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Alte Liebe rostet nicht

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Manchmal denke ich an meine Kindheit. Da war noch alles gut. Tochter aus gutem Haus, „gutgewachsen“, wie meine Mutter sagte, und klug, sogar gescheit, nicht schön, aber hübsch. Vielleicht ein wenig zu ernsthaft doch mit keiner dieser negativen Eigenschaften versehen, die jungen Mädchen allzu gern unterstellt werden. Ich war weder zickig noch albern. Eine gewisse Selbstverliebtheit will ich mir nicht absprechen, aber ist es zu verurteilen, wenn man sich seiner guten Eigenschaften bewusst ist? Ich sehe mich noch vor dem großen Spiegel in unserer Diele um die eigene Achse drehen. Beim Anblick meines Bildes dachte ich: „Der wird einmal Glück haben, der dich abkriegt!“ Während mein Vater seine kleine Prinzessin in ihrem Glauben bestärkte, sah mich meine Mutter zunehmend kritisch an.

„Vergiss bei der Suche nach dem Richtigen nicht, ausreichend Spaß mit den Falschen zu haben“, riet sie mir eines Tages.

Das fand ich unmöglich. Nein, ich wollte nicht den Ersten, ich wollte den Besten. Nicht, dass es keine Interessenten gab. An meiner Schule gab es genug pubertierende Jünglinge, die in ihrem testosterongeschwängerten Übermut all ihre Schüchternheit über den Haufen warfen und mich todesmutig ansprachen. Freundlich aber bestimmt machte ich sie darauf aufmerksam, dass sie zwar ganz nett wären, meiner Idealvorstellung eines Freundes aber leider so überhaupt nicht entsprächen. Unfreundlich und sehr bestimmt setzten sie daraufhin andere darüber in Kenntnis, dass ich eine eingebildete Kuh wäre. Ab dann wurde alles schlecht.

Ich hatte ein- oder zweimal zu oft junge Himmelsstürmer abblitzen lassen. Die vergnügten sich mit ihren albernen, zickigen Freundinnen und amüsierten sich gemeinsam über die Jungfer Frauke. Viele junge Männer halten sich für Prinzen, verhalten sich aber nicht so. Wer begibt sich schon in Gefahr und tötet den Drachen, um sich dann von dem Burgfräulein anhören zu müssen: „An sich hatte ich jemanden anderen erwartet!“ Das Brandmal war gesetzt, der Makel haftete mir an. Wie Pech klebte er an mir, sodass jeder Mann die Finger von mir ließ, um sie sich nicht zu verbrennen. Ende zwanzig hatte ich weder mit dem Richtigen noch mit den Falschen auch nur irgendeine Art von Spaß. Ich war nicht verklemmt und hatte mich auf dem Gebiete der Theorie zu einer wahren Fachfrau entwickelt. Doch sexuelle Erfahrungen hatte ich nur durch mich selbst, was mich noch mehr beschämte, als das es mich traurig machte.

Ich beschloss umzuziehen. Weg aus der anonymen Großstadt Hamburg in das verträumte, kleinstädtische Flensburg. Hier wollte ich mich ändern, das Brandmal herausschneiden, den Spaß suchen, egal mit wem und auf welche Art und Weise.

Vor sich selbst kann man nicht fliehen.

Fünf Jahre später sah es bei mir immer noch nicht anders aus. Zwar wurde ich angesprochen, es gab ernsthafte Anwärter, aber ich konnte den Mantel der Keuschheit nicht ablegen. Sie waren allesamt Frösche für mich. Bei keinem von ihnen versprach ich mir die erhoffte Verwandlung. Ach, wenn es doch nur so gewesen wäre, stundenlang hätte ich sie geküsst, wenn am Ende dann doch der erträumte Prinz vor mir gestanden hätte.

Und dann kam Tom.

Allein schon dieser Name. Kein abgekürzter Thomas, nein ein echter Tom. Wie gerne hätte ich bei seiner Frage nach meinem Namen geantwortet: „Kim.“ Sally oder Su wäre auch noch gegangen, aber ich brachte nur heraus: „Frauke.“ Zu meiner Überraschung blieb dieser blendend aussehende, charmante Tom stehen, lächelte mich mit seinen smaragdfarbenen Augen an und sagte: „Und was für eine Frau!“ Ich schmolz dahin. Es gibt Momente der Sicherheit, in denen du dir der Glückseligkeit so bewusst bist, dass du bedenkenlos ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springen würdest. Was kann dir passieren? Alles ist gut und wird es bleiben. Dein Schicksal hat sich erfüllt.

