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Geleitwort

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Im November 1964, soeben von einem dreijährigen US-Aufenthalt als Fulbright Stipendiat nach Deutschland zurückgekehrt, rezensierte ich für ›Die Zeit‹ (20. November) unter dem Titel ›Die Tugend des Neinsagens‹ Ulrich Sonnemanns Rowohlt-Taschenbuch ›Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland‹. Ich begann damit, den starken Eindruck zu schildern, den das lebendige politische Klima des öffentlichen Lebens in den USA auf mich, den soeben promovierten Studenten der Politikwissenschaft, gemacht hatte: »Das hohe Niveau der Publizistik, die Qualität und Schärfe journalistischer Kritik, vor allem aber die Beteiligung und das Engagement von Individuen und Gruppen am politischen Leben im allgemeinen und ihre spontane Aktivität bei Streitfragen im besonderen. […] Die Vereinigten Staaten wären nicht sie selbst ohne die spontan ›von unten‹ organisierten Sitzstreiks im Rassenkampf, ohne die es heute kein Bürgerrechtsgesetz gäbe. Das Wichtigste an diesen Erscheinungen ist, daß sie außerhalb, neben und unterhalb parteipolitischer Organisationen entstehen und daß sie sowohl von der Gesellschaft als Ganzem als auch von den Regierenden und Herrschenden toleriert, nicht aber als störender Sand im demokratischen Getriebe betrachtet werden.« Und ich kontrastierte diese persönliche und mich bis heute dauerhaft prägende Erfahrung mit dem damaligen Deutschland: »Als Berliner Studenten gegen die Wiederwahl Bundespräsident Lübkes zunächst spontan und ›unangemeldet‹ (man denke sich nur!) auf dem Kurfürstendamm demonstrierten, wurden sie sowohl von ihren Mitbürgern beschimpft (so etwas gehört sich nicht – noch dazu gegen den Bundespräsidenten!), als auch dann von der Obrigkeit arretiert zwecks Feststellung der Personalien … Ich möchte so weit gehen zu sagen, daß die ganze Crux demokratischen und intellektuellen Lebens im (heutigen) Deutschland darin besteht, daß spontane und organisierte Aktivitäten, politische Demonstrationen von Minderheiten und sogar eine kritische bis ›destruktive‹ Beurteilung des Bestehenden außerhalb der dafür ›zuständigen Instanzen‹ gesellschaftlich nicht akzeptiert sind. Kritik muß ›konstruktiv‹ sein, öffentliche Demonstrationen gehören sich nicht, und politische Aktivität soll sich gefälligst der dafür zuständigen Kanäle, nämlich der Parteien bedienen.« Das war 1964, im Erscheinungsjahr der ›Einübung‹.

Überall hatte Ulrich Sonnemann – 1955 nach vierzehn amerikanischen Jahren nach Deutschland zurückgekehrt – in dem sich konsolidierenden Nachkriegsdeutschland der Bonner Republik unter Konrad Adenauer eine Subalternität erfahren, die ihn erschreckte; ihre Erscheinungsform eine »einheitliche Banausokratie«1, ablesbar an der blinden Gesetzestreue, sichtbar am Straßenverkehrsverhalten vor einer roten Ampel an einer verkehrslosen Kreuzung – »Trägheit der Seelen«2 nannte er das, wo der Einzelne sein gesellschaftliches Verhalten nach den »öffentlichen Verhältnissen«3 ausrichtet und die autonome Vernunftentscheidung vermeidet. Nichts Geringeres als eine habituelle Fundamentalveränderung sei das Gebot der Stunde in diesen frühen Jahren der Bundesrepublik, eine Revolution, deren Radikalität sich nicht mit dem Umsturz der Institutionen zufrieden gibt, sondern die Politik selbst, das Politische als Quellgrund gemeinsamen Handelns neu bestimmt und lebt. Das aber kann nur glücken durch »eine Vermenschlichung des deutschen Normalverhaltens, eine erneute Menschwerdung des Durchschnittsdeutschen«4.

1964 durfte einem da schon der Atem stocken: eine solche Sprache und Begrifflichkeit lag jenseits der Terminologien der frühen 1960er Jahre. Sie ermutigten und entmutigten zugleich. Ersteres mit der geistesgeschichtlich begründeten und legitimierten Symbiose von historischer Aufklärung und deren in die Wirklichkeit der Gegenwart drängenden Aktualität (»Die Stunde schlägt jetzt«5) – entmutigend aber die nüchterne Wahrheit, daß »ein Umbau der deutschen Verhältnisse […] nur Schritt um Schritt von innen nach außen erfolgen [kann], durch Gedächtnis- und Gewissensstärkung, seelische Mobilisierung der Menschen«6 – also durch Arbeit am und im Geistigen, wo Resultate am schwersten zu messen sind … Und das unter den Bedingungen von Wirtschaftswunder und ökonomisch-sozialem Optimismus der Adenauer-Erhard-Jahre. Sonnemann: »Ein solcher Umbau wiederum beginnt aber gar nicht, solange mit den jetzigen Verhältnissen so viel Zufriedenheit herrscht, daß er gar nicht gewünscht wird.«7

