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Keine große Kunst, sich auszumalen, wie‘s da unten zuging, im Salon der verlorenen Seelen. Wo sich zu nachmitternächtlicher Stunde immer ein paar versprengte Figuren einfanden, die an Schlafstörungen litten. Nichts schöner, als sich dort ab und zu an einen abgelegenen Ecktisch zu pflanzen und diesen seltsamen Vögeln beim Zwitschern zuzuhören. Schade, dass ich in der vergangenen Nacht Wache auf der Brücke hatte. Aber, wie gesagt, ich kann‘s mir lebhaft ausmalen, wie sich da unten das übliche harmlos-ahnungslose Geplänkel angelassen hatte. Da, mitten drin im Pott, wo man vom Wellengang selbst dann nichts hört, wenn‘s nicht so mucksmäuschenstill zugeht wie letzte Nacht. Mit Sicherheit einer der sichersten Punkte auf dem ganzen Dampfer, oder besser gesagt: einer der Punkte, wo man sich am sichersten fühlt. Eben: mittendrin. Und stabil. Denn da ist wahrhaftig die Mitte. Konnten die Konstrukteure der Harland & Wolff-Werft natürlich nicht ahnen, dass dorthin, nur ein paar Meter vom Massenschwerpunkt entfernt, wo man den Seegang deshalb so wenig spürt, weil hier der Mittelpunkt der Achse ist, über die sich das Schiff dreht, wenn‘s hoch hergeht, dass also die Nachteulen dorthin, ausgerechnet in die Messe für Butler und Zofen retirieren würden. Direkt überm Speisesaal der ersten Klasse. Und konnten noch weniger ahnen, dass diese graugesichtigen, tränensackbeladenen Gestalten sich regelmäßig erdreisten würden, den vorderen Teil der Butlermesse in einen Rauchsalon für späte, für sehr späte Stunden umzumodeln.

»Hier, wo selbst das Motorengeräusch so verhalten ist, dass man beim besten Willen nicht auf die Idee kommt, man könnte mitten im Atlantik sitzen«, wie diese Brünette jeden zweiten Abend zu sagen pflegt, die attraktive Mittoder meinetwegen Endzwanzigerin, die sich während der fünf Tage, die die Reise bis zum großen Schlag währte, keine Nacht vor vier Uhr in ihre Kajüte zurückzieht. Trotz ihres jugendlichen Alters aber sieht sie jetzt – in der Nacht danach – mit einem Mal so unglaublich schal aus, so blutleer, irgendwie erheblich älter. Falbe, welke Haut. Lichtleere Haut. Ein schattenloses Gesicht ohne jede Kontur. Bei allen Figuren übrigens hier in diesem Panoptikum! Einfach nur eigenartig. So, dass ich auf keinen Fall hinsehn will, aber ich kriege den Blick nicht losgeeist.

»Aayyyh! Bringen Sie das grässliche Tier zur Strecke!«, schreit die Schöne mir plötzlich ins Ohr! Wie, in drei Teufels Namen, kommt ihr Schrei hierher zu mir in die Haftkabine? Was will die mir sagen? Wieso ist die mit einem Mal vollkommen nüchtern?! Und diese Stimme! Die Stimme hört sich an, als wäre ihr Kehlkopf mindestens hundertzwanzig Jahre alt.

Der Steward baut sich an ihrem Tisch auf, um ihren spitzen Schrei mit dem Bassbaritonbrustton der Überzeugung zu parieren: »Sie befinden sich hier an Bord eines Luxus-Restdampfers. In unserm Laboratorium gibt‘s keine ...«

Während die Hübsche gar nicht daran denkt, ihm zuzuhören, sondern vom Stuhl hochschnellt und durch die Gegend kreischt: »Da vorne, unter die Anrichte gehuscht, das Vieh, hat eine, seltsam, eine Hutnadel, größer als es selbst, hinter sich hergezerrt. Tun Sie, machen Sie was!«

