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Kapitel 1

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Leon Petrollkowicz war schon auch ein Verehrer des anderen Geschlechts. Wenn er auf der Königsallee in Düsseldorf den mehr oder weniger betuchten jungen Damen an den warmen Sommertagen einen frivolen Gedanken zuwarf, wenn er an der Universität von Nischnij Nowgorod mit hübschen Rus­sinnen parlierte, wenn er am Strand von St.Tropez mit den wunderschönen Evas baden ging, dann tauchte er zu gerne in den Wonnen der Weiblichkeit unter, dann verehrte er für viele Augenblicke das andere Geschlecht mehr als sich selbst, dann hätte er ganz in Nächstenliebe aufgehen können.

Aber im Grundsätzlichen fiel sein Urteil über das andere Geschlecht ganz anders aus. Auch Frauen sind Menschen, sag­te er öfters, und meinte das gar nicht so unernst. Zwar hielt er sich gerne an die positiven Seiten einer Beziehung, doch wenn es zu Störungen kam, dann sah er sehr schnell typisch weibli­che Eigenschaften als die wahren Ursachen an. Er reflektierte dann gerne die Urteile gescheiter Männer und zitierte Strind­berg, Nietzsche, Schopenhauer, Wedekind oder Weininger, die schon manchmal auch Unfreundliches über die Frauen gesagt hatten. Nach seiner unmaßgeblichen Meinung, wie er beschei­den zugab, habe die Frau nur ein Bestreben, durch einen Mann glücklich zu werden, ihn zu lieben, ihn zu bewundern und ihn als Vorbild zu nehmen. Er selbst sei schon bereit, den Frauen dabei zu helfen, müsse sich dann aber an dem spezifisch Weib­lichen reiben, an der Unberechenbarkeit, an der Unlogik, an der diffusen Gefühlswelt, kurzum, seine Männlichkeit erlaube es ihm nur bis zu einem bestimmten Grade, sich mit dem ande­ren Geschlecht auseinanderzusetzen. Ihm reichten schon die vielen kleinen, für ihn typisch weiblichen Randerscheinungen des Alltags. Da war seine Lebensgefährtin Anna. Wenn er mit ihr ausging, musste er in aller Regel spätestens an der dritten Querstraße umkehren, weil der Herd oder das Bügeleisen viel­leicht nicht ausgeschaltet waren. Sobald sie in den oder aus dem Wagen stieg, fiel in der Regel ein Gegenstand auf die Stra­ße, der sich nicht so leicht wiederfinden ließ. Und dann die Lust auf Äußerlichkeit: Auch wenn es noch so kalt war, wurde nur das Notwendigste angezogen, weil sich die unerträgliche Leichtigkeit des Seins auch in der Kleidung widerspiegeln mus­ste.

Leon Petrollkowicz monierte aber auch zu Hause viele Kleinigkeiten. Wenn er früh aufstand, zog er als Erstes alle Rollläden hoch. Unterhalb eines Rollladengurtes war ein Tischchen, auf dem eine wackelige Stele in Form eines filigra­nen schwarzen Körpers stand – der Geniestreich einer Künst­lerin. Wenn man auch nur an dem magersüchtigen Mame­lucken vorbeihauchte, flog er herunter. In den anderen Zim­mern standen Blumen, auch Kakteen, oft gerade da, wo man ständig entlang gehen musste. Manchmal flog eine Vase um, manchmal fuhr ein Kaktus seine Stacheln aus. Selbst auf der Toilette stand vor dem Fenster noch eine wohlriechende Blu­me. Wenn man lüften wollte, musste man sich erst sehr um­ständlich von dem sperrigen Duftspender befreien. Im Gang neben dem Telefon stand eine Tischlampe mit einem viel zu großen Schirm. Wenn man zum Telefon raste, fiel nicht selten die Lampe herunter. Im Laufe der Zeit nahm der Leuchtkörper bizarre Formen an. Aber warum sich wegen dieser Bagatellen den Kopf zerbrechen. An solche, aus männlicher Sicht nicht immer verständliche Unebenheiten auf der Oberfläche des häuslichen Sperrguts gewöhnt man sich im Laufe der Jahre. Warum sich beklagen?

„Sehr richtig, Leon Petrollkowicz“, pflichtete ihm einer sei­ner gescheiten Freunde bei. „Die Frauen wollen es sich und uns doch nur schön machen. Das Funktionale steht dabei nicht immer im Vordergrund. Meine Frau hatte zum Beispiel auf ihrer Kommode im Schlafzimmer neunundneunzig Par­fümflaschen stehen. Bei der hundertsten knallte der Cham­pagnerkorken. Wann würde ich sonst jemals im Schlafzim­mer ein solch prickelndes Erlebnis haben?“ „Es gibt“, so sagte er dann weiter zu Leon, „nicht nur unsere Sicht der Dinge, auch wenn nur diese uns plausibel erscheint. Liebe heißt, dem Weiblichen nicht immer gleich den Stempel unseres Verständ­nisses aufdrücken zu wollen. Selbst in der Quantenmechanik, die auf der Unschärferelation beruht“, sagte der Freund zu Leon und entschuldigte sich für den weit hergeholten Ver­gleich, „kommt man neuerdings zu ganz verblüffenden Er­kenntnissen. Jahrzehntelang war man davon überzeugt, dass die kleinsten aller Teilchen genau definierbare Positionen und Geschwindigkeiten einnehmen. Aber selbst Einstein irrte hier. Bei einem bestimmten System mit gleichen Anfangsbedingun­gen erhält man bei der gleichen Messung einmal das Ergebnis A, einmal das Ergebnis B. War Gott ein weibliches Wesen, das ein Element der Unvorhersagbarkeit oder Zufälligkeit in unsere Welt einführte? Ist es nicht verblüffend, dass Wellen auf Wellen nicht zu stärkeren Wellen führen müssen, sondern dass sich diese Wellen auch gegenseitig aufheben können? Dieses Phänomen der Interferenz haben wir auch im zwi­schenmenschlichen Bereich. Wir meinen, alles kann nur in einer bestimmten Richtung definiert werden, wobei manch­mal genau das Gegenteil ebenso richtig oder zumindest anders ist, als wir glauben annehmen zu müssen.“ Der Freund von Leon war sehr schlau.

