Читать книгу Was haben Sie da Angerichtet - Ulrich Borchers - Страница 9
STRAGULA1 – ODER, DAS MONSTER AUS DER TIEFE
Оглавление„Hinten etwas länger!“
„Wie soll ich das denn machen? Extensions?“
„Quatsch, hinten ein wenig länger lassen, da habe ich einen Wirbel.“
Im Spiegel sehe ich, wie die junge Frisörin ein Gesicht zieht. Na und? Ich werde sowieso nicht wiederkommen. Momentan bin ich auf der Suche nach einem neuen Frisör. Zwangsläufig. Günter hat mir dreißig Jahre lang die Haare geschnitten. Nun ist er seit einem Monat in Rente. Nicht die einzige Neuausrichtung auf die ich mich einstellen muss. Vor einem halben Jahr hat zum Beispiel mein Arzt, den ich seit meiner Kindheit kannte, aufgehört zu praktizieren. Fürchterlich. Sein Nachfolger ist halb so alt wie ich und fing gleich an mit Tipps, wie ich meine Zukunft gesünder gestalten könnte. „Hab du erst mal Vergangenheit, bevor du hier schlaue Sprüche klopfst“, dachte ich mir. Ich finde das fürchterlich, dass sich plötzlich halbe Kinder um mein Wohlergehen kümmern. Mitte fünfzig bin ich plötzlich überall der alte Sack, auf den mitleidig geschaut wird.
„Also Jenny, asynchron ist wahrscheinlich zurzeit ziemlich angesagt, aber ich hätte die Haare auf beiden Seiten doch gern gleich lang.“
Jenny schmatzt beleidigt auf ihrem Kaugummi herum und hält mir die Finger an den Kopf, als ob sie mir ein Kaliber 36 reinjagen will. „Wieso? Ist doch gerade.“
Ich kapituliere. Mein Fehler, ich hätte schon gleich nach der Begrüßung aufstehen sollen. Als erstes hatte sie mich nach meinem Vornamen gefragt und was für einen Schnitt ich denn gerne hätte. Dann schmierte sie mit einem Filzer den Spiegel voll und las mir das Geschriebene wie einem Kleinkind vor. „Also Rainer, ich bin die Jenny. Du möchtest Kurzhaarschnitt ohne waschen, das macht 28 Euro.“
Na prima, doppelt so teuer wie bisher. Dafür windschief.
„Bekomme ich Rabatt, weil hinten nicht so viel abgekommen ist?“, frage ich. Das findet Jenny gar nicht witzig und begleitet mich schweigend zur Kasse. Ich gebe ihr trotzdem zwei Euro Trinkgeld, eben weil sie nicht mit mir geredet hat. Reine Dankbarkeit.
Ein letzter Blick in einen der Spiegel. Geht so, einigermaßen manierlich sehe ich aus. Immerhin. Ich treffe mich heute mit einer Frau. Da muss ich mir nämlich auch was Neues suchen. Vor einem Jahr hatte mir Frauke erklärt, dass sie sich weiterentwickelt hätte und ich mich nicht. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass sie sich hauptsächlich mittwochnachmittags weiterentwickelt hat. Und zwar immer mit meinem ehemaligen Kegelfreund Dieter. Dessen Frau Jutta war zeitgleich beim Yoga. Im Ergebnis gibt es nun vier Singles. Der Verlust Fraukes schmerzt mich schon lang nicht mehr, aber das Alleinsein belastet mich. Nicht so sehr, dass ich Fraukes Vorschlag auf Familienrückführung eingehe. Die soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Das mit dem Internetportal habe ich nur kurz ausprobiert. Es war mir zu anstrengend, mich alle vierzehn Minuten neu zu verlieben. Nur tolle Frauen mit mega Fotos und herausragenden inneren Werten. Gerade die hatten nie Zeit oder Interesse. Alles gefakt.
