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Wie frei sind die Deutschen?

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Gespräch zwischen Ulrich Sonnemann und Dieter Hasselblatt (1964)

Dieter Hasselblatt: Herr Dr. Sonnemann, Sie leben in München; würden Sie gern woanders leben?

Ulrich Sonnemann: Es gibt manche Orte auf Erden, an denen ich von Zeit zu Zeit gern leben würde. So fahre ich etwa – meistens jetzt nur alle paar Jahre – immer wieder mal nach Amerika. Aber im ganzen hat es mich Zeit meines Lebens nach Deutschland gezogen und nach München. Also nehme ich an, daß es seine Gründe hat, auch seine existentiellen Gründe, von denen ich selbst ja gar nicht allzuviel zu wissen brauche, daß ich hier lebe.

Dieter Hasselblatt: Ja, Sie leben aber dann in einem Land, das Sie selber heftig attackiert haben – in Deutschland. Ungefähr gleichzeitig mit dieser ›Spiegel‹-Affäre, die uns alle beschäftigt hat, erschien Ihr Buch ›Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten‹1. Dieses Land ist Deutschland. Diesem Land kann man, so sagen Sie, unbegrenzt viel zumuten. Für Sie, Herr Dr. Sonnemann, ist Deutschland also ein Land ohne »Rückgrat«2. Und trotzdem haben Sie sich dazu entschlossen, hier zu leben. Ist das kein Widerspruch?

Ulrich Sonnemann: Das ist wahrscheinlich ein Widerspruch, aber, wie ich hoffe, doch einer, den ich ziemlich leicht auflösen kann. Denn für meine Begriffe gehört es eben zu der Loyalität gegenüber einem Volk, einer Gesellschaft, der man entstammt, daß man Zustände, die etwas Intolerables in sich haben und von denen gezeigt werden kann, daß sie dies haben, daß man diese Zustände attackiert und nach seinen Kräften sich bemüht, für ihre Besserung zu sorgen.

Dieter Hasselblatt: Der ›Spiegel‹ nannte Sie im April 1963 Deutschlands »Nationalpsychologen«3. – Sie sind 1912 in Berlin geboren, studierten in Deutschland, in der Schweiz, promovierten 1934 in Basel. Durch das Hitler-Regime wurden Sie gezwungen, Deutschland, und dann durch die Kriegsereignisse auch Europa zu verlassen. In den USA waren Sie als klinischer Psychologe und Professor für Psychologie in New York tätig. Sie machen hier bei uns keinen Gebrauch von Ihrem Professoren-Titel?

Ulrich Sonnemann: Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder in eine Situation komme, in welcher ich von diesem Professoren-Titel Gebrauch machen, auf eine praktische Weise Gebrauch machen kann, insofern ich in einer solchen Situation meine Lehrtätigkeit eben wieder ausüben würde. Aber gerade das Fach, in dem ich sie in Amerika ausübte, ist gegenwärtig von geringerem Interesse für mich. Psychologie war ursprünglich in der Kombination meiner Studienfächer auch durchaus Nebenfach. Es waren wieder mehr Gründe in meiner Existenz-Situation in den frühen Vierzigerjahren, die mich bewogen, drüben die Karriere eines klinischen Psychologen zu ergreifen, der ich allerdings manches verdanke; unter anderem auch eben Einblicke in die Grenzen der klinischen Psychologie und der Psychologie überhaupt.

Dieter Hasselblatt: Sie haben, glaube ich, einige Bücher in diesem Arbeitsbereich, aus diesem Erfahrungsbereich veröffentlicht drüben?

Ulrich Sonnemann: Ja, das letzte war ›Existence and Therapy‹4. Das hat auch in Europa am meisten gewirkt, so um die Mitte der Fünfzigerjahre.

Dieter Hasselblatt: Dann waren Sie aber schon zu uns hier nach Deutschland wieder herüber gekommen?

Ulrich Sonnemann: Das war etwas bevor ich nach Deutschland zurückkam. Ich kam nach Deutschland zurück – nachdem ich vorher schon einmal besuchsweise hier gewesen war, 1950 – im Jahre 1955, und das Buch war 1954 erschienen.

Dieter Hasselblatt: Ja, würden Sie sagen, daß also dieses Wort des ›Spiegels‹– Sie sind Deutschlands »Nationalpsychologe« – boshaft gemeint ist? Oder stimmt das irgendwo?

