Читать книгу Geschichten sind überall zu Hause - Ulrich Borchers - Страница 7
Welcher denn nun?
ОглавлениеZählen ist einfach. Eins, zwei, drei … wo ist das Problem? Habe ich als Kind gedacht.
Vom ersten Kuss erzählen, und schon stehe ich im Regen. Welcher war denn für mich der erste?
In der Tradition meiner ersten Zählversuche käme er von meiner Mutter. Zärtlich, liebevoll hat er mir mein Urvertrauen geschenkt: Alles ist gut! Aber zählen Mütter beim Küssen? Vielleicht käme meine Oma in Betracht. Nur, ich erinnere mich ungern an diesen riesigen feuchten Mund, der sich mir bedrohlich näherte. Nicht immer gelang es mir, meinen Kopf rechtzeitig beiseite zu drehen. Gewässert begriff ich zwar geliebt zu werden, nur gemocht habe ich es nicht.
Also kommen wohl eher nichtverwandte Geschöpfe des angehimmelten Geschlechts in Betracht. In meinem Fall Mädchen. Damit kommt Jutta ins Spiel. Nett, kumpelhaft, burschikos, war sie die erste aus dieser Gruppe, die ihre Lippen auf meine drückte. Wahrheit oder Pflicht haben wir am Strand gespielt und die Aussicht, die Wahrheit zu erzählen, erfüllte mich mit solcher Panik, dass ich mich für Pflicht entschied. „Jutta mindestens zehn Sekunden lang unter Wasser küssen!“, lautete der Auftrag. Schon zweifelte ich an meiner Wahl. Während ich todesmutig, aber besorgt auf das Wasser zuging, entdeckte ich bei Jutta eine gewisse Vorfreude. Sie hüpfte dem Nass regelrecht entgegen. Hatte ich da was verpasst? Unter Wasser wurde ich nicht nur das erste Mal von einem Mädchen geküsst, sondern begriff auch die Funktionsweise eines Staubsaugers. Ich war froh, meine Zunge behalten zu dürfen. Soll das der erste Kuss gewesen sein? Nein, zählen ist schwierig.
Und wenn ich mich für die Wahrheit entschieden hätte? Vielleicht hätte ich meine Liebe zu Ute gestehen müssen. Was wäre dann passiert? So zog ein halbes Jahr ins Land bevor ich Ute küsste. Küsse sind keine Erbsen, die sich ja anscheinend hervorragend zum Zählen eignen. Sie sind etwas Besonderes, etwas Aufregendes, etwas Tolles, etwas Schönes … etwas, was Dich verändert. Nachdem ich Ute geküsst hatte, war ich verändert. Ein halbes Jahr lang werben und vor Schüchternheit sterben und sich seiner unsterblichen Liebe sicher zu sein, fand endlich seine Erfüllung. Hand in Hand am Strand, an dem mich Jutta sechs Monate zuvor fast ausgesaugt hätte, zitterte ich fast mehr vor Aufregung als vor Kälte. Und kalt war es. Saukalt! Aber als sich unsere Lippen trafen, spürte ich die Kälte nicht. Ich war auch nicht mehr aufgeregt. Glückselig, wie man sich nur bei seiner ersten Liebe fühlt.
Danach gab es noch andere Küsse: Leidenschaftlichere, erotischere, verbotene, erhoffte, befürchtete, endgültige … aber: Doch, zählen ist einfach.
Ute, das war mein erster Kuss.