»Wir befinden uns hier an die zweitausend Meter unter der Meeresoberfläche, Lady. Und ich darf Sie daran erinnern, wir haben uns seinerzeit vor, ich weiß es nicht, vielleicht hundert Jahren auf der Jungfernfahrt befunden, und innerhalb der hundert Stunden, die diese währte, bevor … nun, wir haben ja vereinbart, das kleine Malheur nicht mehr beim Namen zu nennen, jedenfalls innerhalb so kurzer Frist nisten sich keine Tiere, auch nicht so wollige drollige, im guten Salon ein.« Der Steward unterbricht seine Expertise kurz, ganz kurz, um den Kragen seines Livrees zurechtzuzupfen und sich bei der Gelegenheit mit flatternden Fingern ein paar aufdringliche Schuppen von der Schulter zu wedeln. »Und sollte tatsächlich eine Maus zwischen den Mehlsäcken an Bord gelangt sein, so dauert‘s eine halbe Ewigkeit, bis das Geschöpf aus den Vorratskammern, die sich bekanntlich ganz hinten im Heck befinden, bis hier rübergewandert ist. Aber, schöne Lady, bis zum Verstreichen dieser halben Ewigkeit waren die Heckräume längst feucht geworden, komplett geflutet. Und schließlich weggebrochen. Hier gibt‘s keine Tiere!«

»Aber Mäuse«, zischt die verdammt, verdammt gut aussehende Brünette, bei der man eigentlich so eine gestelzte Empfindlichkeit gegenüber Kleinnagern gar nicht vermutet hätte.

Russel, der hagere Bestatter, der drüben auf der anderen Seite des großen Teichs nicht nur seine kärglichen Verhältnisse abschütteln, sondern auch die Profession wechseln und endgültig zum Lyra-Virtuosen und rechtmäßigen Nachfolger des himmlischen Hermes mutieren will, dieser Russel also gibt eines seiner selbstgestrickten Meisterwerke moderner Lyrik zum Besten:

»die Toten die Untoten fressen

die schwarzen Wellen

der sieben Weltmeere

spiegelglatt«

Mme Godot wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, während Heizer Hart sich auf die Lippen beißt, um nicht loszuprusten, und der Bordanimateur namens Batman sein Fledermauslachen frank und frei durch die betretene Stille gackert. Indes die junge Schönheit mit dem alten Gesicht und der uralten Stimme bleibt – lyrische Höhen hin, atlantische Tiefen her – bei ihren irdischen Problemen: »Eine Maus! Hab‘ ich mit meinen ureigenen Augen gesehn!«

Aha, verdammt, jetzt – so ganz langsam – kapiere ich, das sind meine eigenen Gespinstgespenster, die mich da in der wasseraufgeweichten Hand haben. Die Hirnwindungen verknäulen sich, Lug und Trug, wilde Schimären gehn mit mir durch! Die rauben mir das Zeitgefühl, lassen alles anfangen zu schwimmen, zerreißen mir die Klarheit des Nautikerbewusstseins, lassen‘s zerfasern, ausfransen und schicken immer wieder irgendwelche ungerufenen Bilder daher. Lassen von jetzt auf gleich alle Farben wegtauchen, alles in Hell und Dunkel, Licht und Schatten sich verwandeln. Lassen die Figuren so eigenwillig schwammige, wellenförmige Bewegungen vollführen, und erwecken in meinem Schädel bei jedem Wort, das diese Untoten da unten über die Lippen stoßen, den Eindruck, als stiegen blubbernde Luftblasen auf.

Wie‘s aussieht, spielen meine Traum- und Trugbilder hundert Jahre danach und gehen einfach mal eben davon aus, dass der Kahn in der Nacht der Nächte denn doch abgesoffen ist. Wahrscheinlich weil ich Idiot dem Eisberg doch ausgewichen bin, besser: versucht hab, ihm auszuweichen, worauf aber das Saustück uns die Steuerbordseite aufgeschlitzt hat. Völlig anderes Szenario: Der Stoff, aus dem die Alpträume sind. Touché! Stahl schrammt über Eis, ein Geräusch wie klirrende Ketten, die Außenhautnieten fitschen weg, als wären‘s Büroklammern, schäumende grüne Wasser strömen hektoliterweise ein.

Während man auf dem Luxusdeck zunächst mal nur ein leises Klirren der Kristallgläser wahrnimmt und einen Lufthauch, als gaukle ein schwarzer Engel durch den Salon. Ein, zwei Stunden später sind schätzungsweise die Hälfte der Passagiere und die Hälfte der Crew tot. Vielleicht. Womöglich gibt‘s auch bloß neun- oder sogar nur achthundert Gerettete. Obwohl, selbst das nur dann, wenn wir mal davon ausgehen, dass die Rettungsboote rechtzeitig zu Wasser gelassen werden und das Manöver diszipliniert vonstatten geht.