Der Anfang unserer Beziehung war wunderbar. Toms Mittellosigkeit störte mich nicht. Einen reichen Mann hatte ich nicht gesucht und ich verdiente genug für uns zwei. Wir wohnten in einer schönen Wohnung in Jürgensby mit herrlichem Blick auf die Förde. Das Bett hatten wir direkt ans Fenster gestellt. Seine Nähe und Zärtlichkeit war berauschend. Er war überrascht, dass er meine erste Erfahrung war, doch nach kurzer Verunsicherung gefiel es ihm, mein Lehrmeister in diesem für mich neuen Fach zu sein. Ich genoss es, lernte eifrig und lag erschöpft und glücklich in seinen Armen. Tom zog an seiner Zigarette und schaute mit mir auf den Hafen. Ich war glücklich.

Wir gingen immer Hand in Hand die Sankt Jürgen Treppe herunter und schlenderten durch Flensburgs Innenstadt. Eines Tages überraschte ich ihn mit einem kleinen roten Vorhängeschloss, in das ich unsere Namen und ein Herz eingraviert hatte. Ich hatte von dieser neuen Sitte gehört, die in einigen Städten schon weit verbreitet war und war ein wenig stolz, die erste Liebesschloss-Treppe in Flensburg einzuweihen. „Ich finde das mit dem Schloss sehr passend. Ich bin die Prinzessin und Du der Prinz.“ Leuchtend rot prangte es jetzt als erstes dieser Liebesschlösser am Geländer am oberen Punkt der Sankt Jürgen Treppe.

„Das mit dem Prinzen gefällt mir“, sagte Tom lächelnd.

Misstrauisch wurde ich erst später.

Es fing an mit kleinen Bemerkungen meiner Kolleginnen. Typischerweise sind Frauen neidisch wenn es Konkurrentinnen, also anderen Frauen, zu gut geht. Ich ignorierte es daher. Allerdings nur eine Zeitlang. Tom war tatsächlich auffallend oft unterwegs und nicht nur während ich arbeitete. Er war als Künstler schon lange arbeitsuchend, aber der Markt schätzt so kreative Menschen nur bedingt. Sagte Tom jedenfalls. So müsste er auch zu ungewöhnlichen Zeiten unterwegs sein. Und dann diese Telefonate, die abrupt endeten wenn ich abnahm. Entweder war gar nichts zu hören oder lediglich ein schnelles „Oh, falsch verbunden“ einer jungen Frauenstimme. Irgendwann begann ich ihm nachzuspionieren.

Um zu sehen, musst du die Augen öffnen; es ist erstaunlich, wie lange Frauen in Beziehungen ihre verschließen. Zettel mit unbekannten Telefonnummern, Hemden, die nach fremdem Parfüm rochen, kleine Briefchen, fehlende Lust. Ich konnte mir sicher sein, doch immer noch hoffte ich, mich zu irren. Schließlich folgte ich ihm heimlich und sah ihn mit einer Blondine in den Eingang einer Wohnanlage verschwinden. Völlig aufgelöst lief ich zurück in unsere Wohnung und riss all seine Sachen aus den Schränken. Ich fand versteckt unter seinen Shirts eine aktuelle Vaterschaftsklage. Die Blondine war offensichtlich nur eine von vielen. Völlig verzweifelt ließ ich mich auf den Boden fallen und meinen Tränen freien Lauf. Dann traf ich eine Entscheidung.

Als Tom zurückkam, hatte ich bereits die Wohnung gekündigt und Sachen gepackt. Hier wollte ich nicht mehr leben. Jeden Tag in einer Umgebung, die mich an ihn erinnert? Nein danke! Ich teilte ihm mit, dass er vier Wochen Zeit hätte die Wohnung zu räumen und sich was Neues zu suchen, dann würde ich zurückkehren, um meine verbliebenen Sachen zu holen. Erst stritt er alles ab, aber als ich ihm die Vaterschaftsklage unter die Nase hielt, veränderte sich sein Verhalten.

