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Allwissend

Psychologie scheint ja ein riesiges Wissensgebiet zu sein. Allein, wenn man bedenkt, wie viele Bücher es in diesem Land zu kaufen gibt. Erwin staunt über die Zahl, die in einem großen Online-Portal unter dem Begriff »Fachbücher für Psychologie« angezeigt wird: 68.256 Bücher. Wie lange würde es wohl dauern, bis er diese Dinger alle gelesen hat? Wie viel Stunden hat es wohl gedauert, bis diese Werke alle verfasst wurden? Will er das wirklich wissen? Nein! Obwohl …?

Er wollte doch nur mal sehen, was es so an Ratgebern gibt, die ihm bei seinem Problem mit der Vergesslichkeit, angeboten werden. Aber das hier? Nein, das ist ihm zu umfangreich. ›Das kannst du vergessen‹ sagte er sich.

Erwin verschränkt seine Hände hinter seinem Kopf, lehnt sich zurück, und sieht aus seinem Fenster in die Ferne. Ins Nichts. Das macht er gerne, weil es so herrlich entspannt. Andererseits kann es passieren, so wie heute, dass seine Gedanken sich um alles drehen, was er sich überhaupt vorstellen kann. Und er kann sich eine ganze Menge vorstellen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass seine Eltern ihm schon in seinen Kindertagen, immer wieder nahe legten, sich etwas vorzustellen.

»Stell Dir mal vor, wie Papa sich freuen würde, wenn Du mal keine schlechte Note aus der Schule mitbringst.« »Stell Dir mal vor, was aus Dir alles werden könnte!« »Stell Dir mal vor, wie schön es wäre, wenn Du Dich nicht immer so dämlich anstellst!«

Ja, er konnte sich schon damals vorstellen, wie es wäre. Hauptsache, es wäre anders. Sonst brauchte man sich ja es nicht vorstellen – es wäre ja dann real.

Mit anderen Worten: ›Realität ist unvorstellbar. Für einen selbst.‹

Diese, seine Aussage, so stellte er sich nun vor, wird in der Zukunft von Gelehrten und Wissenschaftlern, für neue, psychologische und philosophische Vorträge und Bücher, immer wieder gerne zitiert werden.

Ebenfalls ein gern gehörtes Intro war in seiner Kindheit: »Stell Dich nicht so an!« – Seitdem verabscheute Erwin Warteschlangen an Kassen. Egal ob im Supermarkt, Arbeitsamt, Fußballstadion oder am Zoo-Eingang.

Nicht nur Erkenntnisse, was er sich so vorstellen kann, sondern ebenfalls Betrachtungsweisen und Ideen über die gesamte Menschheit und das Universum schwirren Erwin durch den Kopf. Immer dann, wenn er so in die Ferne starrt – quasi ins Nichts. Nun gut, der Urknall ist nicht dabei, allerdings die einzelnen Abschnitte der Evolution seit den Lebzeiten von Großmutter, geben ihm schon eine Menge zu denken.

Ja – Oma – die hatte auf alles eine Antwort. Auch wenn es keine Fragen dazu gab. Diese Fähigkeit hatte sie dann auch seiner Mutter vererbt. Wenn er sich so überlegt, auf was man alles antworten könnte, das ist schon gigantisch. Früher gab es nicht so viele Möglichkeiten. Da gab es eine Frage, und dann konnte man diese beantworten oder eben nicht.

Die Menschen brauchen sich heutzutage also nichts merken, weil man es ja sofort überall nachsehen kann. Sogar auf dem Handy. Und die Menschen schauen ständig nach. Rund um die Uhr kann man die Leute sehen, wie sie auf einen kleinen Bildschirm starren und hektische Fingerbewegungen machen. Der Hals ist bei den meisten Netz-Usern schon um 20 cm nach vorne geknickt. Er ist gespannt, wo hier die Evolution hingeht. Das mit dem ›aufrechten Gang‹ ist schon überholt. Vergangenheit, Geschichte.

Nichtsdestoweniger weiß der Mensch doch an sich so alles, was er zum täglichen Leben braucht. Zum Beispiel, was tut man, wenn man im Stau steht? Da gibt es bestimmt Verhaltensregeln. Was darf man, und was darf man nicht? Das ist unmissverständlich paragrafentechnisch festgelegt. Der Stau ist also gesetzlich geregelt.

Genauso aufschlussreich ist es, dass fast jeder Mensch weiß, wie man sich bei einem Brand verhält. Erwin überlegt kurz, ob er im Ernstfall 110 oder 112 anrufen soll, entscheidet sich dann aber für die Lösung: Laut ›Feuer‹ schreien, dann wird schon jemand die richtige Nummer wählen. Auch hier, stellt er fest, ist alles geregelt. Auch gesetzlich. Das ist wahrscheinlich auch gut so. Erwin würde sich ein anderes Mal mit diesem Thema auseinandersetzen. Da gibt es bestimmt eine ganze Menge Schmöker darüber.