Ulrich Sonnemann: Ich weiß nicht, ob es boshaft ist. Ich bin nicht einmal sicher, daß es boshaft gemeint ist, und noch nicht einmal, daß es nicht stimmt, aber ebensowenig, daß es stimmt. Es ist eigentlich eine Frage, die ich lieber meinen Biographen überlassen würde, sollte es solche jemals geben. Mich selbst interessiert sie eigentlich wenig.

Dieter Hasselblatt: Der ›Spiegel‹ prophezeite damals, daß Ihr Verlag »Schwierigkeiten« mit dem Absatz dieses Buches haben würde5. Und beim Lesen Ihres Buches gibt es ja gewisse Schwierigkeiten, weil Sie einen nicht sehr gefälligen und nicht sehr journalistischen Stil schreiben. Sie schreiben einen Stil, der gewisse Schwierigkeiten bringt. Und trotzdem hat sich die Prognose nicht bewahrheitet: Ihr Buch ›Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten‹ hat sich eine ganz lange Zeit auf den Bestseller-Listen gehalten. Wie erklären Sie sich das?

Ulrich Sonnemann: Ja, nicht ich bedarf ja in diesem Fall der Erklärung, da ich an jener Prognose gar nicht teilgenommen hatte. Der ›Spiegel‹ war da in der Gesellschaft mancher anderer, die auf die gleiche Weise und im gleichen Sinn geirrt haben. Es ist wahrscheinlich richtig, daß das Buch sehr wenig journalistisch geschrieben ist. Ich weiß bereits nicht, ob es nicht gefällig geschrieben ist; das bedeutet ja, daß es nicht gefällt, aber anscheinend hat es doch gefallen.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen in diesem Buch, die Bundesdeutschen »verdienen« ihren demokratischen Staat nicht. Sie sollten »wahrnehmbar Freie« sein, und Sie nehmen diese Freiheit nicht wahr.6

Ulrich Sonnemann: Ich nehme diese Freiheit als spontane Eigenschaft der Menschen selber allzu wenig wahr in Deutschland. Die Freiheit scheint mir auch und gerade in der Bundesrepublik, in diesem Sinn sogar nur in der Bundesrepublik, Institution zu sein, eine von westlichen Demokratien übernommene Einrichtung. Die Freiheit als Eigenschaft der Menschen selber finde ich allzu wenig.

Dieter Hasselblatt: Und Sie wohnen trotzdem in diesem Land hier, in dem es so wenig Freiheit, verwirklichte Freiheit gibt?

Ulrich Sonnemann: Nun, die Freiheit als Institution besteht ja, und was diese andere betrifft, so kann man ganz gewiß als Schriftsteller, als Publizist für sie kämpfen. Man kann zunächst selbst, soweit man sie hat, von ihr Gebrauch machen, insofern unter Umständen sogar eine Art Modell setzen.

Dieter Hasselblatt: Sie betrachten sich also selbst als einen jener Literaten, von denen Sie in Ihrem Buch sagen, die Literaten seien heute die »Gewissensträger der Öffentlichkeit«7?

Ulrich Sonnemann: Nicht nur heute, das scheint mir jedenfalls in der ganzen neueren europäischen Geschichte, aber auch bereits im alten Griechenland – jedenfalls in späteren Zeiten – doch mindestens eine sehr bestimmende Seite an der Existenz der Literaten überhaupt zu sein. Es gilt ganz gewiß für Frankreich, das in diesem Punkt vorbildhaft ist.

Dieter Hasselblatt: Und Sie sagen in Ihrem Buch, daß sich die Literaten als »Gewissensträger der Öffentlichkeit« ein »dialogisches« und kein »cliquierendes Verhalten« schuldig sind8. Meinen Sie dabei Cliquen wie die Gruppe 47?

Ulrich Sonnemann: Ich kann mich erinnern, daß, als ich das schrieb, ich an die Gruppe 47 zunächst gar nicht dachte. Dann fiel mir ein, nachdem ich es bereits niedergeschrieben hatte, daß vielleicht der Leser an die Gruppe 47 denken könnte und daß es eben zu Fragen kommen würde wie Ihre gegenwärtige, was ich begrüße, weil da vielleicht wirklich etwas zu klären bleibt. Ich glaube nicht, daß essentiell die Gruppe 47 eine Clique ist. Dazu ist sie zu offen nach außen hin; dazu gehen die Meinungen innerhalb der Gruppe in allen möglichen Dingen viel zu weit auseinander. Wenn sie in den Geruch einer Clique immer wieder gerät, so liegt das meiner Ansicht nach darin, daß eben eine Öffentlichkeit überhaupt, die diese Gruppe auffangen könnte, die ihr gewachsen wäre, die sie integrieren könnte, in Deutschland fehlt.