Leon Petrollkowicz überlegte. Dieser Mensch kam mit Ver­gleichen an, mit denen er wenig anfangen konnte. Er wollte gerne auf jede Unschärferelation verzichten, wenn er an das Weibliche dachte. Aber warum alle diese Überlegungen? Wa­rum musste er sich permanent mit diesem Thema auseinan­dersetzen?

Leon Petrollkowicz hatte ein Problem. Er liebte Frauen, aber er litt auch unter ihnen. Am schlimmsten erging es ihm in seiner Firma. Er hatte öfters Meinungsverschiedenheiten mit einer erst kürzlich eingestellten Geschäftsführerin, die ihm, dem Inhaber eines mittelständischen Unternehmens für Pu­blic Relations und Marketing mit dem Firmennamen „Public Petrollcowicz“, an manchen Tagen das Leben schwer erträglich machte. So auch heute wieder. Er war mit dieser Frau wieder einmal aneinander geraten und hatte deshalb schon etwas vor seiner üblichen Mittagspause fluchtartig das Büro verlassen. Bei dem Versuch, sich in den Straßen von Düsseldorf abzu­lenken, ließ er sich nicht nur von den Schaufenstern in den Einkaufsstraßen beleben, sondern auch von kleinen Begeben­heiten und Zwischenfällen, von dem Treiben in den Straßen­cafés und vom Flair des bunten Völkchens auf den Bürger­steigen. Immer, wenn er beruflichen Ärger hatte, suchte er im städtischen Treiben Zerstreuung: Manchmal spielte irgendeine Straßenband, suchte die Heilsarmee nach Gutgläubigen, ver­suchte sich ein Pantomime in der Körpersprache oder warf ihm ein weibliches Wesen einen freundlichen Blick zu. Endlich die Kehrseite des manchmal so tristen Umgangs mit dem anderen Geschlecht. Auf der Königsallee, der Prachtstraße von Düssel­dorf, konnte er den Duft, die Schönheit, die Grazie, die Erotik der Frauen genießen, vielleicht nur deshalb, weil er keinen un­mittelbaren Kontakt mit ihnen hatte. Je unverbindlicher der Umgang mit ihnen, umso leichter trieb es seine Gedanken in luftige Höhen, wo er endlich nachempfinden konnte, warum Geschichtsschreiber, Poeten, Minnesänger oder Marktschreier dem weiblichen Geschlecht auf jeweils ihre Weise huldigten. Leon Petrollkowicz war kein Historiker und kein Homme de lettres, aber er las gelegentlich die neuen und alten Klassiker und verharrte immer dann, wenn es um das besondere Rol­lenbild der Frau ging. Sie war seit einer Ewigkeit Göttin und Preis für alles. Schon im ersten Gesang der Ilias erscheint das Weib als Belohnung für den Sieger im Spiel oder im Krieg. Nur der Mutigste und Geschickteste erhielt als höchsten Lohn die Schönste. Heute ist man in den Preisen wesentlich prosa­ischer. Geld, viel Geld für ein gewonnenes sportliches Event oder für ein paar richtige Antworten im Fernsehen.

Wie anders war es doch in den glanzvollsten Epochen der früheren europäischen Geschichte. Aber natürlich wurde nicht jede Frau auf den Schild des Ritters gehoben, sondern nur das bezaubernde Wesen, das in den Träumen der Männerwelt eine größere Realität besaß als in den stickigen Spinnstuben des Alltags. In Chateaubriands „Martyrs“ wird von einem Feld­herrn erzählt, der sich dem Flimmermeer der Sterne hingibt und plötzlich von einem goldenen Etwas geblendet wird, ei­ner Priesterin, die ihn mit langem blonden Haar umwallt – Veleda, die edle Druidin. „Weißt du“, fragt sie den edlen Rit­ter, „dass ich eine Fee bin?“ „Eine richtige Fee?“, fragt dieser. Sieh an, sagte Leon Petrollkowicz zu sich, obgleich eine Fee höchstens in Gedanken oder virtuell vor uns stehen kann, er­scheint sie dem Helden als reales Wesen. Phantasien können so stark sein, dass sie uns wirklich erscheinen und plötzlich die manchmal so raue Wirklichkeit erträglicher machen.

Leon Petrollkowicz träumte und verwob diese Gedanken mit den Eindrücken des Augenblicks. Die Boulevards erschie­nen ihm wie ein Glacis vor monumentalen Einkaufsburgen, aus denen pappmascheegeformte Glamourgirls und Dressmen ihre Arme durch die Schaufenster streckten, um den Kunden in ein Paradies von käuflichen Großartigkeiten zu locken. Oft erlag er den Verführern, manchmal schenkte er ihnen kauflü­sterne Blicke, jetzt aber zeigte er sich standhaft, weil ihn ein Knurren in der Magengrube nur in eine Richtung drängte. Er ging wie immer zu einer kleinen Imbissbude gegenüber ei­nem Kaufhaus in der Schadowstraße. Schon von weitem sah er die lange Schlange der Hungrigen, die in aller Regel nicht nach einer Bratwurst anstanden, sondern nach einer großen Folienkartoffel mit Quark. Man bekam diese Köstlichkeit in einen facionierten Pappkarton eingepackt, um dann entwe­der an einem der kleinen Stehtische oder an einem anderen Ort mit einer Plastikgabel und einem Plastikmesser zur Tat zu schreiten. Leon Petrollkowicz reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Er nutzte immer diese zehn oder fünfzehn Minuten, um seine Studien vor Ort zu treiben, die er manch­mal, wenn es um Alltagssituationen ging, in eine PR-Kampagne oder in ein Marketingkonzept einarbeiten konnte. Man musste, dies war seine Devise, dem Mann beziehungsweise der Frau auf der Straße aufs Maul schauen, um die Massen wirkungsvoll zu beeinflussen. Da standen Männer, die es gewöhnt waren, auf irgendetwas zu warten: auf die Frau ihres Lebens, auf das Grün an der Ampel, auf die Kündigung oder einfach, wie jetzt, nur auf eine Folienkartoffel vor einer Imbissbude. Die Mienen die­ser Männer waren wie versteinert. Sie konnten auch in ihrer Mittagspause nicht entspannen, weil sich ein Korsett der Zwän­ge um ihre Seele presste: Der Zwang im Büro zu parieren, an der Werkbank den Hobel richtig anzusetzen, nach der Arbeit die Wäsche in den Trockner zu schmeißen und am Freitag immer wieder den Lottoschein abgeben zu müssen.

