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2 Ein Schiff für Telemach
ОглавлениеAm Horizont schimmerten die ersten zarten Strahlen der Morgenröte, als Telemach die Augen öffnete. Er stand auf, kleidete sich an und gurtete sein scharfes Schwert um die Schulter. So für den Tag gerüstet, trat er unter seine Bediensteten und befahl den Ausrufern, alle Männer für eine Ratsversammlung auf dem Markt zusammenzurufen.
Als er sich dann auf den Platz seines Vaters setzte, meldete sich gerade der alte Aigyptios zu Wort. Einer seiner Söhne war Antiphos und mit Odysseus gegen Troja ausgefahren. Ein anderer war Eurynomos, der sich zum Kumpanen der Freier gemacht hatte.
„Leute von Ithaka! Seit Odysseus fort ist, hat es keine Versammlung mehr gegeben. Weiß jemand, wer uns heute geladen hat und worum es eigentlich geht? Auf jeden Fall ist es gut, dass sich wieder jemand um unser Gemeinwohl kümmert. Zeus segne diesen Mann, ganz gleich, was ihn dazu bewogen haben mag!“
Eine bessere Einleitung konnte sich Telemach gar nicht wünschen. Darum erhob er sich sogleich wieder und bat ums Wort: „Edler Greis, du sollst nicht länger im Ungewissen bleiben: Ich war es, der euch hier zur Versammlung geladen hat. Aber es handelt sich nicht um ein Anliegen des Gemeinwohls, sondern ich will hier und jetzt die Interessen meines eigenen Hauses vertreten.
Mein Haus wird verwüstet und ausgeraubt. Nicht etwa von unbekannten Strauchdieben, sondern von den Söhnen und Erben der vornehmen Familien unseres Landes. Darüber hinaus bedrängen diese Helden meine Mutter, einen von ihnen zum Mann zu nehmen, obwohl sie es nicht will. Nach alter Sitte müssten sie dazu außerdem zu Ikarios, dem Vater meiner Mutter, gehen, der dann einen Mann seiner Wahl bestimmen würde. Aber das wagen sie nicht, denn sonst hätten sie keine Ausrede mehr, sich weiterhin an meinen Gütern zu vergreifen.
Hätte euch“, sprach er dann die Freier an, „mein Vater seinerzeit etwas Rachewürdiges angetan, wäre ich vielleicht etwas weniger aufgebracht. So aber kann ich nur hoffen, dass ihr alsbald der Rache der Götter zum Opfer fallen werdet.“
Tränen der Wut waren Telemach bei seinen letzten Worten in die Augen geschossen, so dass er am Ende den Rednerstab weit von sich schleuderte. Antinoos jedoch zeigte sich davon nicht sonderlich beeindruckt: „Telemach, du scheinst ja wirklich noch als Volksredner enden zu wollen!
Was fällt dir eigentlich ein, uns vornehme Achaier derart zu beleidigen? Deine Mutter ist es doch, die uns an der Nase herumführt! Und das schon seit fast vier Jahren!
Es begann damit, dass sie uns allen Botschaften schickte. Nach und nach erweckte sie in jedem von uns falsche Hoffnungen und hat uns dadurch gegenseitig im Zaum gehalten. Als das keine Wirkung mehr zeigte, griff sie zu einer neuen Hinterlist: Sie wolle sich angeblich nicht von den Frauen Vorhaltungen anhören müssen, wenn der alte Laërtes einst standesgemäß zu begraben wäre. Solange sein Leichentuch noch nicht gewebt sei, sollten wir uns zurückhalten – was blieb uns anderes übrig, als ihren Willen zu achten?
Doch dann stellte sich heraus, dass sie alles bei hellem Tageslicht Gewebte im Schein der Fackeln wieder aufgetrennt hatte. Über drei Jahre lang trieb sie dieses Spiel mit uns. Wir wären noch immer die Betrogenen, hätte uns nicht erst vor kurzem eines der Mädchen von dem trügerischem Handwerk deiner Mutter erzählt.
