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Henriette

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Ich hätte viel zu erzählen von meinem Jahr auf See. Und das werde ich auch noch. Vielleicht wird es ein Buch füllen, wer weiß … Mir hat es jedenfalls so viel gegeben, dass ich mein Leben lang davon gut haben werde. Ein Schatz, den ich entdeckt und geborgen habe. Ein Schatz, der mich bis an das Ende meines Lebens reich bleiben lässt.

Heute erzähle ich aber die Geschichte Henriettes. Die unglaublichste Geschichte meiner einjährigen Segelreise. So unglaublich, dass meine Freunde sie für Seemannsgarn halten. Doch ich weiß, was ich erlebt habe.

Sabbatjahr. Ich hatte schon immer auf mein großes Ziel gespart. Ein halbes Leben lang hatte ich Bücher von Weltumsegelungen verschlungen. Mein großer Traum. Aber, wer nur träumt, wacht niemals auf. Für die Rente hatte ich es mir vorgenommen. Eines Tages dachte ich mir: „Jetzt habe ich meinen 50-jährigen Geburtstag schon in Sicht. Es geht mir gut. Wird es nicht Zeit aufzuwachen? Meinen Traum zu leben?“ Da ich auf niemanden Rücksicht nehmen musste, zauderte ich nicht lange, sondern sagte eines Tages laut zu mir selbst: „Ja, es ist Zeit!“ Passanten drehten sich verwundert zu mir um. Egal. Ich hatte die Entscheidung meines Lebens getroffen.

Freunde, Verwandte, Kollegen und mein Arbeitgeber schüttelten den Kopf. Sabbatjahr. Damit würde ich mir eine hervorragende Aufstiegschance in der Firma verbauen. Na und? Wer hoch steigt, kann tief fallen und dann werde ich vielleicht weder Lust noch Kraft haben, diese Reise anzutreten. Und so entschied ich mich. Ich wollte in diesem Jahr nicht die Welt umsegeln, aber einen großen Teil davon. Von Kreta bis in den Südpazifik sollte es schon reichen, dort wollte ich mir ein wenig Zeit lassen. Kreta, New York, St. Thomas, Samoa. Nur Paul, der glaubte an mich. Seine Unterstützung ging allerdings weiter, als ich es mir gewünscht hätte. Er hatte mich nach Kreta begleitet, wo mein neues Segelboot ausgerüstet lag. Paul hatte die letzten Tage mit mir verbracht und hatte nun, als es losging, ein ganz besonderes Präsent für mich.

„Hallo Hauke, ich habe Dir eine Begleiterin besorgt. Sie heißt Henriette. Ich weiß, was Du brauchst!“

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Da stand mein bester Freund und hatte mir eine Begleiterin besorgt. Ja, spinnt der denn? Ich hatte mich nach persönlichen Enttäuschungen zum Einsiedler entwickelt, mir stand nicht mal nach einer Beziehung der Sinn und jetzt sollte ich mir so was aufhalsen.

Paul sah mein entsetztes Gesicht und hob beschwichtigend die Hände: „Ich weiß, was Du sagen möchtest, aber keine Widerrede. Du musst und kannst Dich nicht mit ihr unterhalten, sie stört nicht, sie wird für Dein Frühstück sorgen und ich habe Dir lang und breit erklärt, warum Du jemanden wie sie an Bord haben musst. Griechisch kann ich nicht, deshalb nenne ich sie Henriette.“

„Wo hast Du sie überhaupt her“, fragte ich ihn.

„So eine kriegt man hier an jeder Ecke. Sie kommt vom Land.“

„Mensch Paul, ich weiß nicht.“

„Ne, Hauke keine Diskussion. Vertraue Deinem Freund. Du weißt, Du kannst es mir nicht abschlagen und auf Deinem Zehn-Meter Schiff wird ja noch genug Platz sein.“

Ich bin ein schwacher Mann. Zumindest kann ich einem Freund nichts abschlagen. Henriette ging wie selbstverständlich an Bord. Ich segelte los, winkte Paul, verdrückte eine Abschiedsträne und sah mit einem skeptischen Blick auf Henriette, die teilnahmslos an Bord rumlief. Na, das kann ja was werden, dachte ich mir. Aber bald war ich erfüllt mit Glück. Endlich, es ging los.