Dieter Hasselblatt: Sie sehen also bei unseren Nachbarn in Europa mehr öffentliches Bewußtsein und mehr Öffentlichkeitsgewissen als bei uns?

Ulrich Sonnemann: Ja, das sehen Sie wahrscheinlich auch, wenn Sie sich etwa den Verlauf der ›Spiegel‹-Affäre bei uns und der Profumo-Affäre in England ansehen.

Dieter Hasselblatt: Sie haben, glaube ich, zu der deutschen Publikation der Profumo-Affäre ein Vorwort geschrieben?

Ulrich Sonnemann: Ja, eine Einleitung9.

Dieter Hasselblatt: Das ist sicherlich nicht zufällig, daß man auf Sie gestoßen ist dabei, weil Sie doch in einer gewissen Hinsicht etwas repräsentieren, was bei uns selten ist. Ich meine das Denken, die Leidenschaft eines Denkens, das sich nicht in metaphysischen Höhen ergeht, sondern sich am akuten Hier und Jetzt festbeißt, weil es hier seine Aufgabe sieht und hier die schmerzlichsten Verwundungen erfährt. Ich weiß nicht, ob ich das richtig sehe?

Ulrich Sonnemann: Nein, das sehen Sie völlig richtig. Es scheint mir, das hängt davon ab, wie man das tut, viel mehr als von einer thematischen Konzentration auf die Metaphysik als Gegenstandsbereich, sozusagen als Fach.

Dieter Hasselblatt: Sie sind im einzelnen sehr angegriffen worden, weil Sie Thesen verfochten haben, die vielen Leuten nicht behagt haben. Aber was man Ihnen, glaube ich, uneingeschränkt zugestehen muß, ist diese Leidenschaft des Denkens, die sich nicht scheut, sich an politischen Sachverhalten festzubeißen und sie zu durchdenken, um auf die Hintergründe und Motive zu stoßen. Sie nennen Ihr Buch im Untertitel ›Deutsche Reflexionen‹, und mir scheint, als ob sowohl das Wort »deutsch« wie das Wort »Reflexionen« bezeichnend für Sie ist. Stimmt das?

Ulrich Sonnemann: Das könnte sein, ja. Es ist leicht möglich, daß viele dieser Reflexionen in anderen Sprachmedien zwar nicht unmöglich sind; ich hoffe nicht, daß sie am deutlichsten nur im Deutschen werden können, und daß es also nicht zufällig ist, daß ich aus dem Englischen gerade für diese Dinge zuerst ins deutsche Sprachmedium zurückgekehrt bin.

Dieter Hasselblatt: Ich meine jetzt gar nicht so sehr die Sprache, sondern die deutschen Verhältnisse, die deutschen Belange. Mir ist eine Stelle Ihres Buches in Erinnerung, wo Sie von der deutschen Lage sprachen, und zwar im Zusammenhang mit einer Notiz, in der Sie sagen, das Zentrum des Weltkommunismus verlagere sich von Moskau nach Peking. Daran knüpfen Sie unmittelbar eine Reflexion über die Rückwirkungen dieser Verschiebung auf die deutschen Zustände.10 Ich glaube, das ist typisch, daß Sie alle Dinge, die Sie berühren, sofort auf die deutsche Situation zurückbeziehen. Ist das System, ist das Methode?

Ulrich Sonnemann: Wenn es System ist, wenn es Methode ist, dann eine solche, die sich sozusagen von selbst vollzieht, nicht die ich veranstalte. Das Denken hat aber mit seinen Gegenständen zu tun, nicht mit seiner Methode.