Ich will dir etwas sagen, und auch die andern sollen gut zuhören:
Deine Mutter muss sich jetzt endgültig entscheiden, wen von uns sie sich zum Manne nehmen will! Soll sie sich meinetwegen mit ihrem Vater beraten – solange sie nicht meint, uns länger für dumm verkaufen zu können.
Wenn dir also etwas an deinem Erbe liegt, solltest du ihr endlich die Leidensmiene ausreden, mit der sie unserem berechtigten Verlangen entgegentritt. Wir jedenfalls werden nicht nachgeben!“
Wenn Antinoos nun aber glaubte, den jungen Telemach zum Schweigen gebracht zu haben, so hatte er sich geirrt: „Antinoos! Ich soll deiner Meinung nach also die Frau vor die Tür setzen, die mich geboren und aufgezogen hat?
Weder Ikarios, ihr Vater, noch die Götter könnten so ein Verhalten billigen, und meine Mutter würde mich völlig zu Recht verfluchen. Alle würden mit Fingern auf mich zeigen und mich künftig zum Abschaum zählen.
Nein, nein, ihr habt euch gefälligst andere Freitische zu suchen, und ich bete zu den Göttern, dass ihr endlich an euren Schandtaten umkommt!“
Und Zeus schickte zum Zeichen zwei Bergadler in den Himmel von Ithaka. Sie begannen über der Versammlung zu kreisen und bald dicht über die Köpfe hinwegzustreichen. Dann fielen die riesigen Vögel plötzlich übereinander her und behackten sich mit Schnäbeln und Klauen, dass die Federn flogen. Schließlich ließen sie voneinander ab und glitten unvermittelt rechts über die Häuser der Stadt hinweg.
Noch wie gelähmt lauschten alle der Deutung eines alten Ausrufers: „Was ihr eben zu sehen bekommen habt, gilt vor allem den Freiern! Odysseus kommt bald zurück, und dann ist euch der Tod gewiss. Ich verkündete dem Odysseus schon vor seiner Ausfahrt nach Troja, dass er erst nach vielen Jahren einsam und unerkannt heimkehren würde. Es ist nun so weit! Meine Weissagung wird sich bald erfüllt haben!“
Aber Eurymachos wollte davon nichts wissen: „Mach lieber, dass du nach Hause kommst, mein Alterchen! Du hoffst mit deinem Zukunftsgefasel ja nur auf eine Belohnung von Telemach. Vögel fliegen her und fliegen weg, so ist das nun einmal. Odysseus jedoch ist sicher schon lange tot, und es ist schade, dass du sein Schicksal nicht teilst. Pass also lieber auf, was deiner Zunge entfliegt, es könnte, eher als du denkst, dein Letztes sein.
Und du, Telemach, solltest dich besser an das halten, was dir Antinoos gesagt hat. Wir alle warten, bis Penelope einem von uns gegeben wird.
Wir gönnen den anderen Frauen noch nicht einmal einen Blick, obwohl wir durchaus das Recht hätten, auf ihren Lagern Trost zu finden. Daran kannst du erkennen, welch hohe Meinung wir von deiner Mutter haben.“
Telemach winkte ab, war doch von ihm dazu bereits alles gesagt worden. Wie von Athene geraten, forderte er nun von der Versammlung ein Schiff, um bei Nestor und Menelaos nach Lebenszeichen von Odysseus Ausschau halten zu können. Stelle sich dabei heraus, dass für das Leben seines Vaters noch Hoffnung bestehe, würde er noch ein Jahr abwarten, ansonsten müsse sich Penelope einen neuen Mann erwählen.