Und, um in diesem Fantasiegemälde zu bleiben, nur zwei, drei Rumpfkammern mittschiffs – glorioserweise samt Kessel und Notstromaggregat – sind nicht geflutet worden. Darinnen eine Hand voll Menschlein, die nicht in Panik an Deck gestrauchelt sind, sondern tumb oder willig oder beides ihr Schicksal entgegengenommen und sich in den Tiefen des Salons der Nachtschattengewächse verschanzt haben. Und also ihre bizarre Vorstellung hegen und pflegen, der Kahn sei abgenippelt und auseinandergebrochen. Ein Drittel davon dümple nun mit seinen paar wenigen luft- und wasserdichten Räumen in den Tiefen des Atlantiks einher und sei auch nach diesem elend langsam verstrichenen Jahrhundert noch nicht zur Ruhe gekommen. Wie eine Art U-Boot ohne Antrieb. Von dem eingeschlossenen Luftpaket grade eben in der Schwebe gehalten. Und die paar Gestalten hier wollen nicht nur überlebt haben, sondern über die Jahre unsterblich geworden sein! Wer weiß, vielleicht vom in der verbliebenen Luft stetig sinkenden Sauerstoffgehalt, was bekanntlich den Verwesungsprozess ausbremst.

Klar, ihr Denkfiguren, klar, dass ihr unsterblich seid. Zum Spintisieren braucht man keinen Körper. Zum Spuken erst recht nicht. Da ist er eher hinderlich. Ballast. Aber denkt dran, manch einer, der abgehoben, ohne Leib, aber dafür mit reiner, reinster Vernunft vor sich hingedacht hat, ist schwer ins Stolpern geraten! Einer soll dabei sogar in einen tiefen Brunnen gefallen sein und – Thales, war das Thales? – musste sich das Hohngelächter seiner Hausmagd anhören. Woll‘n mal sehn, ihr knorzigen Kobolde da unten, wer von uns am besten lacht! Und eins ist schon mal klar: Wer am lautesten lacht, lacht noch lange nicht am besten.

»Hurra, unsere Leichen leben noch, lächeln noch. Dead man walking. – Kpow!«, grunzt dieser Batman.

Zentraler Treffpunkt der wässrigen Sippschaft: nach wie vor die zum Rauchsalon ausgerufene Ecke des Speiseraums für Butler und Zofen. Oder wahlweise der Palmenhof. Aber um dorthin zu gelangen, muss man die Unannehmlichkeit in Kauf nehmen, durch das kalte Wasser zu tauchen, das auf Grund der vor vier, fünf Jahrzehnten doch noch eingedrückten Fenster in den Rauchsalon erster Klasse eingedrungen ist. Diese Kaltwasserpassage aber ist nur was für Tage, an denen die Heizung mal wieder überfeuert ist und nicht auf ein erträgliches Maß runtergeregelt werden kann, weil Manfred Hart das defekte Steuerelement nicht in die Gänge bekommt. Tage also, an denen die untoten Titanen das Gefühl nicht loswerden, sie würden doch in der Hölle schmoren und dringend eine Abkühlung gebrauchen können. Jedenfalls: Man trifft sich und plaudert über die alten Zeiten. Wir schreiben das Jahr 2012, den 15. April, die hundertste Jubiläumsnacht, um die keiner weiß, weil sämtliche Uhren stehn geblieben, alle Kalender abgelaufen sind und die Versuche, die Tage mitzuzählen, aufgegeben wurden.