Einmal war ich mit einer Chorkollegin unterwegs. Die fast zwanzig Jahre jüngere Sabine hatte an mir Interesse gezeigt und irgendwie schmeichelte mir das. Ich habe sie dann auch glänzend unterhalten, sie kam aus dem charmanten Lächeln gar nicht mehr heraus. Erste Zweifel kamen bei mir auf, als ich von meinen Kindheitserinnerungen erzählte und das mir Stragula immer noch so präsent sei. „Hach“, sagte sie, „das kenne ich: Stragula, das Monster aus der Tiefe. Ich finde diese B-Movies aus den Sechzigern ja auch mega. Super Trash.“ Das nahm ich gerade noch so hin. Als sie im weiteren Verlauf auch noch anmerkte: „Toll, das liebe ich an alten Männern. Die haben immer etwas zu erzählen“, war bei mir Schluss. Sie hatte wirklich „alte Männer“ gesagt. Erst wollte ich ihr anbieten, sie im Kadett nach Hause zu fahren, aber ich brachte den Abend noch recht freundlich über die Runden. Völlig inkompatible Erfahrungszonen. Ich treffe mich nicht mehr mit Sabine.
Das aktuelle Treffen verdanke ich erprobter Technik. Kontaktanzeigen. Ich hatte gleich drei verschiedene geschaltet. Sicher ist sicher. Die Frauen, die sich auf alle gemeldet haben, sortierte ich gleich aus. Verzweifelt bin ich selber. Es fielen sowieso eine Menge durchs Raster. Auf meine intellektuell, philosophische Annonce „Yang sucht Ying“ antwortete zum Beispiel eine M. aus N.: „Ich esse auch gern chinesisch. Am liebsten 37 und vorher noch eine 5.“ Ne, also wirklich.
Einige Rückmeldungen hatte ich auch für „Männliche Couch, 53 mit Gebrauchsspuren möchte wieder Teil einer Sitzgruppe sein“. Die meisten rügten mich nur für meinen unterentwickelten Humor. K. aus Fl. wurde noch deutlicher: „Einen Couchpotato hatte ich schon. Solange du kein Bockspringbett bist, kannst Du von mir aus Staub ansetzen.“
Mit dem Klassiker hatte ich die besten Erfolge: „Mann, Anfang fünfzig, mit Vergangenheit aber ohne Altlasten, sucht lebensfrohe Gefährtin. Bin vielseitig interessiert, finanziell gut aufgestellt und achte auf innere Werte, ohne damit bei mir ungepflegtes Aussehen oder Jogginghosen zu entschuldigen. Ich freue mich auf Deine Zuschrift.“ Eigentlich nichtssagend, doch 35 Antworten sprechen eine eindeutige Sprache, genauso eine Ansage wollten die meisten hören.
Drei Stapel lagen am Ende vor mir. „Auf keinen Fall“, „Vielleicht“, „Engere Wahl“. Der dritte Stapel fiel mit drei Briefen sehr karg aus. Selbst bei dieser kleinen Auswahl nagten Zweifel an mir. Ich gab mir einen Ruck und der ebenfalls vielseitig interessierten Lilo aus G. eine Zusage für ein Treffen im Restaurant „Schöne Aussicht“. Irgendwie passend.
Jetzt sitze ich hier und habe die als Erkennungszeichen vorgeschlagene Sonnenblume vor mir stehen. Die nette weibliche Bedienung bietet mir schon die Karte an, was ich mit dem Hinweis, dass ich noch jemanden erwarte, dankend ablehne. Sie kommentiert es nur mit einem kurzen „Schade“. Bevor ich darauf reagieren kann, öffnet sich die Tür des Restaurants mit einem Schwung und die lebende Ausgabe des Erkennungszeichens kommt herein. Grünes Flatterkostüm, sonnengelb gefärbte Mähne mit darauf thronendem schwarzen Filzkäppi. Ich trage meinen neuen grauen Ralph Loren Pullover. Mit einem Blick hat sie mich entdeckt.