Nach diesen Erklärungen Telemachs ging das Wort an die Versammlung zurück, und es erhob sich Mentor. Er war ein alter Freund des Odysseus. Trotz seiner aufgestauten Wut achtete Mentor sorgsam auf die Wahl seiner Worte: „Es scheint, dass es keinen Sinn hat, wenn sich ein Herrscher um Gerechtigkeit bemüht. Habt ihr alle vergessen, wie gütig Odysseus uns gegenüber war? Schlimm genug, dass die Freier unbedingt glauben wollen, Odysseus sei tot – aber dass ihr andern nicht einmal in Erwägung zieht, den Freiern entgegenzutreten, ist schändlich. Dabei seid ihr sogar in der Überzahl!“
Als Mentor sich wieder gesetzt hatte, meldete sich als letzter Leiokritos aus der Partei der Freier zu Wort: „Du scheinst nicht ganz bei Trost zu sein, Mentor! Was hetzt du die Leute hier gegen uns auf? Selbst Odysseus hätte in einem Kampf gegen uns alle kaum Aussicht auf einen Sieg!
Aber hier wurde lange genug dummes Zeug geschwätzt! Geht jetzt besser wieder an eure Arbeit. Mentor und der alte Himmelsdeuter können ja dem Telemach bei seiner geplanten Fahrt zur Hand gehen. Wahrscheinlich ist diese Schiffsreise sowieso nur leeres Gerede, und Telemach weint sich vorzugsweise weiterhin am Strand die Augen nach seinem Vater aus.“
Die Versammlung wartete auch wirklich keine Antwort mehr auf die höhnische Rede des Freiers ab. Im Nu war sie seiner Aufforderung nachgekommen. Da lachten sich die Freier ins Fäustchen und nahmen alsbald ihre gewohnten Plätze im Haus des Odysseus ein.
Telemach hingegen hatte sich auf den Weg zum Strand gemacht, allerdings nicht um dort zu weinen, sondern um zu jener Gottheit zu beten, mit der er am letzten Abend zu Tisch gesessen hatte und deren Namen er nicht mit letzter Sicherheit wusste. Er flehte um ihren weiteren Beistand, denn er fürchtete, dass ihn die Freier zuletzt doch noch an seiner Suche hindern könnten. Athene erhörte sein Gebet und erschien ihm in der Gestalt Mentors: „Als Sohn des Odysseus musst du keine Angst haben. So viel von seinem Unternehmungsgeist sollte in dir stecken, als dass dich jetzt noch jemand aufhalten könnte. Oder kommst du nicht nach deinen Eltern? Dann allerdings hätte ich wenig Hoffnung für dich.
Aber du wirst das schon meistern, da bin ich ganz sicher! Lass dich nicht von den Freiern einschüchtern. Sie sind nicht gerade sehr weitblickend und werden ihrem Schicksal nicht entgehen. Ich will dir helfen, ein Schiff und Ruderer für deine Fahrt zu besorgen. Du aber stelle unauffällig die nötigen Vorräte zusammen. Am wichtigsten sind Wein und Mehl, damit unsere Mannschaft bei Kräften bleibt. Wir treffen uns dann am Strand bei den Schiffen.“
So ganz gewiss war sich Telemach seiner Sache zwar immer noch nicht, aber er ging nun doch mit festerem Schritt ins Haus zurück.
Als Telemach über die Hofschwelle trat, kam ihm Antinoos lachend entgegen. Er tat so, als sei nichts weiter gewesen: „Ach Telemach, sei doch nicht länger aufgebracht! Wenn du willst, kümmern wir uns auch um dieses Schiff für dich. Aber bis dahin setze dich zu uns, und halte bei unserem kleinen Gelage mit.“
„So weit kommt es noch“, riss sich Telemach von ihm los, „dass ich mit euch meinen Untergang feiere! Ich bin alt genug, dein Angebot zu durchschauen. Wenn ich kein eigenes Schiff ausrüsten kann, dann schiffe ich mich eben in einem fremdem ein. Dass ich nach Pylos fahre, ist jedenfalls sicher – so sicher, wie es euch bald an den Kragen gehen wird!“
Da wollten sich die Freier schier kugeln vor Lachen.