„Was willst Du alte Jungfer eigentlich? Ich habe Dich doch erst leben lassen. Bist mit den paar Prozent, die Du von mir hattest, doch nicht schlecht gefahren.“

Ich ließ ihn wortlos stehen und hörte ihn nur hämisch hinter mir her lachen. „Das wirst Du noch bereuen“, rief er mir hinterher.

Dass er damit nicht die Beziehung meinte, merkte ich, als ich mit den Arbeitern des Umzugsunternehmens vier Wochen später die Wohnung betrat. Ein Schlachtfeld. Alle meine Sachen waren zerstört oder beschmutzt und lagen in der Wohnung zerstreut. Fernseher und Anlage waren nicht mehr da. Die Männer, die mich begleiteten, schüttelten nur den Kopf. Heil geblieben war allein ein Foto Toms, das auf der Fensterbank drapiert war und auf dem er mich mit seinem Schauspielerlächeln anstrahlte. „Sollen wir die Polizei rufen?“, fragten die Umzugsunternehmer.

„Ach was“, sagte ich bloß. „Fahren Sie alles auf den Müll und nehmen Sie das Foto mit.“ Ich nahm den Rahmen mit dem Bild meines ehemaligen Prinzen in die Hand und zischte es an: „Ich wünsche mir, dass Du Dich wieder in den Frosch verwandelst, der Du bist. Nie wieder soll eine Frau auf Dich hereinfallen.“ Dann gab ich den Männern den Schlüssel und machte auf dem Absatz kehrt. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich wegen Tom weinen würde.

Über zehn Jahre ist das jetzt her und ich bin seit diesem Tag wieder das erste Mal in Flensburg. Der Liebe wegen. Ich habe mit einem Hans mein Glück gefunden. Ein kleines, stilles Glück. Es macht mich froh. Er wechselt beruflich nach Flensburg und ich habe ihm gesagt, dass ich die Wohnung aussuchen werde, da ich mich dort auskenne. Er vertraut mir und so bin ich allein unterwegs und habe für uns eine tolle Penthouse-Wohnung mit Blick auf den Hafen gefunden. Jetzt stehe ich wieder oben an der Sankt Jürgen Treppe und schaue auf die Hunderte von Schlössern, die inzwischen hier angebracht wurden. Von wegen „alte Liebe rostet nicht“. Das Rot an unserem Schloss schimmert zwar noch durch, aber die Namen sind kaum zu lesen. Wieviel enttäuschte Lieben hier wohl noch hängen? Oder gab es glücklichere Fügungen als für mich damals?

Ich gehe die Treppe hinunter in Richtung Stadt und bewundere die Gärten, die beidseitig angelegt wurden. Kleine grüne Oasen mitten in der Stadt, fast wie kleine Parks. Bänke laden zum Verweilen ein und jetzt im April zeigt sich schon das erste zarte Grün. Sogar ein kleiner Teich wurde angelegt und als ich ihn mir näher betrachte, traue ich meinen Augen kaum. In dem kleinen Teich, der kaum so groß ist, wie meine zukünftige Küche, tummeln sich hunderte von Fröschen, die fast alles Wasser verdrängen. Unglaublich, so etwas habe ich noch nie erlebt. Alle sind sie ausgewachsen und finden kaum Platz. Teilweise sitzen sie aufeinander und buhlen quakend um die große Liebe. Ich blicke fasziniert auf dieses überquellende Leben, als mich plötzlich die smaragdfarbenen Augen eines Frosches anstarren. Er hat sich auf einen Stein gesetzt und schaut mich flehend an.

Es ist eine gute Entscheidung nach Flensburg zurückzuziehen in die Nähe der Sankt Jürgen Treppe. Ich gehe in die Knie und beuge mich vor zu dem einzelnen Frosch auf dem Stein und komme ihm ganz nahe. Er schließt die Augen und spitzt so gut es geht sein Froschmaul. So kann er nicht sehen, wie ich wieder aufstehe und hört nur meine Worte: „Tschüss dann Tom. Wir werden uns jetzt öfter sehen!“

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