Von Kreta westwärts 580 Meilen Richtung Malta. Ich genoss es, unterwegs zu sein. Meinen Traum zu verwirklichen. Bei schönem Wetter trieb sich Henriette an Bord herum und bei schlechtem war sie flugs unter Deck. Überall hinterließ sie ihren Dreck, sodass ich hinter ihr herräumen musste. Für das Frühstück sorgte sie tatsachlich, aber das war es dann auch. Es fiel mir doch schwerer als gedacht, allein an Bord zu sein, aber sie reagierte nicht, wenn ich sie ansprach. Ein kurzer Blick und ansonsten ignorierte sie mich. Was hatte sich Paul bloß gedacht. Die Monatskarte versprach gutes Wetter und die Zusage wurde nicht gebrochen. Auch die letzten 350 Meilen bis Gibraltar verbrachten meine Begleiterin und ich bei besten Wetterverhältnissen. Doch ich musste zugeben, Henriettes Ignoranz kränkte mich. Das war ich nicht gewohnt.

Der Atlantik sollte alles ändern.

Nachdem wir die Südküste Portugals passiert hatten, lagen die Bermudas 2000 Meilen vor uns. Nach drei Tagen schwächlichen Windes ging es los. Ein Albtraum erwartete uns auf dem schlecht gelaunten Ozean und wir verkrochen uns gemeinsam unter Deck, um dieses Höllenfeuer zu überstehen. Inzwischen ärgerte mich Henriettes Anblick und ich sah in ihrer stummen, alles durcheinander bringenden Art die Schuld für meine missliche Lage. Als der Sturm am dritten Tag endlich einschlief, war ich voller Wut. Und dann passierte es.

Henriette bemerkte auch den Sonnenschein und die ruhige See am Morgen und stürmte an Deck. Zu schnell. Sie rutschte über das nasse Deck und landete in Sekundenschnelle im Wasser. Sie schlug wie wild um sich und ja, sie schaute mich zum ersten Mal an. Fast flehend. Und ich? Ich überlegte, ob es nicht besser so wäre und ich einfach weitersegeln sollte. Da hörte ich hinter mir ein Geräusch. Und das Folgende wollen mir meine Freunde nicht glauben, aber es ist wahr.

Ich drehte mich um und da saß er. Er trug einen Südwester, aber seine roten Haare quollen darunter hervor. Die Pfeife lässig im Mundwinkel packte er seine Sachen in die große Seemannskiste, die vor ihm stand. Seinen Hammer hatte er zu diesem Zweck auf die Seite gelegt und unterbrach seine Tätigkeit nur, um sich kurz grüßend mit zwei Finger an die Stirn zu tippen. Der Klabauter. Er packte. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn er ein Schiff verlässt.

Ich zögerte nicht, und segelte eine Wende. Henriette war aufgrund der stillen See immer noch auf Sicht. Sie schlug um sich und als ich sie nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte, schien sie ihre Kraft zu verlassen. Ich sicherte mich und ließ mich über Bord hängen, schnappte sie mir mit einem Ketscher und schleuderte sie an Deck. Da stand sie nun und flatterte wie ein aufgeregtes Huhn. Naja, schließlich ist sie auch eins. Womit hatte mir Paul in den Ohren gelegen? Nach jedem alten Seemannsbrauch gehört ein Huhn zur Abschreckung des Klabautermannes an Bord. Ich schaute ihn an. Er lächelte, nahm seinen Hammer und seine Seemannskiste und ging wieder unter Deck. Henriette, das nasse Huhn, schaute ihm teilnahmslos hinterher. Dann kam sie zu mir und strich mir um die Beine, wie eine Katze. Ich war gerührt.

Sie hat mich dann noch bis in die Südsee begleitet. Viel haben wir erlebt in diesem Jahr und sie hat mir sogar geholfen, meine Beziehungsangst zu überwinden. Natürlich nicht mit Henriette sondern mit Sandy, die ich in New York kennengelernt habe. Kein dummes Huhn, sondern eine liebevolle Australierin. Aber das ist eine andere Geschichte.

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