Ulrich Sonnemann ist kein ›kritischer Kritiker‹ der Negation und der Krise der Moderne; das ist er auch, vor allem in bezug auf das Deutschland, das sich aus dem Trauma des Nazismus zu befreien suchte – und da setzte er systematisch und soziologisch so gut wie psychologisch auf Wege aus der Katastrophe. Die positive Besetzung des Begriffs vom Ungehorsam ist dafür bezeichnend und emblematisch. Allerdings macht er es seinen Lesern und Leserinnen nicht leicht – damals nicht und den heutigen nicht minder, ja diesen vielleicht sogar noch schwerer, seit die Frankfurter Schule (zu der er nicht gehörte, wohl aber zu deren weiterem Umkreis) aus der intellektuellen Mode gekommen ist. Eine Maxime wie die beispielhaft folgende muß man sorgfältig und mehrfach lesen, um hinter ihren tieferen Sinn zu kommen: Für die Vorbilder neuer Verhaltensmodelle in Deutschland müsse als Handlungsmaxime gelten »die Entgötzung aller Ordnungen, die eine Unordnung verbergen, also ihren Grund vor der Autorität des Gewissens und des Geistes nicht zu benennen vermögen«8. Wenige Sozialphilosophen (wenn wir Sonnemann so nennen dürfen) waren in jenen Jahren der intellektuellen Rekonstruktion deutscher Identität nach dem Alptraum des Faschismus so sprachbewußt wie er. Vom »veränderten Gebrauch der Sprache«9 als unerläßlicher Voraussetzung für die geistige Hygiene eines demokratischen Deutschland ist wiederholt die Rede – nicht nur die Rede, sondern auch deren Gebrauch in den eigenen Texten (bei Sonnemann habe ich erstmals, 1968, die heute weitgehend durchgesetzte Gender-Sprachregelung von »Studenten und Studentinnen«10 gefunden). Das macht auch und nicht zuletzt die Schwierigkeit seiner Texte aus. Zusätzlich erschwert wird die heutige Lektüre durch die selten ausgeführten aber reichlich eingearbeiteten Bezugnahmen auf damals aktuelle tagespolitische Ereignisse, Konflikte und Diskussionen: Sonnemanns Essays sind trotz ihres hohen Abstraktionsgrades durchweg empirisch gesättigt.

Dieses im Umfang bescheidene Buch ist, wie der vom Verlag vorgeschlagene Titel deutlich macht, ein konstruktiver Diskussionsbeitrag: Ungehorsam als demokratische Tugend. Das war damals, in den sechziger Jahren, nicht so sehr eine Provokation als vielmehr eine inkommensurable Forderung, die quer lag zu allem, was als traditionelle deutsche Tugenden galt – gehorsam dem Gesetz, gehorsam der Autorität. Wie sieht es damit heute, also mit Sonnemanns Aktualität, aus? Wurde sein bei aller Komplexität seiner Sprache leidenschaftliches Plädoyer für die Unbotmäßigkeit, die »Fronde«11, wie er ausführt, für Widerstand und Aufklärung im Kantschen Sinne des eigenen Vernunftgebrauchs, seitdem gehört und gelebt? Hat sein Vernunft-Appell die »verdrängte Menschlichkeit des Deutschen«12 aus ihrer Verkrustung befreit? Sind wir Deutschen – ein halbes Jahrhundert nach Sonnemann – demokratischer, ungehorsamer geworden? Es wird sich empirisch nicht belegen lassen, daß oder ob Sonnemanns viel zu wenig rezipiertes Werk dazu oder wenigstens in den Köpfen und Herzen einiger weniger einen Beitrag geleistet hat – aber die Wege des Geistes gehen immer ihren eigenen Gang und folgen ihrem eigenen verborgenen Kompaß. Tatsache ist – oder jedenfalls scheint es im Jahr 2012 dem späten Wiederleser des Buches von 1964 so zu sein –, daß die Deutschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts in der Tat sich in die Tugend des Ungehorsams eingeübt zu haben scheinen. Einen die Öffentlichkeit »nachhaltig beunruhigenden Studentenstreik«, den Sonnemann in Deutschland – im Unterschied zu Frankreich – mit Bedauern am Ende seines Buches vermißt, er wurde schon kurze Zeit später Wirklichkeit und ist es bis heute in der deutschen politischen Landschaft geblieben; so versteinert wie er damals das deutsche Parteiengefüge sah – zum Beispiel, daß neue Parteigründungen chancenlos geworden seien –, ist diese Gesellschaft dann doch wohl nicht, wenn eine ökologische Partei wie die ›Grünen‹– einzigartig in Europa! – zur Regierungspartei werden konnte und möglicherweise nun auch eine Anti-Partei wie die ›Piraten‹ in die Parlamente einzieht; und wenn ein amerikanischer Präsident, George W. Bush, auf die Pressekonferenz-Frage nach dem Beitrag Deutschlands zum Irakkrieg abschätzig antwortet, auf die Deutschen sei kein Verlaß, »they are pacifists«, dann kommen wir der zarten Utopie Sonnemanns, an die er selbst damals wohl kaum geglaubt hat, nahe mit seiner sehr langfristig angelegten Hoffnung auf Deutschland als »geschichtsfähig, endlich frei, was doch ein Novum wäre, ja nicht mehr und nicht weniger als eine späte europäische Sensation«13.

