Читать книгу ERWIN - Ullrich FRANK - Страница 8

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Redebedarf

Wann hat es angefangen? Seit wann wissen es die Anderen? Oder – haben sie es überhaupt schon gemerkt? Ist das alles relevant für seine Zukunft?

Ist er noch gar nicht so alt, wie er sich jetzt fühlt?

Aber, was schleudert ihm sein Doppelgänger mit vehementer Wahrheit mitten in seine ansteigende Niedergeschlagenheit? Warum sagt ihm sein Gegenüber ohne Rücksichtnahme auf seine Gefühle, das seine Augenfalten nicht mehr sexy, sondern eher abstoßend wirken? Auch seine Lachfalten, die früher immer so gezielt bei der Damenwelt ankamen, hatten plötzlich die Anziehungskraft der Erde entdeckt.

Erwin erkennt für einen Moment im Spiegelbild: Ebenezer Scrooge.

Er zuckt zusammen. Seine blasse Gesichtsfarbe hebt sich kaum von der weißen Badezimmerwand hinter ihm ab. Der Spiegel zeigt ihm deutlich, auch ohne Brille, dass sein Zenit lange überschritten ist. Er will etwas zu sich selbst in sein Antlitz sagen, doch seine belegte Stimme läßt nur ein leises Krächzen zu. ›Das ist normal‹ denkt er bei sich, ›wenn man niemanden zum Reden hat, dann braucht man seine Stimme höchstens noch beim Einkaufen.

Allerdings hat er beim Betreten des hiesigen Einkaufszentrums noch nie das Gefühl gehabt, dass er zum Sprechen genötigt wird.

Er wird nicht begrüßt, wenn er den Laden betritt, an der Kasse wird nur stur und emotionslos der erforderliche Betrag genannt, und ein Gruß zum Abschied, stand wohl nicht im Arbeitsvertrag.

Aber es gibt ja noch das Internet. Da erhält man meistens noch ein höfliches Dankschreiben für die getätigte Bestellung. Außerdem man braucht keine Kassiererin höflich anzulächeln, um dann trotzdem einen arroganten Blick dafür zu bekommen.

Er geht zurück ins Schlafzimmer, und setzt sich auf den Stuhl neben dem Fenster. Seine Finger unternehmen schon automatisch die kleinen Bewegungen, um die Gardinen einen kleinen Spalt zu öffnen, und mit dem Blumentopf, in dem nichts ›Lebendes‹ mehr war, zu fixieren. Er späht die Straße herunter, soweit er konnte. Sein Blickwinkel läßt allerdings nur ein paar Meter zu, ansonsten würde er von den vielen Passanten entdeckt werden. Obwohl – Keiner von den vorbeiziehenden Menschen hatte in den letzten zwei, drei Jahren, hier zu seinem nicht wirklich einladenden dunklen Fenster im Parterre gesehen.

Er selbst dagegen kennt sie alle. Jede Gestalt, die hier vorbei geht. Nein, nicht die Namen, aber wo wer wann hingeht, wo die Geschöpfe wohnen und was sie an Bekleidung anhaben.

Ja, er kann sofort sehen, ob neue Schuhe, Mützen, Schals oder Jacken im Umlauf sind. Die Art, wie die Menschen gehen, wie sie sich bewegen, ob aufrecht oder gebückt, ob behäbig schlurfend oder gehetzt, kann er mittlerweile einordnen. Dank seines Fernstudiums ›Psychologie für Anfänger – die Körperhaltung Teil 1‹.

Er weiß nicht, wie lange er seine Augen in Richtung Straße fixiert hat, als ein leichtes Rumoren in der Magengegend, ihm sagt, dass es Zeit zum Frühstücken ist. Ein leichter Anflug von Zufriedenheit huscht über sein Gesicht, als er merkt, dass die Tageszeitung, wie gewohnt, in seinem Briefkasten steckt.

Er holt alle Utensilien, die er zur morgendlichen Mahlzeit braucht aus dem Kühlschrank, den Kaffee dazu, die Zeitung. Fertig.

Nein, erst noch das Tuch von dem Papageienkäfig herunternehmen. ›Paul‹ sitzt noch auf der Stange. Alle Federn stecken noch in den richtigen Stellen, das Körnerfutter war fast aufgebraucht, das Wasser für den stillschweigenden Schwätzer ist sauber und klar und auch noch genug. Es scheint, alles ist in Ordnung.