Sie stürmt auf den Tisch zu, beugt sich zu mir herunter, strahlt mich an und sagt: „Hallo Rainer, dass du schon eine Zeitlang ohne weiblichen Einfluss auskommen musst, sehe ich sofort. Hast dich angezogen wie zum Kirchengang. Na, das kriegen wir zusammen schon hin, was?“ Dann drückt sie der noch etwas erstaunt dreinblickenden Bedienung ihren grünen Umhang in die Hand, mit der Aufforderung ihn aufzuhängen, und entlässt sie mit der Bitte, bei der Rückkehr auch die vegane Speisekarte dabei zu haben, falls es so etwas hier überhaupt geben würde. Ich schaue ihr noch hinterher und frage mich, ob ich irgendwas Entschuldigendes sagen soll, als mich Lilo schon wieder in Beschlag nimmt: „Na Rainer, sprachlos? So wirke ich am Anfang immer. Lichtdurchflutetes Leben lässt Menschen, die in der Dunkelheit stehen immer erst mal erstaunt die Augen reiben. Ich werde dich schon bald mit Strahlen erfüllen.“ Dann drückt sie meine Hände und strahlt mich im Vorgriff darauf schon mal an.
„Hallo Lilo“, sage ich.
Ich ernte schallendes Gelächter. „Hach Gottchen, du bist ja herrlich. Ich sehe schon, du wirst ein spannendes Projekt. Aber keine Sorge, ich ziehe dich schon in das Leben. Komischer Laden hier, oder? Irgendwie piefig.“ Sie zieht sich einen Moment von mir zurück und holt aus ihrer Tasche einen Rosenquarz und Duftstäbchen und stellt sie auf den Tisch. „So, jetzt ist es etwas besser. Sag mal Rainer, wie bist du denn auf den Laden hier gekommen? Na lass man, du wirst durch mich die Richtigen kennenlernen.“
Inzwischen steht die Bedienung wieder mit den Speisekarten an unserem Tisch und um auch mal was zu sagen, schlage ich vor. „Sollen wir uns erst mal etwas bestellen, bevor wir uns weiter kennlernen?“
„Rainer, Rainer ich werde dich schon durch deine Bestellung kennen lernen“, entgegnet sie schelmisch grinsend. Zu der Bedienung sagt sie: „Vegane Karte ist nicht, oder? Habe ich mir gedacht.“
Ich rutsche auf meinem Stuhl herum und weiß nicht, was ich machen soll. Schließlich entscheide ich mich zunächst tatsächlich zu bestellen: „Steakteller bitte.“
Ein Aufschrei. „Das wird ja herausfordernder als ich dachte. Nein, bringen Sie uns bitte beiden je einen Kressesalat und die vier Nudelköstlichkeiten, bitte ohne Schinkenstreifen in der Soße.“ Dann strahlt sie mich wieder an und sagt: „Ich weiß, was dir gut tut.“
Ich strahle zurück: „Ich weiß das auch, Lilo. Und das hier gerade ganz bestimmt nicht. Ich nehme den Steakteller. Blutig bitte.“
Mit einem Ruck steht Lilo und faucht mich an: „Wieder so ein Würstchen. Einer der keine Partnerschaft sucht, sondern eine Haushaltshilfe, ein stummes Muttchen. Starke Frauen unerwünscht. Von mir aus. Mach doch weiter in deinem Soloprogramm.“ In Sekunden schnappt sie sich Rosenquarz, die Duftstäbchen und den Umhang und ist verschwunden.
„Was war das denn?“, fragt die Bedienung kopfschüttelnd.
„Pflanzenschutzmittel trifft auf Sonnenblume. Jetzt wo sie weg ist, hätte ich mein Steak doch lieber medium.“
„Ich werde den Koch bitten, es auf den Punkt perfekt zuzubereiten“, antwortet sie und blinzelt mir zu.
Ich schaue ihr hinterher und stelle fest, dass es mir in der Schönen Aussicht gefällt. Das anschließende Mahl unterstützt diesen Eindruck. Die präsentierte Rechnung lässt es sogar noch zu einem perfekten Tag werden. Die nette Bedienung lehnt mein großzügiges Trinkgeld ab und bittet mich stattdessen einen Blick auf die Rückseite zu werfen. Sie ist so schnell verschwunden, dass sie mein grinsendes Gesicht nicht mehr erlebt, als ich lese: „Bin giftresistent. Weiteres kannst du herausfinden, wenn du folgende Nummer wählst.“ Ich schaue mich nach ihr um, aber sie ist nicht mehr zu entdecken. Noch beim Verlassen des Restaurants speichere ich die Nummer im Handy ab.