Читать книгу Und die Titanic fährt doch - Ulrich Land - Страница 8
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ОглавлениеUnsere Turbine läuft. Läuft wacker. Unüberhörbar. Wir tuckern elend langsam, aber tuckern vorwärts. Sechs Knoten, schätze ich mal. Etwas mehr als ein Viertel der Dienstgeschwindigkeit. Na ja, immerhin. Dann, warte, ja, dann dürften wir New York in sechs, eher sieben Tagen erreichen.
Glutrote Wolkenbänder am Abendhimmel, orangefarbene Hochnebellaken ausgelegt zum Bleichen, Federn aus einem geplatzten Wolkenkissen haben sich planmäßig verteilt und sind zur Ruhe gekommen. Hier und da taumeln immer noch ein paar versprengte Eisbrocken im Wasser, warten träge auf ihr trauriges Ende. Ein breit auseinandergezogenes Trümmerfeld aus zerschlagenen Eisschollen. Verschnitt- und Versatzstücke in allen Größen und allen Weiß-türkis-grau-Schattierungen heben sich nur undeutlich vom grünen Wasser ab, das ansonsten immer noch wie mit einem Abzieher glattgezogen daliegt und dort, wo es nicht von Eiskadavern gestört wird, das selbstvergessene Farbenspiel der Dämmerung verdoppelt. Stille meilenweit. Jetzt schon seit Tagen. Fragt sich, wo sind die Nordmeerstürme hin? Das Wellengetöse, die Wolkentürme? Brauen die, zurückgezogen in irgendeine Teufelsküche, das nächste mordsgefährliche Süppchen zusammen?
In Thule? Das muss doch irgendwo hier sein, da, noch ein Stück weiter den Globus aufwärts. Hinterm Horizont, wo das Brucheis immer dichter wird, wo schmutzigweiße Fladen und Scheiben von Rissen durchzogen eine gellende Nänie anstimmen, wo kreuz und quer verkantete Restklötze sich aufrichten zu Grabsteinen. Im traurigen Gedenken an die todgeweihten Eiskälber, die sich soeben gen Süden auf den Weg machen zu ihrem eigenen Verzehren und Verderben. Hier, wo mit Sicherheit, mit ziemlicher Sicherheit auch der Eisberg herstammt, der unserm Kahn ans Fell gegangen ist. Gekalbt von einer, was weiß ich, 80 Meter hohen Gletscherwand. Hat garantiert drei Jahre gebraucht, der Eisblock, um sich bis in die gottverdammten Gewässer treiben zu lassen, wo er uns dann an den Kragen gegangen ist. Hat sich also losgerissen und auf die Reise gemacht, als die drüben in Belfast bei Harland & Wolff grade mit dem Bau der Titanic angefangen haben. Aber 15.000 Jahre vorher ist er Eis geworden, der Bursche. Hoch oben, irgendwo auf dem grönländischen Buckel. Und hat sich als zäher Eisstrom allmählich, ganz allmählich abwärts geschoben zur Westküste. Durchzogen von einem Labyrinth aus sommerlichen Schmelzrissen, das die spätere Form von unserm Eistrümmerklotz schon vor Jahrtausenden vorgezeichnet hat. Und also, 14.997 Jahre später, kommt er an in Thule, bricht aus seiner Gletscherfront und lässt sich ins Wasser plumpsen. Kracht da in diesen zerklüfteten Friedhof mit offen liegenden Eisskeletten, halsbrecherischen Stapeln weißer Särge, ungeordneten Reihen baufälliger Marmormausoleen. Wo auf allem diese undurchdringbare Grabesstille lastet.
Allmählich verliert das Licht sein Orange. Nur noch ein Schimmer im Westen, dort wo Amerika uns erwartet: das Schiff und die letzten Aufrechten, die die Stellung auf den morbiden Planken halten. Jetzt versickert auch der westliche Lichtstreifen. Das Nachtschwarz fängt an, seinen bleischweren Mantel auszubreiten, während dieser schleunigst schon mal die ersten gelb leuchtenden Knöpfe aufblitzen lässt und, so weich er fällt, doch eine düstre Ahnung davon an den Horizont malt, wozu er fähig ist, wenn man ihn nur machen lässt. Aber niemand will den Mantel der Nacht in Wallung versetzen. Noch nicht. Die vielbeschworene Ruhe vor dem Sturm? Der verschüchterte Mond jedenfalls zeigt sich immer noch nicht. Nicht als noch so dünne Sichel. Obwohl das Himmelsschwarz glasklar ist. Keine Dunstflecken vor den Sternen, die Nebelbänke verflogen, die Wolkenschafe im Stall. Oder? Oder da, huschen da nicht doch feine schwarze Tücher dem Firmament übers Anthrazitantlitz, wirbeln da nicht finstre Flecken einen röchelnden Totentanz durch die Lüfte?
