Читать книгу ERWIN - Ullrich FRANK - Страница 7

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Im Park

Es kann manchmal so wundervoll sein. Erwin erwacht aus einem tiefen, ruhigen und ereignisarmen Schlaf. Er fühlt seinen klaren Kopf; Er liegt nicht neben seinem Bett. Er weiß, welcher Wochentag und welche Uhrzeit es ist, und er hat nicht verschlafen.

Der Wettermann im Radio, vorhin, hat ihm versichert: »Es wird heute ein schöner sonniger Samstag.« Der kurze Blick durch die Fensterscheibe sagt ihm, dass es wohl noch nicht ›Heute‹ sein kann. Andererseits: Er hat ja Geduld. Eventuell ist es ja nach seinem Frühstück ›Heute‹. Also: ›Heute schönes Wetter!

Er hat sich für diesen Tag nichts Besonderes vorgenommen. Es ist auch besser so. Denn für gewöhnlich, angesichts der Tatsache, dass er sich etwas Schönes vorgenommen hatte, ging es meistens anders aus. Überwiegend mit negativen Aspekten.

Seine Samstage liefen in der Regel immer gleich ab. Seine ›Wochenend-To-do-Liste‹ war mittlerweile in seinem Unterbewusstsein abgespeichert: Leere Konservengläser und Flaschen wegbringen, Papiermüll sortieren und die wichtigsten Einkäufe, die seinen Kühlschrank betreffen, würden ihn die kommenden zwei Stunden in Anspruch nehmen. Doch zunächst wird erst mal in Ruhe gefrühstückt.

Als er vor ein paar Jahren für seine Firma zu irgendeinem Kunden musste, und dort am Ort in einem kleinen, aber eleganten Hotel übernachtete, verspürte er zum ersten Mal in seinem Leben einen Hauch von Luxus. Und das nur, weil der Frühstückstisch für ihn allein, komplett mit allem, was man sich vorstellen kann, gedeckt war. Also kein Buffet, sondern alles, was auf so einem First-Class-Buffet normalerweise steht, war dort für eine Person auf einem Tisch übersichtlich drapiert worden. Bombastisch. Seitdem sah sein Küchentisch an jedem Samstag genauso aus. Auch, wenn er nur Hunger auf einen Toast mit Marmelade und ein Ei hatte. Diese Zeremonie gönnte er sich. Irgendeinen Tick hat doch Jeder, oder?

Cirka eine Stunde später dreht er mit seinem Auto die sechste Runde um den Block, mit dem Platz, auf dem die Container für den Glasabfall stehen. Kein freier Parkplatz. Jeden Samstag das Gleiche. Zum Kotzen. ›Können die nicht mal zu Fuß ihren Müll wegbringen?‹, denkt er, und setzt zu einer weiteren Ehrenrunde an. In Wirklichkeit ist hier keine Fläche zum Parken für die Dauer der Glascontainer-Befüllung vorgesehen. Dieses hier ist ein reines Wohngebiet mit verkehrsberuhigter Zone mit Parkflächen für die Anwohner. Erwins Zuhause war ungefähr dreihundert Meter von hier entfernt.

Er spielt mit dem Gedanken, seine Ketchup- und Weinflaschen wieder mit nach Hause zu nehmen und das ganze Spiel am nächsten Wochenende erneut zu starten. Jedoch plötzlich sieht er links, auf der anderen Straßenseite, einen Blinker und Fahrlicht angehen. Abrupt tritt er die Bremse, um dort einlenken zu können. Doch ›abrupt‹ ist immer der erste Teil, von dem physikalisches Phänomen bei Dingen, die in Bewegung sind, und deren Geschwindigkeit sich unvermutet ändern. Da kann schon mal die sogenannte ›Fliehkraft‹ auftauchen. Sein, aus Omas Nachlass, handgeflochtener Weidenkorb, mit Flascheninhalt, schnellt mit der Rasanz von 15 km/h vom Rücksitz über die, vom Vortag zurückgeklappte, Sitzlehne, an die rechte Seite von dem Handschuhfach. Das Geräusch beim Aufprall lässt sich mehr schlecht als recht formulieren. Nur eins: Es ist bedeutend leiser als der Ausruf der unflätigen Schimpfwörter aus Erwins Kehle.