Anders die Frauen in der Schlange der Hungrigen: Sie warteten nur darauf, sich dem anderen mitzuteilen. Ihre Äuglein gingen hin und her, und wenn Frau Pullemuck zur Frau Salehupf nur ein kleines „na denn“ sagte, reichte dies im Allgemeinen, um eine Lawine an Worten loszutreten. Es ging dann um das Wetter, um ein von der Mutter gescholtenes Kind, um die Abgase von Autos oder um die gentechnische Erzeugung von Kartoffeln. Leon Petroll­kowicz fiel auch diesmal wieder auf, dass sich das Geplätscher der Weiberstimmen mit dem Gemurmel einer alten Türkin mischte, die tagein tagaus bettelnd neben dem Haupteingang eines Kaufhauses saß und ihre verkrüppelte Hand den Pas­santen entgegenstreckte. Diese Monotonie des Wartens hat­te wenig Erbauliches. Straßenbahnen, Autos, Einkaufstüten, streunende Hunde, kauende Schnellimbisskunden.

Dann aber geschah es: Von weitem näherte sich ein bildhübsches Wesen. Es tauchte aus einem Pulk einkaufswütiger Menschen auf und näherte sich etwas schweren Fußes dem Kartoffelstand. Wie Leon Petrollkowicz mit Kennerblick sofort feststellte, störten die zu hoch geratenen Plateausohlen die ansonsten anmutige Vorwärtsbewegung. Im Übrigen war die Erscheinung makellos: Langes blondes Haar, ein fein geschnittenes Gesicht, ein hüb­scher, mittelgroßer Busen und eben plateauabsatzverlängerte schlanke Beine. „Sais tu que je suis une fée?“ Sagte das nicht die bezaubernde Druidin zu ihrem dahindösenden Feldherrn? Jetzt kam diese Fee auf die Schlange der Wartenden zu und reihte sich ordnungsgemäß am unteren Ende ein. Leon Petroll­kowicz sah sich verstohlen permanent um, nicht nur, weil ihm das Betrachten dieses jungen Mädchens das Anstehen erträgli­cher machte, sondern weil er mit den Augen eines Malers, der er nebenberuflich auch noch war, das Modell sah, welches sich vor seinen Augen entblätterte und als maldramaturgischen Höhepunkt die Plateauschuhe von sich warf. Er hätte nicht wie Alessandro Botticelli seine Venus aus einer Muschel, sondern aus einer Kartoffel aufsteigen lassen, ein Akt irdischen Gebä­rens und erdgebundener Sinnlichkeit. Diese Maid wirkte un­widerstehlich allein durch ihre Gegenwart. Hat nicht Ortega y Gasset einmal sinngemäß gesagt: Männer wirken durch ihr Tun, schöne Frauen schon durch ihr Sein. Es sind jene unfass­baren, zerfließenden Gebilde, jene luftigen Traumgewebe, die durch ihre Anwesenheit den Augenblick erträglicher machen.

Die Fee wartete auf ihre Kartoffel und wirkte. Aber sie stand nicht einfach da, sondern sie schwebte – trotz der plateau­schuhbeladenen Beine. War sie vor Sekunden noch die Letzte in der Reihe, so stand sie jetzt schon wesentlich weiter vor­ne, an unförmigen Körpern vorbeihuschend, sich zerfließend in ein Nichts auflösend, um dann plötzlich wieder neben ganz anderen Personen aufzutauchen. Leon Petrollkowicz war ganz erstaunt, als sie plötzlich neben ihm stand. Jetzt brauchte er nicht mehr verstohlen umzublicken. Eine leichte Drehung des Körpers reichte, um jedes Detail an ihr beobachten zu kön­nen: Ihre schulterlangen blonden Haare, ihr sanftmütiges Ge­sicht mit den großen blauen Augen, der kleinen feinen Nase und den aufgeworfenen, sinnlichen Lippen, die in ein tiefes Rot-Violett getaucht waren, die ganz leicht vorstehenden Bak­kenknochen, ihr langer Hals, ihr wunderschön geformter Bu­sen, der zwischendurch aus einem so zufällig über die Schul­tern gelegten Bolero hervorblitzte, die wespenschlanke Taille, und dann dieser selbst den aus dem Kartoffelofen austreten­den Dunst übertreffende Duft, eine Mischung aus Parfüm und körpereigenen Essenzen. Als sinnlicher Mensch liebte Leon Petrollkowicz den Duft der Frauen. Da war einmal das äußere Bukett. Während seiner Urlaube in der Provence beobachtete er oft stundenlang die Rosenpflücker, die diese Schönste al­ler Blumen in Körbe warfen, um sie bei Sonnenuntergang mit dem Auto oder einem Pferdefuhrwerk nach Grasse zu bringen. Hier wurde aus den edlen Gewächsen Parfüm gemacht. Wenn Leon Petrollkowicz Parfüm roch, sog er die Sonne, die Natur, die braune Erde und die Rosenstöcke in sich auf und vermähl­te dieses Aroma mit dem körpereigenen Odeur einer Schönen. Er erhöhte dieses Erlebnis noch dadurch, dass er als Maler nicht nur die Hülle, sondern auch das Wesen selbst in seiner Unaussprechlichkeit zu erfassen versuchte, wenngleich nicht jedes Umfeld ihn wie von selbst zu den schönsten Höhenflü­gen animierte. Jetzt störten ihn der monotone Bettelgesang der Türkin, die Abgase der Straße und des rechten Nachbarn, das Gebell eines streunenden Hundes und die prallgefüllten Einkaufstüten der arbeitenden und weit mehr noch der nicht arbeitenden Bevölkerung. Als er sich trotz dieser Irritationen seiner schönen Fee intensiver zuwenden wollte, war sie schon vor ihm, und obgleich er eigentlich an der Reihe war, seinen Essenswunsch vorzutragen, nahm er großzügig in Kauf, dass sie blitzschnell ihre Bestellung der Verkäuferin entgegenrief: „Elf Kartoffeln mit Quark!“

