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»Es gibt für die ungeheuerlichen Entgleisungen meines Mannes hieb- und stichfeste Beweise, Eure Majestät. Er ist von Sinnen!« Margarethe Krupp stand noch auf der Schwelle des Audienzsaals, wie mir einer meiner Informanten bei Hofe zutrug – ob du’s mir nun glaubst oder nicht, es war die Zeit damals, wo die ganze Welt mit Spitzeln gespickt war, man musste bloß das Portemonnaie ’n bisschen locker sitzen haben; außerdem, schließlich war’s ja nicht mein Geld –, Margarethe also stand auf der Schwelle des Audienzsaals und war, nachdem sie den Kaiser in einem der pompösen Sessel ausgemacht und das Begrüßungszeremoniell im Eilverfahren abgewickelt hatte, ohne weitere Umschweife zur Sache gekommen. »Ich brauche Euch nicht zu versichern, welch schwerer Angang es für mich ist, solche Anschuldigungen in den Raum zu stellen.«

»Gemach, gemach!«, entgegnete der Kaiser mit beschwichtigend sonorer Stimme. »Welcher Art sind denn die hieb- und stichfesten Beweise, die Sie hier annoncieren? Und um welches Vergehen, meine Beste, handelt es sich eigentlich?«

»An uns, Majestät, an Euch und an mir liegt es, dass wir der öffentlichen Verleumdung zuvorkommen und der Name Krupp so unbeschadet als irgend möglich aus dieser delikaten Angelegenheit hervorgeht. Und deshalb muss ich Euch dringend bitten, Euer Hochwohlgeboren kaiserliches Ansinnen darauf zu richten, dass man meinen Gatten ...«

»Nun?«

»Ihr, Majestät, Ihr müsst ihn ... ich flehe Euch an: Ihr müsst ihn entmündigen!«

»Das ist starker Tobak.« Der Kaiser blickte kurz auf.

Während Margarethe Krupp den Blick senkte und langsamen, nicht im mindesten herrschaftlichen Schritts näher kam. Mit hängenden Schultern und brüchiger Stimme resümierte sie: »Hat er sich im Grunde doch längst selbst entmündigt, jede Zurechnungsfähigkeit verspielt. Das dürfte ihm ja wohl bewusst sein, dass er damit nicht nur seine Existenz, nicht nur den Weltrang des Unternehmens aufs Schafott trägt, dass er nicht nur den seit Generationen unbefleckten Ruf seiner Familie den Schmähungen des Mobs ausliefert, sondern«, und plötzlich war ihre Stimme wieder schneidend klar, und ihr Blick richtete sich geradewegs auf ihr Gegenüber, dem es in seinem Sesselplüsch irgendwie unbequem geworden war, »sondern dass er mit seinem liederlichen Treiben auch Sie, Majestät, Sie allerhöchstselbst als seinen Freund und Förderer in Misskredit bringt.«

Der Kaiser wechselte die übereinandergeschlagenen Beine. »Verehrte Frau Krupp, da müsste wahrlich Ungeheuerliches vorgefallen sein, bevor mit Fug und Recht an der Loyalität Ihres Mannes, an der Loyalität des Geheimen Rats Friedrich Alfred Krupp gegenüber Reich und Kaiser zu zweifeln wäre.«

Sie wäre nicht die Krupp gewesen, wenn sie jetzt aufgegeben hätte. Den Anflug eines Knickses in die Knie legend, wagte sie einen weiteren Vorstoß: »Liegt nicht sogar die Vermutung nah, dass aus dem Vergehen meines Gatten der Keim der Disziplinlosigkeit übergreifen könnte auf die Arbeiterschaft?! Dass auf diesem so prächtig vorbereiteten Boden die Agitation der Sozialisten am Ende selbst im Bürgertum verfangen könnte?!«

»Nicht auszudenken.«

»Majestät, wenn ich in dieser schändlichen Sache eine andere Möglichkeit sehen würde als die, meinen armen, verirrten Mann von seiner großen, übergroßen Verantwortung zu befreien ...! Aber eine Entwürdigung diesen Ausmaßes muss Entmündigung nach sich ziehen! – Was nun die Beweise anlangt, Eure Majestät: Es existiert eine absolut desavouierende Fotografie, die meinen Gatten in unmissverständlicher Pose im Kreise graziöser Capreser Jünglinge zeigt.«