Vermutlich gibt es nicht viel Neues im ›Städtchen‹. Der Lokalteil im Nachrichten-Blatt hat nur achtzehn statt, wie sonst, zwanzig Blätter. Der Reklame- und Inseraten-Teil macht auch wie gewohnt, den Großteil des Papierberges aus. Früher war seine Lese-Reihenfolge immer: Sport – Politik international – national – Sonderangebote – Todesanzeigen – lokales Blabla. Heute ist es genau umgekehrt. Also zuerst Blabla, dann den Rest. Die Sterbeanzeigen lässt er schon seit einer Weile weg. Warum soll er sich merken, wer nicht mehr mit ihm sprechen kann? Physisch.

Er beginnt, wie immer, jedes Wort zu lesen. Jedes. Im Flüsterton liest er sich die gesamte Ausgabe vor. Sein Papagei hört ihm aufmerksam zu.

›Mein Gott‹, dachte Erwin, ›wo soll das hinführen? – Die Schreibfehler nehmen stetig Überhand! Schon zwei Fehler auf der ersten Seite, und sogar vier auf der nächsten. Anscheinend darf heutzutage jeder jeden Beruf ausüben, ob man ihn kann oder nicht. Was soll’s, das wird ja so von der Regierung vorgemacht. Da braucht man sich nur die Politikseiten durchlesen‹.

Ihm sträuben sich die Haare und er schaut wiederum auf das Gedruckte, jedoch seine Gedanken schweifen ab. Er liest zwar die Buchstaben, allerdings halten seine Erinnerungen an die Zeiten, als er noch einen Freundes- und Bekanntenkreis hatte, nun seine Gedanken fest im Griff. Zweimal in der Woche hatte er sogenannte Diskussions-Runden mit mehreren Bekannten reihum zu Hause. Es ging immer um und über alles, worüber man diskutieren konnte. Demzufolge jeder Quatsch, der einem so einfiel. Irgendwie hatte sich das Ganze mit der Zeit zerschlagen. Erst wurde es unmerklich weniger, dann hatten immer mehr Dialogpartner keine bis gar keine Zeit mehr.

Auf die eine oder andere Weise hat er es schon kommen sehen, denn alle seine Freunde und Bekannten konnten und wollten es nicht zugeben, dass er meistens recht hatte. Immer. Er weiß eben alles, weil er so viel liest – und so!

In seinem Unterbewusstsein machen sich ein paar kleine, fiese Worte jetzt so richtig gewichtig: ›Neunmalschlauer und Klugscheißer!‹ Und sogar: ›Oberlehrer!

›Die können mich mal …‹

Sein Blick irrt ziellos im Zimmer herum und blieb auf seinem Telefon hängen. Nicht eines von den neuen, modernen, mit Tasten und so. Seins hat noch eine Wählscheibe und war in einem dezenten Schwarz gehalten.

Er überlegt, wann er wohl das letzte Mal das Ding benutzt hatte. Früher hatte er sehr viel Telefonate geführt. Auch nachdem die Diskussionsabende aufgehört hatten und er zum unbeobachteten Eigenbrötler wurde. Zu der Zeit hatte er noch den ganzen Tag das Radio laufen. Das Lokalradio. Der Sender war beliebt. Die Musik war flexibel, also für Jeden irgendetwas. Und die Beiträge aus und um sein Nest herum waren abwechslungsreich und bedeutsam. Irgendwann konnte man direkt ins Studio anrufen, quasi mitten in die Sendung. Dann wurde der Hörer live ins Studio geschaltet. Das war wirklich aufregend. Anfänglich. Er hatte das Gefühl, ein gern gehörter Meinungsmensch zu sein. So einen, den man alles fragen kann und der auf alles eine Antwort hat. Die Leute vom Radio kündigten ihn immer an: »Hier ist wieder Erwin K. aus W., heute zu dem Thema: Was schützt überhaupt nicht vor Erkältung?«

Ach – es gab so viele Themen, zu denen er etwas konstruktives beitragen konnte. Da war zum Beispiel die Umfrage, welches war Ihr teuerstes Schmuckstück, was Sie je sich erlauben konnten? Oder: Was ist der Renner in diesem Sommer in der Eisdiele? Finden Sie das Wetter auch zu windig? Und haben Sie nicht auch das Gefühl, dass es nachts nicht so dunkel ist, wie früher? Haben Sie persönlich genug Zeit, wenn genug Zeit für die Allgemeinheit verfügbar ist? Was ist der Unterschied zwischen ›gut‹ und ›teuer’? Dürfen Sonntagsfahrer auch montags fahren? Ist man dümmer als der Durchschnitt, nur weil der Durchschnitt von Professoren festgelegt wurde? Welche von den vier Schienen im Backofen ist die ›mittlere’? Er wusste auf alles eine Antwort. Alles. Da war sie wieder, die kaum vernehmliche Stimme in ihm: ›Klugschwätzer!.‹ Irgendwann, als dieses moderne ISDN herauskam, wurde er plötzlich nicht mehr durchgestellt. Man konnte jetzt sehen, wer da anruft. »Da ist er wieder, der E. K.

aus W.!« ›Weggedrückt!