„Elf Kartoffeln!“ Er wusste es. Der Kaufvorgang bei Frau­en war immer etwas Eigenartiges. Noch nie war es ihm pas­siert, dass eine Frau etwas kaufte oder bestellte, das Geld hin­legte, die Ware entgegennahm und verschwand. Immer war eine Garnierung dabei. Man unterhielt sich ganz allgemein, man sprach über die Qualität der Produkte oder deren Preis, man bezahlte in bar, wobei aber ausgerechnet der letzte Cent fehlte, oder aber mit einer bereits abgelaufenen Scheckkarte, oder man bestellte, wie in diesem Fall, nicht eine, sondern elf Kartoffeln. Leon Petrollkowicz wartete und betrachte etwas gereizt die hintere Fassade der noch vorhin so bewunderten Person. Seine Blicke übersprangen in dieser Stimmung Tail­le, Hüfte und Beine und landeten ohne Umschweife auf den Plateauschuhen. Warum trug diese Frau diese unförmigen, fußentstellenden Treter? Waren vielleicht die Beine zu kurz geraten? Richtig! Die Beine waren viel zu kurz. Sie klebten förmlich an den kartoffelförmigen Ausbuchtungen in der Ver­längerung der Wirbelsäule.

Elf Kartoffeln! Wahrscheinlich war sie irgendeine Tippse in einem Großraumbüro oder eine Sprechstundenhilfe bei einem Orthopäden, der sich auf plateaugeschädigte Füße spezialisiert hatte oder das Maskottchen einer Fußballmannschaft.

Leon Petrollkowicz wartete und wartete, und als er endlich an der Reihe war, rief die Verkäuferin „Schluss vorerst! Die letzte Kartoffel wurde soeben verkauft. In einer halben Stunde ist es wieder soweit! Jetzt müssen erst wieder neue Kartoffeln geholt und in den Ofen geschoben werden.“

So war das Leben eben. Leon Petrollkowicz registrierte nicht einmal mehr, wie die kartoffelbeladene Fee davonstapfte. Er ging einen Stand weiter und holte sich zwei mit Käse beleg­te Brötchen. Sie taten es auch. Warum sollte er sich ärgern? War das nicht genau der Alltag, den er seit eh und je kann­te? Sind Männer nicht deshalb so langweilige Geschöpfe, weil sie meinen, es müsse immer alles glatt gehen, die kein Gespür für das Außergewöhnliche haben, die sich einbilden, es müsse sich alles nach ihren Vorstellungen abwickeln? Die immer nur funktionieren um des Funktionierens willen? Die Fuhrmänner seien, dumme Fuhrmänner, die sich und andere durch das Le­ben schleppen, ohne dabei auch einmal die Facetten am Rande auszukosten, wie dieses einmalige Erlebnis, von einer Fee über­holt zu werden, um dann statt in eine Kartoffel in käsebelegte Brötchen zu beißen?

Er wollte im Kaufhaus gegenüber noch etwas einkaufen. Drinnen war eine dicke, stickige Luft. Die Leute drängten sich vor den Wühltischen, als gäbe es etwas umsonst. Die meisten standen nur da und wühlten. Es musste ein schönes Gefühl sein, Brieftaschen, Einkaufstaschen, Strohhüte, Bettwäsche, Socken, Unterwäsche einfach nur zu befühlen, ohne gleich kaufen zu müssen. Rentner und Frauen hatten an diesen Ti­schen die absolut dominante Rolle. Sie benutzten nicht nur ihre Hände, sondern auch Ellbogen und Körper. Keiner soll­te ihnen etwas wegschnappen, schon gar nicht einer von den gutsituierten Herren, die sich ja auch an den normalen Ti­schen etwas aussuchen könnten. Leon Petrollkowicz bewegte sich von einem Menschenknäuel zum nächsten, die Käsebröt­chen mit einer Hand haltend, mit der anderen sie beschüt­zend und strebte so gut es ging zur Lebensmittelabteilung im Basement. Aber das war nicht so einfach. Frau Pullemuck, die er schon am Kartoffelstand gesehen hatte, entdeckte kurz vor dem Antritt zur Rolltreppe eine Frau Wullig. Die Begrüßung war lang und herzlich. Die beiden Frauen merkten gar nicht, dass sie den einzigen Zugang zum Basement versperrten. Das interessierte sie auch nicht, weil Frauen im Jetzt leben und hier und sofort ihre Spontaneität ausleben wollen und nicht irgendwann und irgendwo. Natürlich landete Leon Petrollko­wicz irgendwann irgendwo in der Lebensmittelabteilung, aber eben nach Überwindung etlicher natürlicher Hindernisse. Er kaufte Champagner ein, Krabben, kleine Salate und ein Ba­guette – alles Dinge, die er seiner Lebensgefährtin am Abend mitbringen wollte.

An der Kasse musste er wieder anstehen. Vor ihm stand aber kein Mensch, sondern nur ein Einkaufswagen. Auch das war ihm geläufig. Er erfand für dieses Event den Ausdruck Phan­tomeinkaufen. In unregelmäßigen Abständen flogen irgend­welche Waren in den Einkaufswagen, den immer weiter zur Kasse zu schieben seine Aufgabe war. Auf diese Weise vermied dieser Mensch das lästige Anstehen und konnte just dann das Portemonnaie zücken, wenn der von einem gutwilligen Kunden geschobene Einkaufswagen die Kasse erreichte. Voraussetzung war natürlich, dass der Geldbeutel auch vorhanden war. Bei der Frau, die vor Leon Petrollkowicz an der Kasse stand, war das offenbar nicht der Fall. Sie suchte und suchte, hauptsächlich in einer Handtasche, dann aber auch in Mantel und Jacke. Das Portemonnaie war verschwunden. Leon Petrollkowicz wusste, dass bei einer Frau wieder etwas Außergewöhnliches passieren würde, aber eine verlorene Geldbörse war auch für ihn etwas Neues. Die Frau zuckte mit den Schultern, sah sich um, tuschel­te mit der Kassiererin und beäugte immer wieder misstrauisch den Mann hinter sich. Eine Bimmel ertönte, eine Verkäuferin eilte herbei, verschwand wieder, um nach kurzer Zeit mit einem Mann aufzutauchen, der sich als Hausdetektiv vorstellte, Leon Petrollkowicz unsanft am Arm nahm und ihn in eine kleine Kammer führte. Die junge Dame und die Verkäuferin waren den beiden gefolgt. Trotz der Enge herrschte in dem nur spärlich beleuchteten Verlies reges Treiben. Ein Polizist, ein anderer, of­fenbar auch auf frischer Tat ertappter Kunde, der Detektiv, der sich an eine vorgestrige Schreibmaschine setzte, und die in den neuen Fall verwickelten Personen. Leon Petrollkowicz wurde nach seinen Personalien gefragt. Name, Geburtsort, Adresse ...