»Position: 67°27‘ Nord, 50°14‘ West«, verzeichnet Phillips mit ausgetrocknetem Füller – in den hundert langen Unterseejahren kein Wunder – mit kratztrockenem Füller im Logbuch, »Strömungsverhältnisse: anhaltende Norddrift. Prognose: Zielposition unterm Nordpol kann in wenigen Tagen erreicht sein.«
»Eine von denen hier, genauso eine«, Madame Godot hat den kleinen Finger wie üblich abgespreizt, während sie sich das dünne Porzellangebilde vor Augen führt, »war jedenfalls eine Mokkatasse. Und die kam damals auf halbem Weg zum Mund plötzlich nicht mehr weiter. Wie in der Luft festgeklebt. Grauenhaft. Die Hand mit der Mokkatasse. War plötzlich ...«
Das lange Laster mit den spitzen Ohren legt ihr irgendwie väterlich den Arm um die Schultern: »Angy, hörn Sie auf zu jammern. Ich bin hier. Batman, Herr der Dunkelheit, Herold des Guten hinterm Schatten, Arm der Titanen. Batman forever! – Pow! Und nun lassen Sie die Vergangenheit und die beschissene Mokkatasse ruhen!«
So ganz dämlich ist der nicht, dieser Batman, muss man zugeben. Scheint begriffen zu haben, dass die Erinnerung nur dann weiterbringt, wenn sie sich auf die Kunst des Vergessens versteht. Komplettes Aufbewahren, totales Konservieren, ständiges Abrufen der Erinnerungen ist ein Akt von Grausamkeit. Vergessen dagegen eine Sache der Würde. Aber Würde hin, Würde her, das Vergessen huscht nie nach hinten weg, ohne Spuren zu hinterlassen. Immer bleibt irgendwo irgendwas. Grausam, wie gesagt, grausam und unnachgiebig.
Damit jedenfalls, dass er des Mokkatassenklagelieds überdrüssig ist, steht der untote Fledermaustitan an Bord meines blauen Zukunfts-U-Bootes keineswegs alleine da. Selbst aus dem Totengräber – ansonsten ausgestattet mit dem Gemüt eines Schaukelpferds – bricht es heraus: »Hätten Sie nicht einmal in all den Jahren, muss einen ja wahnsinnig machen, hätten Sie in all den Jahren dies Mokkatässchen nicht mal irgendwo abstellen können! Stehn lassen. Vergessen. – Jeden Morgen als erstes dies verfluchte Gerappel. Das dröhnende Geklimper von dieser ...«
Womit er allerdings der von ihrer eigenen Gemütsverfassung aufgescheuchten Madame Godot bloß ein dankbares Stichwort geliefert hätte: »Ich meine, das Klirren kennt man ja, dies leise Klirren, wie die Tassen tanzen auf ihren Untertassen, um Bruchteile von Millimetern, ständiger Wegbegleiter auf einer Dampferreise, kennt man ja«, murmelt sie selbstvergessen und stiert auf den auch nach all den Jahren immer noch glitzernden Goldrand des Tässchens in ihrer Hand, »aber wie dieses Klirren plötzlich, urplötzlich anschwoll, ausartete zu rasendem Lärm! Und genau dieses Getöse war … war der erste Ruf von unten aus der Tiefe.«
»Aber trotzdem, Madame«, Russel ballt die rechte Faust und lässt sie doch auf halbem Weg Richtung Tischplatte in der Luft hängen, »noch lange kein Grund, dieses brüllende Klirren die ganze Zeit mit sich rumzutragen, hundert Jahre. Womöglich ein ganzes Jahrhundert. Mittlerweile. Wenn Phillips Zeitschätzung stimmt.«
»Ich übernehme keine Garantie.«
»Meine Güte, Mme Godot, hören Sie endlich auf, auf Ihren Gatten zu warten! Sie können ihm mit keiner noch so klanggewaltigen Mokkatasse ein Lebenszeichen rübermorsen, so leid‘s mir tut. – Eine Bibel, hat keiner eine Bibel zur Hand?«, stammelt Russel weiter, und Madame klappert weiter.