Nach einer weiteren Stunde, ist er wieder zu Hause, und fühlt sich nun völlig easy und ausgeglichen. Sein Wagen ist wieder scherbenfrei, auch die Wohnung ist mittlerweile wieder für Fremde begehbar geworden. Sie ist gelüftet, gereinigt, aufgeräumt und staubfrei. Na, ja. Seine Nachbarin, die mit den hundert verschiedenfarbigen Küchenkitteln und dem an der Hand angewachsenen Staubtuch, würde hier doch noch einiges finden, was gereinigt werden müsste. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Seine gesamte Aufmerksamkeit ist nun bei seinen Gedanken, was er denn jetzt ursprünglich schönes, sinnvolles, ihm Freude bereitendes, spektakuläres Unterfangen, heute, bei diesem tollen Wetter, durchführen soll. Der Volksmund sagt auch: ›Was nun?‹

Er nimmt sich das Wochenblatt, das hier am Ort immer am Mittwoch erscheint, zur Hand, und beginnt zu stöbern.

.. Er stöbert … Und stöbert … Und stöbert. Nach zwei weiteren Stunden hat er das Kompendium komplett durchgelesen. Nachdem er die offensichtliche Reklame und auch die versteckten, unterschwelligen Werbungstexte herausgefiltert hat, weiß er nun alles, was für ihn bedeutungsvoll sein soll. Also, das was die Anderen glauben, dass dies für ihn relevant ist. Ihn selbst interessiert nicht so sehr, ob ein Verein für Rentner, einen Ausflug zum Sozialamt gemacht hat. Oder ein Mitglied eines hier ansässigen Turnvereins, schon 45 Jahre, trotz Gliederreißen, aktiv ist.

Das ein Bürger dieser Stadt längst mehrmals den zunehmenden Verkehr in seiner Straße angeprangert hat, und dadurch der Straßenlärm seine Volksmusik stört, ist auch nicht sein persönliches Nachrichten-Highlight. Überwiegend, muss er feststellen, sind hier Berichte darüber, welche bereits Vergangenheit sind. Erwin möchte aber gerne wissen, was heute so los ist. Wo was wann angeboten wird. Bis auf die zwölf Flohmärkte, den ›Vogelkundler-Früh-Suchtrupp (von vier bis sieben Uhr in den Morgenstunden) sowie die diversen Aktionstage bei den einheimischen Autohändlern, ist hier in diesem Blatt nichts zu finden. Schade.

›Das habe ich jetzt davon‹, denkt er, ›Als Eigenbrötler, Besserwisser, Sonderling, Neunmalschlauer und Zugezogener hat man eben nicht so viele Bekannte, mit denen man etwas unternehmen kann!‹ Für einen kurzen Moment will er sich für sein Selbstmitleid entscheiden. Doch davon bekam er meistens Kopfweh, und das will er heute überhaupt nicht. »Wohl an«, spricht er. Das hatte er in irgend einem Buch gelesen, dessen Story im achtzehnten Jahrhundert spielt. »Wohl an, zu neuen Ufern!« Er grinst, als er sich diese Worte rufen hört.

Erwin tut jetzt so, als ob er etwas vor hat, und macht sich ›stadtfein‹: Die neue helle Stoffhose, ein frisches Polo-Shirt und eine leichte Strickjacke über die Schultern gelegt. Noch einmal die Frisur und seinen Gesichtsausdruck im Spiegel korrigiert, und los geht’s.

Die Wohnung verlassend, den Kopf und die Schultern nach oben gerichtet, seine Wirbelsäule gespannt, den Hintern zusammengekniffen, den Blick geradeaus, so tritt Erwin an diesen sonnigen Nachmittag ins Freie.