Was war passiert? Leon Petrollkowicz hatte doch nichts anderes getan als seinen und den Einkaufswagen einer Frau vor sich herzuschieben. Sicher, für den Bruchteil einer Sekun­de war diese Frau an ihm vorbeigehuscht, hatte sich noch für die Mühewaltung des Schiebens bedankt, um dann vor ihm die Waren auf das Fließband zu legen und den Zahlvorgang durch umständliches Suchen einzuleiten. Und er stand jetzt in dem Verdacht, das Portemonnaie gestohlen zu haben? Die Obrigkeit würde jetzt ihre Pflicht tun. Leon musste an Franz Kafka denken, der in seinen Romanen wie in seinem Leben permanent gegen eine bornierte Bürokratie und Exekutive anrannte, die ihn peinigte, fertigmachte, knechtete, ihn hoch­kommen ließ, nur um ihm anschließend gleich wieder den Fuß in den Nacken zu stellen. Finanzamt, Polizei, Registergericht, Vermessungsbehörde, Passamt, Amtsgericht, Arbeitsgerichts­prozess, Krankenkasse etc. etc. Er hatte doch schon genug mit all diesen selbstzufriedenen Staatsdienern zu tun, warum stand er jetzt schon wieder vor so einem subalternen Amts­büttel? Wegen einer Frau! Hatte Kafka in seinen Romanen immer noch Frauen, die ihn liebten und ihm halfen, so war er, Leon, in seinen Demütigungen nicht nur allein gelassen, son­dern wurde sogar noch von einer Frau über die Brüstung der bürgerlichen Anständigkeit geschmissen: Zur wohlgefälligen Selbstwertsteigerung der kleinen und kleinsten Gesetzeshüter. Wie lässt Kafka doch noch den Türhüter in „Der Prozess“ über sich sagen: „Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mäch­tiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“

Der Mann an der Schreibmaschine, offenbar der Haus­detektiv, produzierte so eigenartige Zuckungen, wenn er von einer Zeile zur anderen wechselte, als wolle er schon mit der Körpersprache seinen Unwillen über die Infamie der sich alle so schuldlos gebärdenden Kaufhausdiebe zum Ausdruck bringen. „Die kriege ich schon!“, wollte er wohl sagen. „Mir kann keiner etwas vormachen.“ Schließlich wäre er ja seit mehreren Jahren in diesem Geschäft und würde seine Pap­penheimer schon kennen. Zwischen den Zuckungen und dem Hin- und Herschieben des Schreibmaschinenschlittens sah er immer wieder verächtlich an dem Delinquenten hoch, der nach seiner Ansicht nun wirklich keinen vertrauenswürdigen Eindruck machte. Wie der schon angezogen war! Einen ab­geschabten Regenmantel, wo es doch gerade im Angebot des Kaufhofs so günstige gab, ältere Schuhe, wahrscheinlich aus dem Altkleidercontainer gefischt, und als Krönung eine Kari­katur von einem Hut. Leon Petrollkowicz sah an sich herunter und musste in diesem Augenblick an die ständigen Auffor­derungen seiner Lebensgefährtin denken, sich seiner Position entsprechend – als Inhaber eines mittelständischen Unterneh­mens war er ja schließlich wer – zu kleiden. Am schlimmsten war der Hut, den er liebte und als seinen Talisman ansah. Mit diesem Hut fuhr er Ski, wanderte in den Bergen, ihn behielt er selbst beim Malen auf oder wenn es in einem Raum zu kalt war. Seine Anna hasste diesen Hut. Er hatte ihn schon auf der Piste verloren, im Zug vergessen, und einmal war er sogar in der Mülltonne gelandet. Aber wie durch ein Wunder gelangte dieses „Möbel“ durch den Müllmann, die Post oder Bahn im­mer wieder in seine Hände. In diesem Bereich funktionierte die öffentliche Hand.

„Nehmen Sie den Hut ab!“ befahl der Mann an der Schreib­maschine mit einem kenntnisreichen Detektivlächeln. Der Geldbeutel konnte ja dort versteckt sein. Er war es aber nicht, wie sich alsbald herausstellte. Der Mann schrieb weiter und weiter, so als würde er den Hergang der Tat ganz genau kennen und zum Schluss den Dieb nur noch auffordern, das Protokoll zu unterschreiben. Dazu kam es aber nicht. Die sich bestohlen fühlende junge Dame schrie plötzlich auf, fühlte im Futter ihres Mantels etwas Hartes und zog wenig später das Portemonnaie heraus. Es war offenbar durch ein Loch in der Manteltasche in das Futter gerutscht.

Der Mann an der Schreibmaschine, die Verkäuferin, der Polizeibeamte, sie alle waren nicht etwa erleichtert, sondern entsetzt. Wofür hatten sie sich diese Arbeit gemacht! Kei­ne Entschuldigung in Richtung Leon Petrollkowicz, sondern strenge Blicke für die junge Dame. War das nicht so etwas wie Irreführung des Apparates, der schon wie geschmiert zu funktionieren begann? „Also denn“, räusperte sich jemand mit kleinlauter Stimme aus dem Hintergrund. „Damit wäre ja alles geklärt. Die Waren aus den Einkaufswagen habe ich leider schon wieder in die Regale gestellt. Man konnte ja nicht wissen …!“ Leon Petrollkowicz sah geringschätzig auf die klei­ne, etwas dickliche Verkäuferin herunter, die wohl etwas vor­schnell das Verfahren eingeleitet hatte. Er überlegte einen Au­genblick, ob er auf eine Entschuldigung drängen oder der gan­zen Mannschaft einschließlich der vermeintlich Bestohlenen die Meinung sagen sollte. Aber er tat gar nichts. Er schwenkte seine Käsebrötchen hin und her und eilte aus dem Verlies, um keine Sekunde länger als nötig in dieser beklemmenden At­mosphäre aushalten zu müssen. Er war kaum einige Schritte gegangen, als er von der jungen Frau von hinten angespro­chen wurde: „Entschuldigen Sie vielmals. Mir ist das Ganze so peinlich. Ich hätte auf diese blöde Wichtigtuerin an der Kasse nicht hören sollen.“

„Schon gut“, sagte Leon Petrollkowicz etwas ungehalten und ging schnell weiter, verlangsamte aber nach einer Weile seine Gangart und sah sich nachdenklich nach der jungen Frau um. Das war sie doch! Das war doch Helen Laroche, die Mit­arbeiterin des allmächtigen Vorstandsmitglieds der berühmten Bank Cassa Nostra AG, Dr. Dr. hc. Alexander Maibohm. Er hatte sie in der Eile des Gefechts und bei dem schummrigen Licht in dem Verhörraum nicht erkannt. Er wartete, bis sie in Reichweite war.