»Kpow«, bellt Batman und knallt eine bleischwere Schwarte auf den Tisch des Hauses.
Und Russel legt mit der seiner Profession gemäßen Würde die Hand aufs Buch der Bücher, stellt sich betont grade hin und intoniert: »Ich schwöre, dass ich Ihnen, wenn Sie nicht sofort … dass ich Ihnen Ihre eigene Hutnadel in Ihre eigene Haut ...«
»Eine Hutnadel?«, schreckt die Brünette auf. »Die Maus, die tödlich spitze Hutnadel, die Anrichte ...«
»Kronch! – Hold me. Thrill me. Kiss me. Kill me.«
»Ich weiß genau«, gesteht Russell, »wie jeder andere hier, wo Sie Ihren Hut abzulegen pflegen. Und so eine graue Haut wie Ihre schreit geradezu nach Verzierung! Wenn Sie nicht ein für alle Male diese Mokkatasse zum Schweigen bringen, dann ich Sie! Darauf heb ich umstandslos drei Finger zum Eide.«
»Sie meinen, Sie wollen mir sagen, Sie wollen mich ...«, mit lautem Klirren geht die Mokkatasse zu Boden und zerspringt in tausend Gedenksteine, »wollen mich ... meuchelmörderisch, rücklings, mit meiner eignen Hutnadel ...«
»In den Nacken. Treffsicher, todsicher. Von Haut versteh ich was, und von finalen Akupunkturpunkten. Sie sind sofort tot! Ohne Schmerzen. Spüren Sie nichts von, garantiere ich Ihnen. Aber, im Namen aller satanischen Heerscharen, Sie werden mich nicht weitere hundert Jahre mit dem Tassengeklimper an die grauenhafte Schmach erinnern, dass ich Godot nicht hab‘ retten können. Dann lieber beide Godots aus den Augen, aus den Ohren, aus dem Sinn.«
»Aber – aber ...«, Mme Godot sieht Russel mit starrem Blick in die ebenso starren Augen und zieht sich, ohne den Blick abzuwenden, eine neue Mokkatasse rüber, hebt sie auf der Untertasse hoch und lässt sie wie gehabt klirren.
Worauf Russel die Hände zum Himmel reckt: »Madame Godot, hören Sie auf mit diesem Geklirr! Wer auf Island zischt ein Bier, wird zur Elfe im Geysir.«
»Flitzkacke nomma«, mischt sich der Heizer ein, »nu hört doch, kehrmanney, hört doch auf! Godotin. Der meintet ernst, unser schreibender Totengräber. Der macht euch platt, so wat von platt, bloß wegen dat bekloppte Geklimper. Un dann liegt er uns in die Ohren wegen sein schlechtet Gewissen dauernd.«
»Sie sollen das – lassen Sie das Geklimper sein. Die Mokkatasse! Ich vergesse mich!« Die feinsinnige Contenance des Poeten jedenfalls scheint er schon vergessen zu haben.
»Nich ‘n Funken Dankbarkeit in Leib! He, Godotin, verdorri nomma, könnt vorn Totengräber Rüssel auffe Knie rumrutschen vor lauter Dankbarkeit, datter Euch vor hundert un sowienoch Jahren dem Deibel vonne Schippe geschubst hat. Wie er Euch runter int Türkische Bad geschleift hat. Dahin, wo er mitgekriegt hatte, datt die Schotten funktionierten, wo dat Schiffsken oder wenigstens dat Stück Schiffsplauze hier dicht un einigermaßen trocken ...«
»Hat er, hat er, als es so richtig eng wurde, das muss man ihm lassen. Wenn einer geistesgegenwärtig war, dann ...«, Phillips beißt seinem eigenen Satz den Schwanz ab, er hat scheint‘s die richtige Seite im Logbuch gefunden, streicht sie glatt, stellt sich steif und stramm hin und zitiert: »00:15 Uhr. CQD. Mayday. SOS. MGY. Position: 41°46‘ Nord, 50°14‘ West. SOS.« Damit schlägt er das Logbuch zu, rekapituliert jedoch weiter, ohne seine stramme Haltung zu lockern: »15. April 1912. Schnelldampfer Titanic, unsinkbar, Flaggschiff der White Star Line, auf Jungfernfahrt vor Neufundland havariert. Platten- und Plankenverbund steuerbordseitig vom Fuß eines Eisbergs zerstört. 2:20 Uhr Schiffszeit: Titanic nach nochmaligem senkrechten Aufbäumen endgültig ...«
»Moment mal, es ist nach unseren Statuten strengstens untersagt, das Missgeschick direkt anzusprechen, geschweige irgendwelche Details auszuplaudern!«, geht der Steward dazwischen, ohne jedoch irgendwas ausrichten zu können gegen den einmal in Fahrt gekommenen Funker.