Dieter Hasselblatt: Sie setzen eine höchst intelligente Sonde an am deutschen Körper, und die Sonde scheint mir sowohl philosophisch geschärft zu sein wie literarisch und aktuell geführt. Es gibt sehr viele Anspielungen und sehr viele Rückbeziehungen auf die literarische, auf die politische, auf die aktuelle kulturgeschichtliche Situation. Wenn Sie dann zum Beispiel Worte prägen, die unsere bundesdeutsche Politik als »Staatswurstelei« bezeichnen11, dann scheint mir das sehr bezeichnend für die Art und Weise, wie Sie philosophieren. Oder sehe ich das falsch?

Ulrich Sonnemann: Nein, ich glaube, das sehen Sie ganz richtig.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen zum Beispiel, daß die Politikergeneration, die jetzt im Augenblick die Politik der Bundesrepublik macht, ersetzt werden müßte durch eine neue Besetzung.12 Können Sie ungefähr sagen, wie diese neue Mannschaft der Politik aussehen sollte?

Ulrich Sonnemann: Meinen Sie zunächst die Frage des Generationenwechsels, die da anklingt?

Dieter Hasselblatt: Die klingt natürlich an.

Ulrich Sonnemann: Das ist natürlich, wie immer, nur cum grano salis zu verstehen. Es ist so, daß in der ganzen gegenwärtigen Politikergarnitur von rechts bis links die Bereitschaft, den Herausforderungen der Zustände zu begegnen, nämlich zu begegnen mit einem konsequent diese Zustände ändernden Verhalten, nicht zu finden ist. Warum, wäre zu untersuchen. Es ist im ganzen eine gebrochene Generation, und soziologisch wäre Generationenwechsel das, als welches das, was mir vorschwebt, unter anderem zu bezeichnen wäre. Das bedeutet nicht, daß im einzelnen Fall nicht der eine oder andere Politiker der älteren Generation vielleicht noch vor Toresschluß einen ganz anderen Politiker in sich entdecken könnte. Das wäre ja sehr erfreulich; und unter Umständen für die Politik praktisch, da er natürlich zunächst mehr Erfahrung mitbringt, mehr Sacherfahrung als die Jungen.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen »vor Toresschluß« – was für ein Tor schließt sich? Und wozu und wovor schließt es sich?

Ulrich Sonnemann: Ich glaube, daß sich demnächst das Tor schließt – wie bald, das zu entscheiden wäre natürlich unsinnig; aber zweifellos rückt der Zeitpunkt näher, in dem einerseits nicht mehr zu rechnen ist mit einem uferlosen Fortgang der Prosperität, andererseits in der Außenpolitik es immer deutlicher wird, werden dürfte, daß eine Politik mit bloßen Formeln, immer versteinerteren Formeln für die deutschen Lebensinteressen, die ja im Osten liegen, unförderlich ist.

Dieter Hasselblatt: Sie denken an Formeln wie »Wiedervereinigung«, oder …

Ulrich Sonnemann: Ja, ich denke an die allzu ungeprüfte Identifizierung etwa der DDR mit ihrer gegenwärtigen Regierung. Solange diese Regierung in der DDR sich erhält, haben diese Formeln immer einen Anschein der Plausibilität, weil es eben noch keine Erfahrung gibt, die die Diskrepanz zwischen dem, was ihr Anspruch ist, und dem, was diesem Anspruch entspricht, evident machen würde. Im Augenblick, in dem eine Regierungsänderung in der DDR eintritt, in dem die DDR also einer Gesamtströmung der Dinge endlich folgt, die sich im Ostblock in den vergangenen Jahren ja hinreichend abgezeichnet hat – vielleicht sollte ich nicht sagen hinreichend, aber jedenfalls hinreichend genug für ihre Erkenntnis –; im Augenblick, in dem das geschieht, treten doch ganz neue Probleme auf, denn es könnte ja sein, daß die Prämisse, von der man hier immer ausgegangen ist, daß die Bevölkerung der DDR nichts sehnlicher wünscht – vor allem nicht die junge Generation dort – als sich an die Bundesrepublik anzuschließen, daß das einfach eine trügerische Mutmaßung ist und nicht viel mehr.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen »DDR«. In unserem westdeutschen Sprachgebrauch sagt man ja »sogenannte DDR«.

Ulrich Sonnemann: Ja, aber ich nehme doch mit Genugtuung wahr, daß mehr und mehr Leute sich über diese etwas totemhafte Regel hinwegsetzen.

Dieter Hasselblatt: Sie versuchen also, auch darin mit den real anzutreffenden Fakten zu rechnen, um an diesen Fakten Ihr Denken anzusetzen?