„Sind Sie nicht Frau Laroche?“

„Natürlich, jetzt erkenne ich Sie, Herr Petrollkowicz. Mus­sten wir uns nach so langer Zeit auf diese Weise wiedersehen?“

Leon Petrollkowicz hatte geschäftlich wenig mit Helen La­roche zu tun, weil für ihn ein junger Handlungsbevollmäch­tigter aus dem gleichen Vorstandssekretariat zuständig war. Das letzte Mal hatte er sie anlässlich eines Investor-Relations­gesprächs im Plaza Hotel in New York flüchtig gesprochen, als ihr Chef etwas von ihm wissen wollte. Dr. Maibohm war als Beiratsvorsitzender der Firma „Public Petrollkowicz“ eines seiner wichtigsten Aushängeschilder. Er brachte nicht nur die Bank als Kunden ein, sondern auch eine Reihe bekannter Un­ternehmen, die von dem Know-how der renommierten PR- und Marketingagentur profitieren wollten.

Helen Laroche war noch immer etwas verlegen, fing sich aber langsam wieder, entschuldigte sich zum wiederholten Male und fragte ihn schließlich, ob er schon gegessen habe und wenn nein, ob sie ihn vielleicht als Wiedergutmachung in ein gegenüberliegendes Restaurant zu einem kleinen Essen einladen dürfe. Sie hatte sich ein paar Kleinigkeiten aus der Lebensmittelabteilung mit ins Büro nehmen wollen, war aber, wie auch Leon Petrollkowicz, nicht in der Stimmung, sich noch einmal alles aus den Regalen zusammenzuholen. Leon hatte zunächst an seine angebissenen Käsebrötchen gedacht, die­se aber schnell in seiner Manteltasche versteckt, um die Ge­legenheit beim Schopfe packen zu können. Wenn ihm auch eine Einladung unter anderen Voraussetzungen lieber gewesen wäre, so war er dennoch spontan einverstanden, nicht nur we­gen der versöhnlichen Geste, sondern weil er unter normalen Umständen niemals die Chance gehabt hätte, die wahrschein­lich attraktivste, wenn auch nicht ganz unumstrittene Frau dieser Bank näher kennenzulernen. Man tuschelte hinter vor­gehaltener Hand, dass sie ihrem Chef auf mehrere Arten dien­te und so einen immensen Einfluss auf das Geschäft genom­men habe. Dank ihrer hohen Intelligenz und Kompetenz habe sie alle Aufgaben des Vorstandssekretariats der Bank prompt erledigt und sei auch sonst ihrem Herrn und Gebieter gefällig, was offiziell natürlich heftig bestritten, dennoch aber in der für Geschichten so anfälligen Bank-und Börsenwelt eifrig kolpor­tiert wurde

In einem kleinen Argentinischen Steakhaus aßen die bei­den zu Mittag. Zunächst ging es noch um das verlorengegange­ne Portemonnaie mit den bekannten Folgen, dann wechselte man aber schnell das Thema und unterhielt sich über allge­mein wirtschaftliche Fragen. Leon Petrollkowicz war erstaunt, wie gut sich Helen Laroche selbst in ökonomischen Details auskannte. Man merkte, dass sie Wirtschaft studiert hatte und ihr theoretisches Wissen durch die vielen praxisbezogenen Vor­gänge im Vorstandssekretariat anreichern konnte. Ihre diskur­siven Ausführungen wirkten aber nie aufdringlich, besserwisse­risch oder diskriminierend – im Gegenteil. Sie hörte sich immer erst seelenruhig an, was ihr Gegenüber zu sagen hatte und gab dann mit größter Zurückhaltung ihren Kommentar ab, wobei sie sich fast dafür entschuldigte, wenn sie in dem einem oder anderen Punkt einfach besser Bescheid wusste. Dieses Under­statement war kein Gehabe oder eine intellektuelle Masche, sondern schlicht eine Voraussetzung, um mit dem Vorstand oder den Topmanagern korrespondieren zu dürfen. Mit ihrer einfühlsamen, klugen Dezenz konnte sie jeden Gesprächspart­ner ganz unaufdringlich von ihrer Kompetenz überzeugen. „Bei so viel Schönheit“, fügte man noch gerne bewundernd hinzu, weil bei vielen Männern das Vorurteil verbreitet ist, dass hinter einer schönen Fassade im Allgemeinen nicht viel stecke.

Helen Laroche war wirklich wunderschön. Ihr Zauber ging einmal von ihrer tadellosen Erscheinung aus, besonders aber von ihrem Gesicht. Durch ihre hohe Stirn, die feine, leicht nach oben geschwungene Nase, den filigran geschnittenen, sinnlichen Mund, der auch dann Botschaften signalisierte, wenn sie nichts sagte, ihre dezent angedeuteten Backenkno­chen, und dann diese dunklen Augen! Sie waren gütig und präsent. Ihrem Gegenüber gab sie das Gefühl, ihn zu mögen, sympathisch zu finden, wobei sie die Waffen einer Frau ge­schickt einsetzte. Sie spielte dann mit ihren schwarzen, leicht welligen schulterlangen Haaren, warf sie mit einer leichten Kopfbewegung nach hinten oder zog sie über eine Gesichts­hälfte in breiten Streifen in Richtung ihres langen, schönen Halses.

Leon Petrollkowicz merkte im Laufe der Unterhaltung, dass er sich immer weniger auf den Inhalt des Gesprächs konzen­trierte – das inzwischen servierte Steak hatte er noch nicht einmal angerührt –, sondern in das Kordongespinst der ihn so sympathisch einfangenden Helen Laroche geriet.