„Ja, jetzt wird es wirklich ernst! Der Telemach holt jetzt Verbündete aus Pylos und dann noch welche aus Sparta! Er strengt sich wirklich an, das muss man sagen.“
„Nein, nein, er geht insgeheim nach Ephyra und kauft sich dort Gift, das er uns dann in den Wein mischen will.“
„Oder es geht ihm wie seinem Vater, und er bezahlt seinen Ausflug mit dem Leben. Dann hätten wir hier eine noch größere Plackerei, sein Hab und Gut aufzuteilen. Und schließlich vermählt sich Penelope, und wir müssten ohne Lohn für diese schwere Arbeit abrücken.“
Sollten sie ruhig spotten, Telemach hörte gar nicht mehr hin. Er stieg unbemerkt zu den Kellergewölben hinunter, in denen die Vorräte und Schätze des Odysseus unter der Obhut Eurykleias gelagert waren. Hinter schweren, fest verschlossenen Flügeltüren stapelten sich Gold und andere edle Erze, Truhen, voll mit prächtigen Gewändern, Fässer mit wohlriechendem Öl und solche, die mit schwerem, alten Wein auf den Tag der Rückkehr des Hausherrn warteten.
Telemach rief Eurykleia herbei und verlangte zwölf Krüge mit Wein und zwanzig Maß Mehl in gut genähten Lederbeuteln. Zugleich hielt er sie zum Schweigen an. Die Freier dürften nichts davon erfahren! Er werde die Sachen dann in der Nacht abholen.
Eurykleia konnte es nicht fassen, dass sich nun auch ihr junger Herr den Gefahren einer Fahrt auf dem Meere aussetzen wollte. Aber schließlich versprach sie ihm bei allen Göttern im hohen Olymp, selbst seiner Mutter erst nach dem elften oder zwölften Tag der Abfahrt Bescheid zu sagen.
Damit fürs Erste zufrieden, mischte sich Telemach wieder unter die Freier.
Athene warb unterdessen in der Gestalt ihres Schützlings Ruderer an und bat den Schiffshalter Noemon um ein schnelles Schiff. Der sagte dies dem vermeintlichen Telemach auch ohne Wenn und Aber bereitwillig zu.
Die Sonne ging schon unter, als die Göttin das Schiff zu Wasser brachte, es mit den notwendigen Gerätschaften belud und anschließend am Ausgang der Bucht vertäute. Die inzwischen angelangte Mannschaft wurde von ihr in alles eingewiesen und leistete den Treueschwur.
Kaum war dies geschehen, ließ Athene den Freiern große Müdigkeit in die Glieder fahren, so dass ihnen die Becher aus den Händen fielen und sie alle alsbald nach Hause wollten.
Jetzt erst rief die Göttin, nun wieder in der Gestalt Mentors, Telemach zu sich: „Komm, alles ist bereit und wartet nur noch auf uns. Wir müssen uns beeilen!“
„Der Alte ist wirklich gut zu Fuß“, dachte sich Telemach, der der davonstürmenden Athene kaum folgen konnte. Am Liegeplatz begrüßte er die langhaarigen Seeleute und befahl ihnen, den Proviant abzuholen und einzuladen. Schließlich setzten sich Telemach und der angebliche Mentor hinten an das Steuer. Nachdem der Mast aus Fichtenholz aufgerichtet und befestigt war, spannten sich alsbald die weißen Segel vor einem von Athene gerufenen, günstigen Wind. Das Schiff war auf Kurs. Die Becher wurden mit Wein gefüllt, und die ganze Mannschaft trank auf das Wohl der unsterblichen Götter. Besonders hochleben ließen sie aber die Tochter des Zeus, Athene, die die ganze Zeit unerkannt bei ihnen saß.