»... nach nochmaligem senkrechten Aufbäumen endgültig gesunken. Dank selbstlosen Einsatzes seitens des Dritter-Klasse-Passagiers Rod Russell konnten noch im Verlauf des Sinkvorgangs drei Rumpfkammern trotz angeschlagener Schotten vor dem Ozeanzugriff bewahrt werden.«
»Unser Rüssel«, übersetzt Manfred Hart, »unser Rüssel versteht sich nämmich nich nur auffet Dichten, sondern auch auffet Abdichten.« Ein Scherz am Rande, über den er als Einziger zu lachen weiß, dafür aber umso schallender, womit er das betretene Schweigen der anderen mehr als kompensiert. Eins ist jedenfalls sicher: Diese Phantomfiguren hier haben was völlig anderes hinter sich als die Wirklichkeit, die ich erlebt und zu verantworten hab. Die sind tatsächlich abgesoffen. Oder tun zumindest so.
Aber Phillips scharrt mit den Hufen, um seinen Rapport fortzusetzen: »Abgeschotteter Rumpfstumpf des Wracks wird auf halber Höhe über Meeresgrund exakt in der Schwebe gehalten. 1870 Meter unter Normalnull. Willenlos Meeresströmungen ausgeliefert, da zwar ein Heizkessel inklusive Notstromgenerator nicht geflutet, aber die Schraubenwelle zerschlagen. Alle anderen Maschinenräume geflutet oder verschollen, aber Türkisches Bad und die Messe für Butler und Zofen samt Pantry trocken!«
»Die angesoffene Titanic lebt! Wow!«, zieht Batman einen Strich drunter und schüttelt rasselnd seine Fledermausflügel, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen.
»Un nu seht zu, Madame, datt er Euch nich tatsächlich in ‘nen faltigen Nacken ‘ne Nadel setzt!« Hart zieht sich die schwarze, öl- und rußverschmierte Jacke an, was ein nicht zu übersehendes Naserümpfen auf Seiten der selbstredend auf olfaktorische Etikette bedachten Mme Godot hervorruft.
Während Rod Russel die Wände rauf- und runtergeht. »Dass Sie die Mokkatasse schon wieder und immer noch … ein Stich mit spitzer Nadel, um des Himmels Willen, und Sie klappen zusammen wie ein Taschenmesser.«
»Und ab durch die Abfallschleuse ins Wasser! Seebestattung erster Klasse, 2000 Meter tief«, die Zipfel von Batmans Elefantenohren zittern vor Vergnügen, »gurgel glurgh. – Letzte Ehre, wem Ehre gebühret.«
»Ja Scheiße, die Madame tassenklimpert wahrhaftig weiter un weiter un weiter! Un erinnert uns ständig anne ganzen armen Seelen, die von uns gegangen sind. Damals. Fünfzehnhundertdreizehn anne Zahl. Aber Stücker sechs hat der gute Rassel gerettet. Un die Godotsche mitter Mokkatasse is mittenmang dabei. – Un gezz entschuldigt mich«, sagt Hart, stellt mit Befriedigung fest, dass er beim letzten Knopf seiner Jacke angekommen ist, begutachtet noch einmal, ob er sich nicht verknöpft hat, und nuschelt etwas von wegen, er habe im Übrigen was Bessres zu tun, als sich hier an diesem blödsinnigen, ewig gestrigen Schwadronieren zu beteiligen. Seine Maloche erledige sich schließlich nicht von selbst. Worauf er mit seinen abgeschabten Heizerstiefeln ein paar schwere Schritte aufs Parkett dröhnt und den Salon samt Insassen sich selbst überlässt. Und mir.
Aber nichts da! Ich muss jetzt mich erst mal damit befassen, die Spuren meiner unseligen Olympic-Flucht oder – Mist – meines Fluchtversuchs aus dem Weg zu schaffen. Nicht ganz einfach, die gottlob unversehrt gebliebene Vorderseite der auseinandergepflückten Schublade wieder in die Spiegelkommode einzupassen, damit die die Fassade wahren kann und nicht zu erkennen gibt, dass es sich bei dem Schubfach um ein Potemkinsches Dorf handelt. Doch, funktioniert so leidlich. Der restliche Holzschrott am besten unter die Koje!
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