Da gibt es auch noch so Dinge, die nicht gesetzlich sind. Nicht gesetzlich geregelt. Aber! Verhaltensregeln. Wie benimmt man sich zum Beispiel auf einer Feier? Nun ist ja Feier nicht gleich Feier. Selbst bei den privaten Feiern gibt es unendlich viele Variationen, glaubt Erwin. Er denkt an Geburtstage, Prüfungen, Erntefeste, Weinkönigin, Hochzeiten, Scheidungen. Überall wird gefeiert. Aber immer anders. Die Uhrzeit und die Jahreszeit sind auch maßgebend. Im Sommer wird weniger gegessen als im Winter, aber dafür mehr getrunken. Doch im Sommer verträgt man weniger. Bei Erwin ist das so. Doch bei all diesen Möglichkeiten gibt es Gott sei Dank auch Verhaltensregeln. Natürlich auch in schriftlicher Form: ›Der Knigge‹.

Erwin versucht, sich an seine letzte Teilnahme an einer Feier, zu erinnern. Es will ihm nicht einfallen. Muss wohl in irgendeinem Sommer gewesen sein.

Regeln, Regeln, Regeln …

Der Mensch weiß auch, was er tun muss, wenn es zu heiß wird, oder geworden ist: Im Backofen, wenn das Hähnchen noch drin ist.

Die Regel hier lautet: Du solltest jetzt etwas anderes essen! Immer wieder gerne genommen: der Pizzaservice. Erwin glaubt nun, zu wissen, warum ihn alle Mitarbeiter von seinem Lieferservice mit ›Du‹ anreden. Zwanzig Mal ›Hähnchen verkohlt‹, heißt: Zwanzig mal Pizza bestellen. Man kennt sich. Man duzt sich.

Erwins Gedanken fliegen schon wieder in andere Gefilde. Er erinnert sich an das Hochwasser vor elf Jahren, als er noch ein halbes Jahr lang, an einem kleinen Fluß gewohnt hat. Eine preiswerte Wohnung. Lichtdurchflutet, geräumig, warm, fließendes Wasser. Im Keller. Auch hier wusste er sofort, woher auch immer, was bei Hochwasser zu tun ist. Zum Beispiel ein paar ältere Elektrogeräte ins Wasser stellen, fotografieren und die Versicherung anschreiben. O. K., er hätte auch noch einiges in Sicherheit bringen können, das stand zumindest in der Vorschrift(Regel) der Versicherung. In seiner persönlichen Verhaltensregel stand aber etwas anderes. Gibt es denn auch Vorschriften, wenn sich zwei Regeln nicht so gut verstehen? Also beißen? Irgendjemand wird’s schon wissen.

Er wusste auch damals, als der von Oma geerbte Kuchenteller, sich in ein Puzzle verwandelte, zu tun oder zu lassen ist. Ein kleiner Urknall mit zwei Aspekten: Er musste Oma, wenn Sie beim nächsten Besuch von ihr, den Teller vermisste, anlügen (verliehen, oder so) und: Er brauchte beim Staubwischen nicht mehr so vorsichtig sein.

Er kennt auch, wenn der Marder seine Bremse angeknabbert hat, die Regel, was zu tun ist. Nicht fahren. Zu Fuß gehen. Fahrrad fahren. Dem Nachbar sein Auto leihen. Oder so.

Und dann gibt es noch die sensiblen Momente im Leben. Eher am Lebensende. Sensibel kommt nicht von Sense. Auch hier weiß Erwin, was er tun müsste, wenn er etwas damit zu tun hätte. Wenn jemand aus der Familie …, oder ein Freund …, oder womöglich er selbst vom Sensenmann geholt werden soll.

Erwin wird jäh aus seinem ›Fernblick‹ und seinen philosophischen Betrachtungen gerissen. Das Telefon hat kurz, aber laut, ein Signal für eine ankommende Nachricht gegeben. Er reibt sich die Augen und streckte sich, damit er wieder in die Realität zurückkommt. Er schnappt sich sein Handy und zuckt erneut zusammen: ›Sie haben in der Klassenlotterie den Rang zwei erzielt …‹

Erwin wechselt seine Gesichtsfarbe in Sekundenschnelle von weiß auf kreideweiß und rot. Seine Hände starten den Beginn einer Zitterorgie, die er das letzte Mal, vor fünf Jahren, nach zehn Tassen starken Kaffee hatte. Er setzt sich. Nein, er sitzt ja schon. Er steht auf, damit er sich wieder setzen kann. Gewonnen! Und was nun? »Was soll ich jetzt tun?«, fragt er sich schon etwas lauter, indem er vor seinem Spiegel steht, und sich bei seiner Fragestellung selbst beobachtet. »Sag mir jetzt sofort, was jetzt zu tun ist!«, schreit er sich an. Doch sein Hirn bleibt unbelebt.

Erwin merkt, dass es schon düster ist. Er sitzt wieder in dem Sessel, in dem man so wirksam in die Ferne sehen kann. Sein Zittern ist weg, die Nachricht stimmt. Er hat wirklich gewonnen. Er hat noch mit Niemanden darüber gesprochen, nur mit sich selbst. Er hasst seine Kindheit, seine Jugend, sein Umfeld.

Jeder weiß, was zu tun ist, wenn irgendetwas passiert, was man unter der Rubrik ›negativ‹, einordnen kann. Und Niemand, nein überhaupt Keiner!, hat ihm jemals gesagt, was er tun muss, wenn er Glück hat.

Er denkt nach. Er überlegt sogar. Ergebnis: Hier fehlt ein Gesetz!

ERWIN

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