Ulrich Sonnemann: Ja natürlich.

Dieter Hasselblatt: Um ein wenig zurückzuschwenken: Bei der Ersetzung der jetzigen »Politikergarnitur« in Deutschland sprechen Sie von einer »offenen Verschwörung«13. Dieser Ausdruck »offene Verschwörung« könnte meiner Ansicht nach mißverständlich sein. Was man vielleicht fragen sollte: Wenn heutzutage jemand bei uns hört »Verschwörung«, dann denkt man an Konspiration, an Putsch, an den Sturz einer unerwünschten Regierung; aber ich glaube nicht, daß Sie das meinen?

Ulrich Sonnemann: Nein, natürlich nicht, das sagt ja schon das »offene« in »offene Verschwörung«, daß das nicht gemeint sein kann. Es ist andererseits etwas – und darum »Verschwörung« –, was durch alle institutionellen und parteilichen Grenzen sich sozusagen hindurcharbeiten müßte als Verständigung von einzelnen zu einzelnen, von Gruppen dieser einzelnen zu Gruppen dieser einzelnen.

Dieter Hasselblatt: Darf ich vielleicht noch etwas bleiben bei dieser Sache mit der »offenen Verschwörung«. Ich glaube, auch Ihr neues Buch, an dem Sie jetzt gerade schreiben, trägt einen Titel, der ähnlich …

Ulrich Sonnemann: …›Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland‹14…

Dieter Hasselblatt: …›Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland‹– dieser Ungehorsam ist, glaube ich, aber doch ein Gehorsam … gegenüber …?

Ulrich Sonnemann: Es ist ein Gehorsam gegenüber dem Geist. Da aber der Geist das konstitutive Moment am menschlichen Wesen ist, liegt hier nur, sprachlich-grammatisch sozusagen, eine anscheinende Unterscheidung zwischen einem Gehorchenden und dem, dem er gehorcht, vor.

Dieter Hasselblatt: Dann ist Geist auch für Sie – und Sie stehen darin, glaube ich, in einer großen abendländischen Tradition – ein zersetzendes Moment im positiven Sinn?

Ulrich Sonnemann: Ja, ja, in einer Zeit, in der das Nichtige vorherrscht, ist die Verneinung des Nichtigen das einzig Positive.

Dieter Hasselblatt: Beziehen Sie sich dabei ausdrücklich auf die »Dihairesis« des Aristoteles? Oder war Geist für Sie …

Ulrich Sonnemann: Gar nicht so ausdrücklich, sondern das sind eigentlich Sachverhalte, die in jeder Generation spontan von neuem aufgehen, aufgehen sollten.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen »spontan«, und damit sind wir bei einem weiteren Begriff Ihres Denkens. Die Spontaneität spielt für das, was Sie anzielen, eine große Rolle.

Ulrich Sonnemann: Ja. – Ja.

Dieter Hasselblatt: Die soll sich wie äußern?

Ulrich Sonnemann: In einer unerrechenbaren Unabhängigkeit der Urteilsentscheidungen auch und gerade auf seiten der Intellektuellen, die sie sozusagen unzuverlässig macht vom Standpunkt jedweden Apparats.

Dieter Hasselblatt: Das heißt also, Sie wollen in unser Gesellschaftssystem ein Unruhemoment eingebaut wissen, das legitimerweise beunruhigen soll und sich selbst beunruhigt fühlen soll.

Ulrich Sonnemann: Ja, ich will es gar nicht einbauen, es ist bereits da …

Dieter Hasselblatt: … Sie selber sind ja ein Repräsentant …

Ulrich Sonnemann: … es muß nur noch kräftiger entwickelt werden.

Dieter Hasselblatt: Nun sagen Sie in Ihrem Buch einmal, die Anstöße dazu können »nicht mehr aus der älteren Generation kommen«15. Darf ich Sie fragen, zu welcher Generation Sie sich selber zählen? Ulrich Sonnemann: Zweifellos zur älteren.

Dieter Hasselblatt: Aber Sie geben ja Anstöße in dieser Richtung?