Während also die Schönste aller Brünetten die Sichtung des grauen, kaum radiergummigroßen blinden Passagiers beschwört und der Steward das Gegenteil, schaltet sich jener zigarillorauchende Lackaffe ein, bei dem man wegen seiner leiblichen Größe unweigerlich geneigt ist, sich Sorgen zu machen, ob die Luft, die er dort oben einatmet, nicht zu dünn und also der geistigen Brillanz abträglich ist. Ein ewiglanges Elend, das, wie gesagt, darauf insistiert, Batman genannt zu werden. Überhaupt muss man den Kerl, will man seinem kraftstrotzenden Gehabe Glauben schenken, für einen verirrten, aber maßlos von sich selbst überzeugten Vollender und Vollstrecker halten, der der Titanengalerie entsprungen ist. Auch wenn er mit seinem ausgesprochen winzigen, aus einem überbordenden Muskelberg stechenden Kopf, geziert von rund geblähten, vorm Wind segelnden Ohren, jedem antiken Heldenmythos Hohn spricht. Titan Sorte »seltendämlich«. Jetzt springt der Bursche mit einem Satz auf den Tisch, bückt sich, um sich den kleinen Schädel an der niedrigen Decke des Salons nicht noch kleiner zu stoßen, und verkündet, voll wie eine Haubitze, aber präzise die Stimmlage eines frisch erleuchteten Predigerpaters treffend: »Fledermäuse sind keine Nagetiere! Wow. – Batman steht zu Diensten.«

Was die verzweifelte Braunholde zu der vielleicht etwas dünn und adrenalinverzerrt vorgetragenen Aufforderung verleitet: »Dann voran!«

»Krrrh! – Leidenschaft brennt. – Bratta Bratta. – Brennt eiskalt«, dröhnt Batman von seiner wackligen Kanzel herab und stößt sich jetzt doch den Hinterkopf an einem der Deckenträger.

»Kannz doch sowieso keiner Maus watt zu Leid tun. Ma ehrlich!« Das ist unverkennbar Hart, einziger überlebender Heizer und, wie er jedem, der‘s wissen will, und jedem, der nicht, mit wachsender Begeisterung erzählt, ehedem Abbausteiger auf Zeche Auguste Victoria im deutschen Kohlenrevier an der Ruhr. Mit Leib und Seele Bergmann, aber er musste weg aus Deutschland, führte kein Weg dran vorbei. So jedenfalls die Sachlage aus seiner Sicht. Hat die Flucht ergriffen angesichts der martialischen Aufrüstung von Kaiser, Volk und Vaterland. Weichling oder Pazifist. Das kriege ich aus seinem Palaver nicht so richtig rausgehört, aber die fidele Aufmüpfigkeit der Sprüche, die er sich selbst bei niedrigem Alkoholpegel rausdreht, spricht eher für die zweite Variante. Aus politischen Gründen also seit hundert Jahren auf dem Weg in die Neue Welt. Bis jetzt indes noch nicht angekommen.

»Ein graupelziger Herold! Endlich«, schwärmt Angélique Godot, klappert wieder unentwegt mit der Mokkatasse, die sie auf der Untertasse balanciert, und starrt diesen Fledermaushünen an, der sich soeben anschickt, seine unbequeme Position unter der Decke aufzugeben und vom Tisch übern Stuhl die rettenden Gestade der Salonplanken aufzusuchen. »Endlich ein Bote im Boot. Von oben, von draußen. Ein Kassiber meines Mannes!«

»Ihres Mannes? Madame Godot, ich versteh überhaupt nichts mehr«, gesteht Russel. »Ihr Mann? Den gibt‘s doch längst nicht mehr. Godot ist tot. Um des hohen Himmels Willen, den hab‘ ich doch nicht retten können, hab‘ ich doch schon zigmal zugegeben. Müssen Sie mich denn immer an dieses traurige Kapitel erinnern!«

»Godot lebt«, entgegnet Angélique Godot dem konsternierten Bestatter und ergeht sich in Sehnsuchtsverzückungen – ihre Methode, die endlose Zeit totzuschlagen. »Das Leben gibt es noch! Mein Mann sieht von irgendwo herüber zu mir, sieht mich hier auf dieser Endlosreise und hat ein Wohlgefallen. Und schickt mir zum Zeichen diese Maus. Eine Maus als Lebenszeichen.«

»Unsinn!«, der Steward ist dabei, den letzten Rest Contenance fahren zu lassen, »Unsinn! Von außen kann sie schon gar nicht kommen. Sie wäre längst ertrunken auf dem Weg hierher. Wir sind umgeben von einer 82 Millionen Quadratkilometer großen Wasserfläche. Und wollen Sie mir vielleicht mal sagen, wie eine Maus, wenn sie denn bis hierher zu unserem Schiff durchs Wasser gesprattelt wäre, wie sie durch die Rumpfwände unserer Unterseetitanic eindringen soll?! Sie wollen mir ja wohl nicht weismachen, dass sie die Abflussfontänen unserer beiden Pumpen aufwärts geschwommen ist. Das dürfte selbst für den stärksten und hartnäckigsten der Lachse ein Ding der Unmöglichkeit sein.«

»Na ja«, knurrt Hart, »sind ja noch ganz andre Sachen eingedrungen. Damals. Aber Schwamm drüber.«

»Ich hab‘ sie da unter der Anrichte verschwinden sehn, wenn ich‘s Ihnen doch sage!«, stammelt die schöne Brünette mit immer noch schreckgeweiteten Augen.

