf einem Schiff durchschaukeln zu lassen. In der Luft macht mir nichts so schnell Angst, aber ein paar Wellen und um mich ist es geschehen.«

Miro bekam ebenfalls einen Handschlag. »Die Demetrio hat vier Rolls Royce Motoren, jeder wohl stärker als alles, was in einem Ihrer Flugzeuge verbaut wurde.«

Quebec musterte ihn anerkennend. Erst dann sagte er: »Stimmt wohl, aber bei dem Luftwiderstand braucht sie auch jeden davon.«

»Was die wohl für einen Verbrauch haben?«

»Saufen bestimmt wie Matrosen auf 'nem Landgang. Gewartet werden müssen die auch, sogar während des Fluges. Wenn ich mir das vorstelle: Über mein Flugzeug klettern, nur um ein paar Schrauben festzuziehen.«

»Aber die Reichweite ist unschlagbar ...«

Während die beiden Männer in ihre Fachsimpelei vertieft weiter in Richtung Laderaum gingen, überlegte Becky kurz, ob sie sich einfach anschließen sollte. Doch sie war ebenso neugierig auf den Teil des Zeppelins, der den Passagieren zur Verfügung stand. Also hakte sie sich bei Annett unter und zog sie in Richtung der schmalen fahrbaren Treppe, die zum Eingang ins Schiff hinauf führte.

Ich werde Miro schon noch dazu bewegen, mit mir einen romantischen Ausflug in den Laderaum zu machen, dachte sie amüsiert. Und wenn nicht, halte ich mich eben an Mister Norris, der scheint ja ein netter Kerl zu sein.

Sie lächelte Annett voller Vorfreude an. »Bereit für ein Abenteuer?«

Mord im Zeppelin

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