„Ich möchte Ihnen etwas anvertrauen“, sagte sie nach ei­ner längeren Pause zögernd. „Quasi als Gegenleistung für mei­nen unglaublichen Faux pas im Kaufhaus. Aber Sie dürfen auf keinen Fall darüber sprechen. Sonst bin ich geliefert. Können Sie mir das zusagen?“

„Ja, natürlich.“

Leon Petrollkowicz ließ sich nicht anmerken, dass er aufs Äußerste angespannt war. Er wusste, dass sein Gegenüber an einer Stelle in der Bank saß, wo früher seine jetzige Kollegin den Ton angegeben hatte und die man ihm sozusagen aufs Auge gedrückt hatte. Obgleich er Alleingesellschafter seiner Firma war, musste er sich dem Diktat seines größten und be­deutendsten Kunden, der Cassa Nostra AG, beugen. Offiziell wollte man ihm jemanden zur Seite stellen, der die Intentio­nen der Kunden aus dem Blickwinkel einer Bank kannte und deshalb vermeintlich nur ein Gewinn für die Firma sein konn­te. Den wahren Grund hatte er nie erfahren. Seine Gedanken wurden durch eine Frage von Helen Laroche unterbrochen. „Ihre Kollegin in der Geschäftsführung ist doch Emma Heng­stenberg?“

Als Leon Petrollkowicz nickte, fuhr sie sehr behutsam fort: „Könnte man vielleicht sagen, dass Ihr Verhältnis zueinan­der nicht gerade sehr kollegial ist?“ Leon Petrollkowicz nickte diesmal nicht mit dem Kopf, sondern ließ seine Augenlider fast unmerklich auf eine Habachtposition abgleiten.

„Ich weiß, dass Sie hierüber nicht gerne sprechen wol­len“, sagte Helen Laroche, „und das ehrt Sie auch. Aber diese Rücksichtnahme ist leider einseitig.“

„Und was heißt das?“ Eine lange Pause. Helen Laroche tat für Augenblicke so, als würde sie sich interessiert die Leute im Lokal ansehen, bestell­te dann beim Ober einen Salat, sah teilnahmslos zum Fenster hinaus, um dann unvermittelt Leon Petrollkowicz fest in die Augen zu schauen. „Sie müssen mir wirklich versprechen, dass Sie das, was ich Ihnen sage, keinem Menschen wiedererzäh­len. Das könnte mich die Stellung kosten.“

Leon Petrollkowicz wurde neugierig. Er hob mit gespielter Gleichgültigkeit zwei Finger seiner Schwurhand in Richtung Decke und zerquetschte mit der anderen ein neben seinem Teller liegendes Brötchen. „Das habe ich Ihnen doch schon versichert.“

Ein Verschwörerausdruck huschte über das Gesicht der schönen Frau. „Emma Hengstenberg nutzt jede Gelegenheit, um Sie bei Dr. Maibohm zu diskreditieren. Sie dürfen nicht vergessen, dass sie vom Vorstand abgestellt wurde, damit des­sen Interessen wirkungsvoll vertreten werden. Sie sollen in ih­ren Kampagnen das Image der Topmanager verbessern helfen, was Ihnen offenbar schwerfällt. Frau Hengstenberg kontrol­liert Sie aber nicht nur, Sie sägt auch an Ihrem Stuhl.“

Wieder eine längere Pause. Leon Petrollkowicz hob un­gläubig die Augenbrauen. „Wie das? Ich habe dieser Frau doch nichts getan.“

„Sie wissen sicherlich, dass Frau Hengstenberg in einer Stabsfunktion damit beschäftigt war, diverse Aufsichtsrat­mandate zu betreuen. Als man sie aber auf die Kreditseite her­überzog und sie auf Großkunden losgelassen wurde, versagte sie kläglich. Sie ist sehr gescheit, aber Ihr fehlte das Feeling für das Geschäft und für den Kunden. Weil sie wohl die Aufgabe nicht meisterte, wurde sie zunehmend schwieriger, unbere­chenbarer und falsch. Als sich ein Großkunde beim Vorstand beschwerte, suchte man nach einer Lösung. Schließlich einig­te man sich im Vorstand darauf, sie in Ihre Firma abzuschie­ben. Man war sie los und jemand konnte Ihnen auf die Finger schauen.“

Leon Petrollkowicz schnaubte verächtlich. „So ist das also. Man hat zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wenn je­mand in gewisser Weise enttäuscht oder unbequem wird, geht man nicht den Weg einer arbeitsrechtlichen Lösung, die un­ter Umständen recht teuer ist, sondern sucht einen Posten in einer für das Geschäft nicht so wichtigen Firma und entgeht damit dem nach einer Trennung üblichen Gequatsche oder den gezielten Indiskretionen in einer von der Diskretion le­benden Branche. Außerdem hat man mehr Kontrolle über meine Firma.“

„So ist es.“ Petrollkowicz schüttelte verständnislos den Kopf. „Und die an­deren müssen sehen, wie sie mit diesem Implantat fertig wer­den. Aber welche Handhabe hat Frau Hengstenberg gegen mich? Schließlich stimmen wir doch alles untereinander ab.“

Helen Laroche hob mit einer Geste der Unentschiedenheit die Schultern.

„Wie es scheint nicht. Und hier ist schon einer der kriti­schen Punkte. Ihre Kollegin hat uns einen ganzen Aktenord­ner zukommen lassen, aus dem hervorgeht, dass sie Sie über jedes Detail schriftlich informiert und mit Ihnen abgestimmt hat, umgekehrt aber von Ihnen kaum ein Vorgang als Akten­notiz festgehalten wurde. Damit unterlegt sie ihre Behaup­tung, sie werde von Ihnen nicht auf dem Laufenden gehalten und habe deshalb keinen Einfluss auf wichtige Entscheidun­gen. Auf diese Weise entzog sie sich der Kritik an der letzten von ihrer Firma konzipierten PR-Kampagne und schiebt Ih­nen alle Schuld in die Schuhe.“

Leon Petrollkowicz traute seinen Ohren nicht. Er hatte sich fast täglich mit seiner Kollegin über alle nur denkbaren wichtigen Vorgänge verständigt, weil für ihn der Dialog ein wichtiges Hilfsmittel zur Urteilsfindung sein konnte. Ihm war es allerdings lästig, seine wertvolle Zeit darauf zu verwenden, Aktennotizen am Fließband zu produzieren, um seine Koope­rationsfähigkeit unter Beweis zu stellen und sich gegen falsche Behauptungen abzusichern. Das war offenbar sein Fehler. Aber im konkreten Fall war er sich doch mit seiner Kollegin und allen Gremien darin einig, eine ausbalancierte PR-Kam­pagne vorgelegt zu haben. Was sollte also diese Negativkritik?