Der Kaiser räusperte sich. Langsam schien er zu begreifen, mit was für Dimensionen er es hier zu tun bekam. Er lüpfte kurz den Allerwertesten aus den schwammigen Polstern, um sich grade zu setzen, und streckte, leise ächzend, den Rücken durch. »Lassen Sie die Sache auf sich beruhen! Übergeben Sie mir die Fotografie, ich selbst werde mir die angemessene Behandlung dieses Casus vordringliches Anliegen sein lassen.«

»Ich würde es mir nie verzeihen«, sprang ihm Krupp, die Holde, untertänigst bei, »Dero großmächtiges Engagement über Gebühr strapaziert zu haben.«

»Nein nein. Ehm, doch doch. Legen Sie das Corpus Delicti in meine Hände, Frau Krupp, und ich werde den kaiserlichen Schild über Ihre Familie und das Unternehmen halten!« Und dann hieß Wilhelm sie durch einen kaum erkennbaren Wink seiner Rechten näherkommen, beugte sich weit nach vorn und gab ihr mit vertraulich leiser Stimme zu verstehen, sie möge sie ihm mal eben zeigen, die Fotografie.

Worauf die Kruppsche mit leicht chargiertem Entsetzen zurückwich. »Aber Majestät, Ihr werdet verstehn, dass ich solche Schmutzpapiere nicht im Mieder am Herzen trage.«

»Wollen Sie mir sagen«, der Kaiser war hellhörig geworden, »wollen Sie mir sagen, dass besagte Fotografie gar nicht existiert und nichts ist als eine Fantasiegeburt gekränkter weiblicher Eitelkeit?!«

»Was glaubt Ihr von Eurer allerhöchst Ihnen zutiefst ergebenen Untertanin!«

»So lassen Sie mir die Aufnahme umgehend zukommen!« Wilhelm drohte, ungehalten zu werden, hatte sich aber schnell wieder im Griff. »Ich werde mich für eine diskrete Behandlung der Sache verwenden.«

»Zu gütig, Majestät, aber ...«

»Bedenken Sie, dass Ihr Gatte stets im Höchstmaß an Leib und Seele geläutert von Capri heimkehrte und die Geschäfte mit gewohntem Verantwortungsbewusstsein wieder aufnahm. Das wird auch fürderhin nicht anders sein, da können Sie ganz beruhigt sein. Und nun vertrauen Sie sich für die Rückreise meinem Kutscher an!«

»Hochwohlgeboren, Eure gehorsamste Dienerin empfiehlt sich«, empfahl sich Margarethe und verließ, Knickse aufs Parkett verteilend, den Salon, während der Kaiser ihr ein »Gehaben Sie sich wohl!« hinterherhüstelte.

Kaum aber war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, da hämmerte Majestät gedankenverloren einen funkenstiebenden Rhythmus auf die Klingel, und sofort flog die gegenüberliegende Tür auf. Mit servilen Verbeugungen kam sein, ich nehme mal an: persönlicher Adjutant angebuckelt.

»Sie sagten heute früh«, murmelte der Kaiser immer noch ziemlich in Gedanken, »sagten Sie nicht, als wir heute früh über die Verirrungen Friedrich Alfred Krupps sprachen, sein Arzt hätte Ihnen eine allererste Adresse für solche Fälle gegeben?«

»Sehr wohl, Euer Majestät.«

»Also?«

»Die Nervenheilanstalt des Professor Binswanger in Jena.«

»Dann très vite, bestellen Sie meinem ersten, oder nein, meinem zweiten Kutscher, er solle Sorge tragen, dass man Frau Krupp stante pede zur Heilanstalt nach Jena expediere! Und lassen Sie umgehend an Herrn Krupp telegrafieren, dass seine Frau unter dramatischer Geistesverwirrung leide und nach Rücksprache mit den Ärzten ein Sanatoriumsaufenthalt kaiserlicherseits angeordnet worden sei. – Und wenn Sie schon mal dabei sind: Lassen Sie in das Telegramm den Hinweis aufnehmen, dass seine Frau Margarethe über eine ihn dekuvrierende fotografische Aufnahme verfüge. Er möge sich also um eine Sicherstellung dieser Fotografie bekümmern, in seinem eigensten, seinem ureigensten Interesse.«