Ihr könnt mich doch alle malIhr habt doch sowieso keine Ahnung!.‹ Seine Mundwinkel hingen jetzt noch tiefer herunter. ›Ebenezer Scrooge‹.

Er konzentrierte sich jetzt wieder darauf, wann wohl sein letztes Telefongespräch stattgefunden hat. Das muss wohl so vor zwei Jahren gewesen sein. Als er zwischen diesem Herzrasen und dem starken Klopfen im Kopf, plötzlich auf dem Fußboden aufwachte, weil ›Paul, der Papagei so einen Lärm gemacht hatte. Damals hatte er dann die Feuerwehr angerufen, weil er keine Rufnummer von irgendeinem Arzt hatte. Die bösen Menschen im Fernsehen telefonieren immer mit ›ihrem Anwalt oder ›ihrem Steuerberater. Er selbst hatte noch nicht einmal einen Arzt.

Hatte er jemals irgendetwas Eigenes?

Plötzlich hatte er Szenen aus seiner Kindheit vor Augen. Er saß im Sandkasten. Mama holte ihn vom Spielen ab, und sie gingen mit Papa spazieren. Ein kleiner Welpe pisste in den Sand. Er hörte die Stimmen von seinen Eltern. Auch die Stimmen von seinen Spielplatz-Gefährten: Kurt und Helene. Helle Kinderstimmen. Onkel Karl und Tante Martha mit deren kleinen Fratz kamen leicht verschwommen ins Bild. Er sieht Felder, Wälder und grüne Wiesen. Er hört in der Ferne ein intensives Vogelgezwitscher. In seiner Nähe summen Bienen, während sie im Blütenstaub von Sonnenblumen duschen. Der Bach plätschert sanft über die schneeweißen Kiesel. Die grün-blau schillernden Libellen vollführen waghalsige Loopings und andere Kunststücke über den Köpfen der staunenden Frösche, die noch die schönste Zeit des Jahres vor sich haben: den Aufbruch der Zugvögel, also auch die Störche.

Erwin blickte zum Himmel. Nichts. Keine Wolke. Absolut nichts – Ruhe.

Plumps! – und: Platsch!

Paul ist von der Stange gefallen. In Erwins, mittlerweile kalten Kaffee.

›Er ist vermutlich auch eingeschlafen‹, denkt er. ›Gute Nacht, Paul!›Wieso eigentlich: AUCH eingeschlafen?

Wer schläft denn noch? Ist der Mensch in der Lage, während des Traumes festzustellen, dass er schläft? Ja! Er kann!

Erwin reißt es – und, er sitzt jetzt senkrecht im Bett.

Mein Gott, welch ein Albtraum. Das Herz schlägt geringfügig schneller als normal. Schweiß auf der Stirn. Die rechte Hand kribbelt. Das tut sie immer, wenn er diese unter seinem Kissen eingeklemmt hat, bevor er munter wird. Er merkt, dass auch sein linkes Bein etwas verdreht ist. Es ist etwas Schummeriges in seinem Hirn. Es heißt: Wenn du zu schlecht geträumt hast, dann hast du vorher zu gut gelebt (Quelle: unbekannt). Der Mund ist staubtrocken. Vielleicht sollte er sich doch angewöhnen, mit geschlossenem Mund zu schlafen. Heute ist Dienstag. Nein Mittwoch.

Es ist doch einerlei. Ein Blick zu Uhr: Es ist noch Zeit, der Weckalarm geht erst in zehn Minuten los. ›Was habe ich nur wieder Fürchterliches geträumt? Er erinnert sich nur dürftig. Ihm kommt noch ein bescheidenes Bild von einem Kanarienvogel oder Kakadu in den Kopf, und, dass er mit irgendjemanden reden wollte – oder musste. Aber mit wem und was?

Egal – jetzt hochkommen und ab zur Arbeit. Er geht gerne dorthin, arbeiten: Dort kann er auch heute wieder seine exzellente Rhetorik anbringen.

Im Callcenter.

ERWIN

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