Ulrich Sonnemann: Ja nun, es gibt auch andere aus der älteren Generation …

Dieter Hasselblatt: … Sie klammern sich …

Ulrich Sonnemann: … ich klammere mich gar nicht aus der älteren Generation aus. Wir sprachen ja über diesen kalendarisch-soziologischen Punkt schon etwas früher, und ich sagte, daß das mit dem Generationenwechsel natürlich nur cum grano salis, eben soziologisch zu verstehen sei. Das ginge ja gar nicht anders, als daß eben doch irgendwo aus der älteren Generation die Anstöße kommen, denn die junge kann sozusagen ihren eigenen Kahn, wie in den Generationswechseln der Geschichte ja üblich, gar nicht recht abstoßen, außer es ist etwas da, wovon sie ihn abstoßen kann. Wenn nun das Wesensbild der älteren Generation so wenig da ist wie das der älteren Generation für diese heutige junge, so besteht in dieser Hinsicht ein besonderer Notstand.

Dieter Hasselblatt: Die jüngere Generation wäre für Sie also ein Garant dafür, daß Deutschland in absehbaren Jahrzehnten nicht mehr ein ›Land unbegrenzter Zumutbarkeiten‹ ist?

Ulrich Sonnemann: Ja nun: natürlich die einzige – die einzige, wenn wir überhaupt hier in Generationen denken.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen es einmal so: »Deutschland wird ungewöhnlich sein oder es wird nicht sein«16. Das ist ein sehr entschiedenes und sehr energisches und hartes Wort. »Deutschland wird ungewöhnlich sein oder es wird nicht sein.«

Ulrich Sonnemann: Das hat einerseits mit deutscher Geschichtserfahrung zu tun und andererseits mit den Besonderheiten, den zeitlosen Besonderheiten des deutschen Bewußtseins, das ein besonders reflexives Bewußtsein ist, das heißt im Jetzt und Hier nicht so leicht und einfach aufgeht, wie das der Völker im Westen und übrigens auch der im Osten auf ihre Weise.

Dieter Hasselblatt: Auch darin räumen Sie Deutschland eine Sonderstellung ein?

Ulrich Sonnemann: Ja, nur ist es mir nicht um die Sonderstellung als Sonderstellung zu tun.

Dieter Hasselblatt: Sondern um Deutschland?

Ulrich Sonnemann: Ja, um die Bestimmung, um eine Positionsbestimmung des deutschen Bewußtseins und der deutschen Situation in dieser Zeit. Wenn ich Vergleichbares für andere Völker versuchen würde, so würde man wahrscheinlich auch für sie, für jedes einzelne von ihnen, zu irgendwelchen Besonderheiten kommen, die sie von allen andern abheben. Für Deutschland sind dies die Besonderheiten.

Dieter Hasselblatt: Ich möchte Sie ganz konkret fragen: Die Bundesrepublik, so scheint es, betrachtet sich als Erben des 20. Juli und ruft gleichzeitig die Jugend der Bundesrepublik zur Nachfolge des 20. Juli auf. Ist das nicht ein grotesker Widerspruch?

Ulrich Sonnemann: In vieler Hinsicht. Vielleicht kommen wir der Sache schneller auf den Grund, wenn Sie Ihre Frage noch etwas weiter spezifizieren. Widerspruch womit oder wogegen?

Dieter Hasselblatt: Wenn die Bundesrepublik sich als Erben des 20. Juli betrachtet, als geistigen Erben des 20. Juli, und gleichzeitig die Jugend auffordert, im Geiste des 20. Juli zu leben und zu handeln, dann bedeutet das, daß die Jugend gegen eine Obrigkeit, mit der sie nicht einverstanden ist, opponieren und revoltieren müßte. Und das wäre nun gerade die Bundesregierung, die wir derzeit haben.

Ulrich Sonnemann: Ja.

Dieter Hasselblatt: Ist das nicht ein Widerspruch?

