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Die Eroberung des Westens
ОглавлениеIronischerweise war es der Islam, der den europäischen Barbaren die vergessenen Bücher der griechischen Philosophie und Wissenschaft wieder zugänglich machte. Sie wurden jetzt neu aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt und setzten einen Prozess der Gärung in Europa in Gang. Die römische Kirche konnte diese Entwicklung, die ihrer eigenen Logik und ihren eigenen Gesetzen folgte, nicht länger in Schranken halten. Mit dem Aufkommen der industriellen Revolution und dem unkontrollierten Wachstum der angewandten Wissenschaften wurden unendliche Energien und neue Ideen freigesetzt. Sie schufen neue Instrumente und vor allem neue Waffen, die sehr wirksam zur Eroberung und Ausbeutung eingesetzt werden konnten.
Die arabische Welt, die damals eher auf sich selbst bezogen war und sich möglicherweise auch allzu selbstbewusst gab, erkannte viel zu spät, was da im Gang war. Sie wurde Opfer der neu erstarkten Kriegsmaschinerie der Europäer. Es gab zwar heroischen Widerstand gegen die europäischen Eroberer – etwa vom Emir Àbdu`l-Qadir in Algerien, von Schamyl im Kaukasus, Dipo Nagaro in Indonesien und dem „Mahdi“ im Sudan – aber mit dem Ende des Ersten Weltkriegs befand sich fast die gesamte islamische Welt unter fremder Herrschaft.
Was da passiert war, das war mehr als nur eine physische Eroberung. Diejenigen Völker, die bislang ihre Spuren in der muslimischen Welt hinterlassen hatten, waren entweder militärisch stark, aber kulturell schwach – wie etwa die Mongolen – oder umgekehrt. Jetzt aber, bei ihrem Zusammenstoß mit der westlichen Macht, stießen die Muslime auf physische Stärke, verbunden mit kultureller Dominanz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen sich die Europäer aus Arabien wieder zurück, hinterließen jedoch viel Verbitterung. Die arabischen Reiche fielen aus einem Mangel an Willenskraft und Erschöpfung nach zwei großen Kriegen in sich zusammen, neue Blöcke bildeten sich. Und trotz der nach dem Zweiten Weltkrieg gewonnenen Unabhängigkeit sind mit wenigen Ausnahmen wie in Algerien und dem Iran westliche Werte immer noch eher der Standard. Die islamischen Länder nehmen es mehr oder weniger hin, dass nach den Regeln gespielt werden muss, die von der westlichen Zivilisation aufgestellt wurden.
Man mag Muslim, Hindu, Buddhist oder Indianer-Schamane sein. Nur eine Bedingung ist verpflichtend für alle – man muss sich „zivilisierten Werten“ anpassen, um nicht als „rückständig“ verdammt zu werden. Entscheidend war demnach nicht die Unterwerfung der islamischen Länder durch ihre Kolonialherren im 18. und 19. Jahrhundert, entscheidend war, wie der Verstand und Geist der Völker kolonisiert wurde.