Nur, welche Richtung soll er einschlagen? Bis soeben hat er nicht mit einem solchen plötzlichen Entscheidungszwang gerechnet. Erwin ist normalerweise so ein Mensch, der klare Verhältnisse liebt. Einer der immer weiß, wo der Hase läuft. Er hasst die Menschen, die sich nicht entscheiden können. Wie geht das grundlegend, wenn man sich jetzt selbst hassen muss? Darf man sich dann nicht mehr ansehen? Oder sind keine Selbstgespräche mehr erlaubt? Er weiß es nicht. Jetzt sind es schon zwei Probleme. Welchen Weg er nehmen muss und wie man sich selbst hasst. ›Scheiß Wochenende‹.

Ein Passant auf der anderen Straßenseite sieht ihm etwas verwundert nach, als Erwin im Zickzack-Kurs erst links und dann rechts rum, seinen optimalen Startpunkt zum Spaziergang suchte. Erwin versuchte nun, sich abzulenken, damit er nicht so viel dummes Zeug dachte. Erst zählt er von 50 rückwärts bis Null. Wobei er bemerkte, dass er zwischendurch einige Zahlen überschlug, dann plötzlich wieder vorwärts zählte, und die Zahl 34, glaubt er, mindestens viermal leise gedacht zu haben. Doch weiter kam er nicht. Irgend ein Mensch geht an ihm vorbei und grüßt ihn. Jetzt ist er völlig aus dem Konzept. Wer ist das überhaupt? Der muss mich verwechselt haben. Er ist jetzt völlig raus aus seiner Konzentration. Soll er unter Umständen den unbekannten Menschengrüßer fragen, ob es eine solche, von ihm vermutete Verwechslung gibt?

Nein! Er blickt hinüber zu seinem Parkplatz und beschließt ohne Fahrzeug in die Fußgängerzone zu kommen. Andererseits – Samstags in der Fußgängerzone sind Alle im Stress. Also lieber in den Park. Dort haben die Menschen normalerweise immer bessere Laune.

Gedacht, getan. Nach ungefähr 25 Minuten kommt er an. Im Park. Es liegt ein ungewöhnlicher Geruch in der Luft. Er erinnert sich: ›Dies ist natürliche, gesunde frische Luft‹. Ungewohnt – aber angenehm. Erwin zieht seine Schuhe aus und geht mitten auf die satt strahlende grüne Wiese und legt sich auf den Rücken.

Wunderbar.

Er schließt seine Augen und döst so ein wenig vor sich hin. Er öffnet sie wieder und sieht die kleinen Schäfchen-Wolken vorüberziehen und fantasiert sich aus den verschiedenen Wolkenformen immer neue Gesichter, Tiere, Figuren und Sonstiges. Er denkt über das Wort ›sonstiges‹ nach. Dieses Wort erinnert ihn an die jährliche Steuer-Erklärung. Alles was man nicht versteuern braucht, muss man unter ›Sonstiges‹ angeben, damit es versteuert werden kann. Genial.

Er sollte ein Geschäft aufmachen, mit dem Namen ›Sonstiges‹. Doch jetzt ist Wochenende. Nicht an Arbeit denken. Wolken gucken! Erwin ist wieder im Alpha-Zustand.

Die eine Wolke sieht aus, wie ein kleines Schaf. Die Nächste wie ein Kalb, wenn es frisst. Dort kommt ein ganzer Schwarm Hühner, oder wie das heißt, wenn mehr als zehn Hühner angeflogen kommen. Können Hühner fliegen? Da! Das Zwitschern von einer Meise oder Amsel oder so etwas.

Paradiesisch.

Er vernimmt das Summen von Bienen. Honig.

Nun das Summen von Mücken. Blut. Au!

Er schlägt sich mit seiner flachen rechten Hand auf seine Wade und springt auf.

Keiner da! Er sieht auf seine Armbanduhr – schon nach vier Uhr. Er hat also tief geschlafen. Er hat gepennt. Er war nicht ganz da.

Ein Blick in die Runde sagt ihm, dass im Umkreis von 800 Metern kein Mensch zu sehen ist. Kein Fremder. Kein Bekannter. Niemand.

Kein Mensch, der ihn ärgert, kein Mensch, der ihn erfreut. Kein böser Mensch, aber auch kein netter Mensch.

Ein Satz aus einem, vor kurzem gelesenen Gedicht fällt ihm ein:

»Willst Du nette Menschen sehen, darfst Du nicht im Park rumstehen.«

ERWIN

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