Ulrich Sonnemann: Das ist ein – ich würde fast sagen – erfreulicher Widerspruch, weil das Erbe der Kämpfer des 20. Juli von sich aus hier dafür sorgt, daß über diese Zwischenträger die Jugend doch hingelenkt wird auf das, was die Leute des 20. Juli in ihrer Zeit waren. Sie waren nämlich willens, vielleicht etwas zu spät, waren es aber schließlich dann doch, sich mit ihren Gegenwärtigkeiten auseinanderzusetzen. Und darin liegt der Wink, daß die heutige Jugend es abermals mit den ihrigen tun sollte. Daß also Opposition, die auf Chruschtschowsche Weise – ich erinnere an das vergangene und das jetzige Verhältnis Chruschtschows zu Stalin17 – immer nur gestürzten oder gar toten Tyrannen gilt, nicht viel wert ist, sondern daß sie es eben immer mit dem Gegenwärtigen zu tun hat. Womit nicht gesagt sein soll, daß die politische Herrschaft im gegenwärtigen Deutschland eine Tyrannei ist, sondern daß sowohl in den Seelen wie auch in der Gesellschaftsordnung wie zum Teil auch im praktischen Gebrauch, den man von den Gesetzen und vom Grundgesetz macht oder auch nicht macht, doch immer noch allzu viel Tyrannisches liegt. Mit diesem müßte sich die Jugend nach dem Vorbild der Leute vom 20. Juli – das ja übrigens verbesserbar bleibt, auch das ist, glaube ich, nur im Sinne dieser Leute des 20. Juli – auseinanderzusetzen; oppositioneller, das liegt in der Natur der Sache, als bisher.

Dieter Hasselblatt: Es ist für jemanden, der jünger ist als Sie, von einer großen Faszination zu sehen, wie Sie diesem Deutschland, das vor unseren Augen zusammenbrach, wieder eine Funktion im Chor der europäischen Stimmen, und nicht nur der europäischen, zu geben versuchen. Sie sagen da an einer Stelle, daß der Deutsche der Welt die Freiheit »vorzuleben« hätte, die allein der »Garant eines künftigen Friedens« sein könnte18. Meinen Sie mit dieser Freiheit das, was Sie an einer anderen Stelle die »selbstgewählte Schutzlosigkeit« nennen19?

Ulrich Sonnemann: Ja, genau das. Es scheint mir, daß – nach dem, was in der voraufgegangenen Zeit an maximal Schlechtem in Deutschland geschehen ist – es sozusagen in der Dialektik, in der Gesetzlichkeit der Geschichte selber liegt, jetzt das Gegenteil heraufführen zu müssen. Und es fällt mir auf, daß die »selbstgewählte Schutzlosigkeit«, als welche man die Freiheit bestimmen kann, noch niemals – den Erwartungen der Militärtechniker zum Trotz – geschichtlich zu Katastrophen, sondern immer nur zum Gegenteil geführt hat. Ich darf hier übrigens doch ganz explizit wieder an das englische Modell erinnern. Wie hatten die Engländer wirklich abgerüstet vor dem Zweiten Weltkrieg, wie völlig unbereit waren sie zu dem, was dann kam, und wie vermochten sie es zu meistern, nachdem es einmal gekommen war? Wenn in Deutschland schon immer die Präokkupation mit der Apparatseite der Dinge eigentlich vorherrscht und die Willensentscheidungen, denen der Apparat doch zu dienen hat, der menschlichen Ordnung der Dinge oder der Ordnung des Menschen selbst nach, hinter den scheinbaren Erfordernissen des Apparats auf eine Weise hinterherhinken, daß der Mensch selbst dabei, wie das heimische Wort lautet, schließlich »verheizt« wird.

Dieter Hasselblatt: Dr. Sonnemann, zu den intensivsten Erfahrungen, die wir Heutigen machen mußten und konnten, gehört wohl, daß Schicksal und Geschichte kongruent wurden, daß wir uns der Geschichte nicht entziehen können und daß unser Einzelschicksal festgenagelt ist an die geschichtliche Situation. Und Sie sind vielleicht der Erste, der bei uns daraus philosophisch-denkerische Konsequenzen gezogen hat und in einer Weise gezogen hat, daß sowohl die Kritik an den aktuellen Umständen und Zuständen miteinbezogen worden ist wie auch der Entwurf neuer zukunftsträchtiger Möglichkeiten. Ich möchte Ihnen für dieses Gespräch danken, und vielleicht sollte man zum Schluß an einen der wesentlichen Sätze Ihres Buches erinnern.

Ulrich Sonnemann: Ich glaube, ich weiß, welchen Sie meinen: »Das Wesen der Freiheit, die den Deutschen jetzt zugemutet wird, ist der Mut.«20

Ungedruckt. Rundfunksendung: aufgenommen am 20. Juli 1964 in München beim Bayerischen Rundfunk, gesendet am 6. Oktober 1964 im Kölner Deutschlandfunk. Leicht überarbeitet.

Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

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