Und Mme Godot zirpt: »Solange nur eine Maus lebt, lebt auch mein Mann noch, hat er noch nicht die Sterne von der Stirn gestrichen. Gott weiß wo, aber er lebt.«

»Aber Sie wissen, wissen doch«, stolpert der Totengräber über seine eigene Zunge, »Sie haben doch höchstpersönlich miterlebt, wie er mir aus dem Arm – da können Sie doch jetzt nicht allen Ernstes glauben, dass Godot sich aus dem Jenseits bei uns hier unten meldet, einen Herold aus Fleisch und Blut und Pelz auftreten lässt vor versammelter Mannschaft!«

»Melde: Besatzung des Salons der einsamen Herzen vollzählig zum Mitternachtsappell angetreten: die brünett Gelockte, die auch nach diesen hundert Jahren anonym bleiben möchte; rechts davon Madame Angélique Godot; Heizer Manfred Hart; Mister Ronald Russell, schreibender Bestatter; Bruce Wayne alias Batman; Ernest Steel, Steward im dunklen Livree mit stets frisch gestärktem Kragen. Und meine Wenigkeit: Jonathan Phillips, Erster Funker auf der Titanic, Seiner Majestät King Georges treuester Diener im Endlosruhestand. All on board.«

»Sehen Sie«, rasselt Russell und hustet, als wäre er auf dem besten Weg, sein eigener Kunde zu werden, »Ihr Mann ist nicht dabei, Mme Godot. Eine Tragödie sondergleichen! Aber ich drehe mich im Kreis. Die Worte, mir gehen die Worte aus.«

»Schlecht, Rüssel, verdammt schlecht, für‘s Gedichtedichten. Un für‘s Verschaufeln erst recht!«, grinst Hart. »Aber gezz lass die gute alte Frau Godot doch Jenseitsgeflüster von ihrn Gatterich hören, so viel wie sie will. Macht do nix.«

»So einfach ist das nun auch wieder nicht«, braust der sonst so bedächtige Phillips auf, »die treibt mich zur Weißglut, wissen Sie? Zur Weißglut! Ständig mit dieser scheppernden, klappernden Mokkatasse immer! Ich bin Funker, Himmel noch mal, und Funker haben nun mal ein sensibles Gehör.«

Und damit herrscht erst mal Ruhe im Karton. Jeder hier unten weiß genau, mit dem Funker darf man sich‘s nicht verscherzen; Phillips ist der Einzige, der einem noch wenigstens halbwegs berechtigte Hoffnung machen kann, dass man hier aus diesem hundertjährigen U-Boot heraus jemals wieder Kontakt mit der Außenwelt bekommt. Aus rein dramaturgischen Gründen wäre es natürlich hervorragend gewesen, wenn jetzt, genau jetzt mitten in die Stille aus Anlass des einhundertsten Jubiläums eine Rekonstruktion des Rums geplatzt wäre. In diese Lücke, genau in diese vielsagende sprachlose Lücke hinein der Donnerschlag des Eisbergs, oder im Fall der unsterblichen Titanicbewohner hier, wohl besser: das Knirschen der Eismesser und -meißel, das Schnarren der Raspeln aus Eisgrus, das Kreischen der aufgeschlitzten Rumpfplatten. Quasi als akustisches Erinnerungsspektakel zur Feier des Tages.

Aber wieso, zum Teufel, wieso interessiert mich eigentlich, was in hundert Jahren hier unten im Schiffsbauch los sein mag!? Wo doch verdammt noch mal mein Hier und Jetzt schon reichlich Sprengstoff zu bieten hat. Wahrscheinlich grade deshalb! Weil die Gegenwart, weil dieses Schmoren in der schwimmenden Zelle hier einfach nicht zu ertragen ist.

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Und die Titanic fährt doch

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