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Sie haben mich hier aufgegeben

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Von der Mühe, im Altenheim heimisch zu werden

„Sie haben mich hier aufgegeben.“ Mit diesen Worten versuchte eine neue Heimbewohnerin mir ihre Situation zu erklären. Aufgegeben – das klingt so, als wäre die alte Dame wie ein Paket am Postschalter abgefertigt worden. Ab die Post – vielleicht hatte sie den Umzug ins Heim so empfunden.

Auf mein Nachfragen erzählt mir Frau E. die näheren Umstände. Sie hatte allein in einem kleinen Haus am Stadtrand gelebt. Ihr Ehemann war bereits vor einigen Jahren verstorben. Nur Nichten und Neffen konnten sich um sie kümmern. Aber die wohnten einige Autostunden weit entfernt. Bis vor wenigen Wochen hatte sie ihren Haushalt allein führen und ihr Häuschen in Ordnung halten können. Aber dann kam der Sturz. Sie lag am Boden, konnte sich nicht mehr rühren. Nachbarn haben sie gefunden und den Arzt gerufen. Sie kam ins Krankenhaus. Zum Glück war nichts Schlimmes passiert, nichts gebrochen. Aber die Schulter schmerzte, die Beweglichkeit war eingeschränkt. Und sie wirkte etwas desorientiert. So wurde sie noch einmal gründlich untersucht. Unter anderem musste sich Frau E. einem Demenztest unterziehen. Offenbar gelang ihr es nicht ganz, die vorgesprochenen Worte in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben. Vielleicht waren auch die Zahlen beim Uhrentest durcheinander geraten. Sie war ja selbst ganz durcheinander, vor Aufregung. Aber die Diagnose stand. Frau E. wurde eine beginnende Demenz bescheinigt. Die Angehörigen waren voller Sorge. Wie sollte sie allein in ihrem Haus zurechtkommen? Was wird, wenn sie wieder fällt, wenn sie sich nicht mehr richtig pflegen kann, wenn sie vergisst, die Kochplatte auszuschalten? Die Argumente der Angehörigen für eine Heimunterbringung waren gewichtiger als die hilflosen Versuche von Frau E., die Bedenken und Befürchtungen zu zerstreuen. Ein „Paket“ wurde geschnürt: Reha, Kurzzeitpflege und sobald ein Platz frei geworden ist – Altenheim. Alles ging sehr schnell, zu schnell. Ihre Angehörigen haben sie ins Heim gebracht zusammen mit einem Sessel, einer Kommode, einem Fernseher, mit ein paar Bildern und Erinnerungsstücken. Aufgegeben – so fühlt sie sich. Die Seele von Frau E. kam nicht nach.

Was hätten die Verwandten auch tun sollen? Die Entscheidung, sie der Obhut eines Pflegeheimes anzuvertrauen, lag nahe. Die Belastung einer intensiven Betreuung wäre zu Hause zu groß gewesen. Untragbar auch, die Tante sich selbst zu überlassen. Für mich ist nachvollziehbar, dass die Angehörigen das Dilemma auf diese Weise aufgelöst haben.

Frau E. musste viel zurücklassen: Das kleine Haus, das sie Jahrzehnte lang mit ihrem Mann bewohnte. Die schöne Wohnung mit all den Möbeln und Gegenständen, die das Haus zum Zuhause machten. Den Garten, den sie über alles liebte. Die altbewährte Nachbarschaft. Auch ihre Selbständigkeit, die Freiheit, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, musste sie aufgeben.

Nun ist sie hier, im Heim. Die Wohnung ist entrümpelt, das Haus verkauft. Teile ihrer Polstergarnitur stehen jetzt wohl in irgendeiner Gartenlaube. Ein Nachbar hatte Interesse daran. Über Speiseservice und Silberbesteck werden sich die Verwandten einig geworden sein. Einige gerahmte Fotos wurden ihr nachgereicht, Erinnerungsfotos von ihren Verwandten. Sie liegen auf der Kommode. Frau E. hat sie abgedeckt mit einer Zeitung. Nur das Foto ihres Verstorbenen Mannes steht auf dem Nachttisch neben der Uhr, weckt Trauer und Sehnsucht.

Aufgegeben. Dieses Wort wandert ständig durch ihre Gedanken. Aufgegeben hat sie sich selbst dennoch nicht. Die körperlichen Schmerzen haben sich auf ein erträgliches Maß reduziert. Über ihre seelischen Schmerzen kann sie mit der einen oder anderen Heimbewohnerin reden. Frau E. fühlt sich noch fit. Als gelernte Schneiderin kann sie Hosen kürzen, Röcke enger machen, Kragen wenden, Ärmel einfassen. Sie kann Hemden bügeln, Knöpfe annähen, Strümpfe stopfen, Topflappen häkeln, Socken stricken und vieles mehr. Inzwischen steht ihre Nähmaschine betriebsbereit im Keller des Heimes. Frau E. sehnt nun den Tag herbei, an dem sie für andere etwas nähen darf. Sie sagt: „Wenn ich noch gebraucht werde, eine Aufgabe habe, dann weiß ich, dass ich noch jemand bin.“ Nach und nach bekommt das Wort „Aufgabe“ in ihren Ohren einen anderen Klang.

Ein Haus voller Erinnerungen

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