»Sehr wohl, Majestät«, sagte der Adjutant und wollte eben abtreten, als Wilhelm noch mal anhob: »Und schicken Sie das Telegramm nicht unter dem offiziellen kaiserlichen Absender. Ich denke, wir haben uns verstanden.«

Nun ist auch diese Überlieferung nicht wirklich verbürgt. Und trotzdem wollen wir sie so stehen lassen, wie Großvater Fahrenhorst sie sich – wir wissen nicht aus welchen Quellen gespeist – zusammenreimte. Hätte sich die Szene nicht auf diese Weise abgespielt, so müsste man die Zeit zurückdrehen, die Historie korrigieren und sich das Ganze eben doch exakt getreu dieser seiner Ausführungen zutragen lassen! Einfach nur, weil es so perfekt passt. Womöglich ist das auch der Grund, weshalb ich mich noch aufs Jota an den Wortlaut seiner Erzählungen erinnere, obwohl inzwischen auch schon wieder über vier Jahrzehnte ins Land gegangen sind, seit er mir die Geschichte anvertraute.

Andere historische Quellen wollen, wie mir inzwischen zu Ohren gekommen ist, glauben machen, dass nicht der Kaiser es war, der Margarethe Krupp in die Jenaer Psychiatrie verbringen ließ, sondern ihr Gatte Friedrich Alfred. Wenn auch auf des Kaisers Anraten hin! Dieser soll Krupp mitgeteilt haben, dass man in Berlin weniger ihn, Friedrich Alfred, denn vielmehr seine Frau Margarethe als die eigentliche Gefahr betrachte. Könne doch nicht ausgeschlossen werden, dass sie, verletzt und gedemütigt, wie sie augenscheinlich sei, querschieße bei den ohnedies höchst diffizilen Bemühungen, den um seine, Krupps, Person brodelnden Gerüchtesumpf trockenzulegen und das ganze Debakel in ein anderes, ins rechte Licht zu rücken.

Obwohl sich an dieser Stelle die Frage erhebt, ob denn tatsächlich angenommen werden kann, dass Friedrich Alfred in seiner desolaten Verfassung im Herbst 1902 derart unverfroren gegen seine Frau vorgehen würde. War seine Persönlichkeit nicht weit eher darauf ausgelegt, die Anwürfe gegen sich selbst zu richten und schleunigst die Flucht anzutreten? Selbst wenn der Fluchtpunkt sein eigenes Herz wäre.

Unstrittig ist auf jeden Fall die Tatsache, dass die Krupps ein besonderes Verhältnis zu Professor Binswanger in Jena unterhielten, der seinerzeit als einer der Apologeten der zeitgenössischen Neuromedizin galt. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass Margarethe Krupp einfach nur aus persönlicher Verbundenheit zu Binswanger gefahren ist, um sich Rat zu holen. Und nicht auf kaiserliche Weisung hin. Mag sein, mag alles sein.

Aber noch einmal: Die mir seinerzeit von meinem Großvater übermittelte Variante mit der höchstkaiserlichen Einweisung ist – wenn auch vielleicht nicht bis in die letzte Verästelung hinein historisch belegbar – dramaturgisch um Längen interessanter und soll hier weiters unhinterfragt für bare Münze genommen werden.

Dass jedenfalls Margarethe Krupp sich bis zum Tode ihres Mannes in Jena aufhielt, ist zweifelsfrei überliefert. So vermeldete die Rheinisch-Westfälische Zeitung am 24.11.1902 – Zitat: »Frau Krupp, welche seit längerer Zeit leidend ist und bei Prof. Binswanger in Jena in Behandlung war, traf Sonntagvormittag [...] auf dem hiesigen Hauptbahnhof ein.«

Damit nun ist ein Punkt erreicht, wo nicht mehr zu übersehen ist, dass es hier in dieser ganzen verknoteten Geschichte aber auch nicht einen einzigen Beteiligten gab, der nicht mindestens einen guten Grund gehabt hätte, Friedrich Alfred Krupp ans Leder zu gehen! Angefangen von irgendwelchen zerstrittenen Clans auf Capri, über welchen düpierten Galan auch immer, bis hinein in die engste Familie und die höchsten Staats- und Industriekreise. Nicht einer, der nicht ernsthaft in Frage kommt! Fantasiegespinste meines Großvaters hin oder her.

Krupps Katastrophe

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