Und dann war da 2011 ›Stuttgart 21‹, der wohl dramatischste und emblematischste Demokratie-Konflikt seiner Art, von dem alle Beteiligten und Beobachter der Meinung sind, daß hier eine historische Epoche ihren Anfang – oder ihr Ende – gefunden hat: das Ende der gehorsamen Hinnahme politisch-administrativer Entscheidungen der politisch-ökonomischen Klasse und den Anfang eines neuen, selbstbewußten politischen Bürgertums. Den inzwischen gebräuchlichen Begriff vom »Wutbürger« würde Sonnemann vermutlich nicht übernommen haben, wohl aber hätte er, so steht zu vermuten, enthusiastisch Stéphane Hessels Appell »Empört Euch« aufgenommen und programmatisch verarbeitet. Von einer schleichenden »Diffamierung des Dagegenseins«14 als einer historischen Konstante der deutschen Identität wird man heute nicht mehr sprechen können: Die »an die Wurzel des Menschseins, des humanen Verhaltens« gehende »Verfemung des Opponierens«15 wurde spätestens ein knappes Halbjahrhundert nach Sonnemanns philosophischem Wachruf historisch überwunden. »1968« hat er noch die Anfänge der Studentenbewegung mit Sympathie und konstruktiver Kritik begleitet und Wege aufgezeigt, für die die ›Einübung‹ ebenso zu zeitig gekommen war, wie es seinen Reflexionen ein halbes Jahrzehnt später ergehen sollte. Im Unterschied zur marxistischen Perspektive der subjektiv revolutionären Bewegung – nach wie vor spannend und lesenswert seine auf hohem Niveau geführte Auseinandersetzung mit Rudi Dutschke (›Dutschke und Augstein‹, 196816) – insistierte Sonnemann jetzt auf der Rekonstruktion des theoretischen und gewaltfreien praktischen Anarchismus, und er gibt sich und eben diese Sache nicht für geschlagen: Die politisierten Studenten, die »ein gewaltloses Deutschland wollen«17, hätten eine taktische Schlappe erlitten, aber »besiegt«, sagt er, »sind sie nicht«18. Wer aber von Gewaltfreiheit spricht, der darf vom Staat nicht schweigen: »Seit Auschwitz ist Problem: der Staat schlechthin.«19 Die praktischen Vorschläge, die Sonnemann der sich formierenden Protestbewegung für ihren Weg öffentlicher Manifestation gibt (»Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland«, 196820) sind geradezu wunderbar konkret: »Gewalt ist nur in Notfällen zu rechtfertigen und auch dann meist prekär. Zur Vorbereitung gegen deren Eintritt ist ihre systematische Diskreditierung, Lächerlichmachung, bis heute in Deutschland noch von keiner Gruppe der Gesellschaft versucht worden. Der Versuch sollte daher gemacht werden.«21

Dieser »Versuch« aber wird seitdem nicht nur in Deutschland, sondern weltweit gemacht. Seit den 1990er Jahren (es wäre pedantisch und unhistorisch, sich da auf einen Zeitpunkt festlegen zu wollen) hat sich das Phänomen aktiven bürgerlichen Engagements bisher passiver Bevölkerungen weit über Deutschland und Europa hinaus wie ein Buschfeuer ausgebreitet: Von den Massenprotesten gegen den iranischen Wahlbetrug über den »arabischen Frühling« 2011 und die weltweite Occupy-Bewegung bis hin nach Rußland, China und Indien, von scheinbaren Nebenschauplätzen wie Israel oder Myanmar ganz zu schweigen: Diese basisdemokratischen Bewegungen haben überall faszinierend kreative Formen der Subversion staatlicher Autorität hervorgebracht. Keine globale Konferenz ohne lautstarke, spaßvolle, ironisch-entlarvende Kommentierung durch weltweit vernetzte Initiativen vor Ort und damit gegebene Medien-Öffentlichkeit. Für Optimisten ist die Perspektive selbstbewußter Autonomie (Anarchie = Selbstregierung = Demokratie ohne Regierung; siehe David Graeber, ›Fragments of An Anarchist Anthropology‹, Chicago 2004) eine realistische und ernsthafte Hoffnung für das einundzwanzigste Jahrhundert, weil sie auch die Chance enthält, mit jenen gewaltigen Problemen fertigzuwerden, an denen die etablierten politischen Klassen derzeit so schmählich versagen: Klimaschutz, Umwelt, Hunger, Waffenhandel, Ressourcen- und Energie-Verschleuderung bei dramatisch wachsender Weltbevölkerung. Sie können sich dabei – wenn sie es wollen – auf den zu unrecht vergessenen Vordenker Ulrich Sonnemann berufen.

Ekkehart Krippendorff Berlin, im Januar 2012

Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

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