„Ich weiß, was Sie denken“, fuhr Helen Laroche fort, ohne auf eine Erklärung ihres Gegenübers zu warten. „Erinnern Sie sich an die Passage in einer Anzeige, wo die publizistische Aufgabe der Banken gegenüber der Öffentlichkeit beschrie­ben wird?“

„Sie meinen die Stelle, in der es sinngemäß heißt: Unser kommunikatives Projekt ist der Sachverhalt. Ihn unverfälscht dar­zustellen, ihn nicht zu zerstören, bevor man ihn kommentiert, ent­spricht dem Freiheitspostulat, dem Ziel, den Konsumenten in den Stand zu versetzen, inmitten der Medien seine eigenen Entschei­dungen zu treffen. Dies setzt aber auf unserer Seite der Seite der Manager im Verkehr mit den Medien, der Presse, eines voraus, nämlich Offenheit in des Wortes direkter Bedeutung. Wir müssen sagen, was ist, wir dürfen nicht verschweigen oder verdecken.“

„Sie kennen den Text auswendig?“ Helen Laroche war be­eindruckt.

„So gut wie. Wenn sie eine Anzeige hundertmal vorge­legt bekommen, redigieren und schließlich verabschieden, um sie dann in allen großen Zeitungen wiederzufinden, muss die Kernaussage haften bleiben. Aber was habe ich falsch ge­macht?“

Helen Laroche tat sich mit der Antwort schwer. Sie setzte mehrere Male zu einer Erklärung an, blieb dann aber immer wieder in ihren Gedankengängen hängen.

„Man kann nicht direkt sagen, dass Sie etwas falsch ge­macht haben. Ihr Auftrag lautete, das Bild des Managers in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Man traut ihm nicht. Meinungs­umfragen belegen, dass er das Image hat, der Öffentlichkeit im eigenen Interesse leicht etwas vorzugaukeln. Ihre Strategie bestand nun darin, die Absicht der Manager, mit Offenheit und Selbstkritik an die Öffentlichkeit zu treten, in den Mit­

telpunkt der Kampagne zu stellen. Deshalb auch dieses Zitat.“

„Das übrigens von einem Manager stammt!“

„Mag sein. Die meisten Auftraggeber waren ja auch an­fangs mit dieser Vorgehensweise einverstanden. Dann aber überzeugte Emma Hengstenberg meinen Chef, dass nicht Selbstkritik der richtige Weg sei, sondern das Herausstellen positiver Leistungen. Ihre Kollegin ist Ihnen in den Rücken gefallen. Ihr Image hat eine deutliche Delle erfahren.“

Leon Petrollkowicz antwortete mit einem ärgerlichen Auf­lachen. „Ach, dahin läuft der Hase! Warum hat dann aber die ehemalige Mitarbeiterin Ihrer Bank, die jetzt meinen Betrieb verunsichert, meinen Vorschlag zunächst unterstützt und ar­gumentativ unterlegt?“

„Die Betonung liegt auf ‚zunächst’. Sie hat durch eine per­fekt inszenierte Intrige Ihre persönliche Zuverlässigkeit in un­serem Hause in Zweifel gestellt und damit Ihre Loyalität zu Ihren Auftraggebern. Sie müssen aufpassen. Täglich erfahre ich im Speisesaal über irgendeines Ihrer Gespräche, mit denen Sie angeblich Meinungsbildner und Politiker über die fragwür­digen Praktiken der Banken und der Industrie informieren. Mal ist es die Insiderproblematik, mal die nicht uneigennüt­zige Globalisierungsmanie, dann sind es wieder Paketverkäufe auf dem Buckel der Kleinaktionäre, unzumutbare Börsengän­ge und so weiter.“

Leon Petrollkowicz hörte sich die Anschuldigungen mit versteinerter Miene an. Er war als ehemaliger Journalist und Publizist von Natur aus kritisch, suchte nichts zu beschöni­gen oder unter den Teppich zu kehren und hatte deshalb auch eine offensive PR-Kampagne für die Wirtschaft nach dem Motto gestartet: „Wir machen Fehler, aber reden darüber und suchen nach Lösungen“. Natürlich hatte er immer wieder auf die Dissonanzen im Konzert der Wirtschaft aufmerksam ge­macht, weil nach seiner Auffassung nur so das Modell Markt­wirtschaft eine Chance hätte. Aber die Wirtschaft honorierte diese Art von Offenheit nicht. Sie hatte jahrzehntelang als Deutschland AG schalten und walten können wie sie wollte und mochte sich jetzt nicht damit abfinden, dass man sich von lieb gewonnenen Gewohnheiten verabschieden sollte. Diese Hengstenberg hatte natürlich seine Gedankengänge schnell durchschaut und genüsslich an entscheidender Stelle mit ei­nem falschen Zungenschlag kolportiert. Warum war er aber ihr gegenüber so blauäugig? Männer sind offenbar zu naiv, zu geradeaus, um die Winkelzüge verkniffener Gewitterziegen zu durchschauen.

Leon Petrollkowicz blieb bis zum Ende des improvisierten Mahls einsilbig. Er dankte Helen Laroche für ihre Offenheit, die ihm vielleicht helfen könne, in Zukunft weniger vertrau­ensselig zu sein und sich und seine berufliche Zukunft besser zu schützen. „Wissen Sie“, sagte die so verständnisvolle jun­ge Dame beim Aufbruch, „weshalb die Hengstenberg so un­heimlich ist? Als sie eines Tages mit einem ihrer gefährlich­sten Widersacher eine Besorgung für die Bank machte, kehrte sie alleine zurück. Ihr Kollege war von einem Auto überrollt worden. Die näheren Umstände, die zu dem Unglück führten, wurden nie aufgeklärt.“

„Wie beruhigend!“, sagte Leon Petrollkowicz beim Ab­schied.

Der Tanz der Heuschrecken

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