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Grundbegriffe

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Der motorische Aspekt des Ganzen:

Kontraktion und Entspannung

Die Schreibbewegung ist kontinuierlich nur in der Abhängigkeit jeder ihrer Bestandteile von einem übergeordneten Zweck; sowohl in der Bewegungsrichtung als auch in der Geschwindigkeit, in der sie abläuft, ist sie diskontinuierlich. Hinsichtlich der ersteren leuchtet das ein aufgrund der Notwendigkeit, die richtungsmäßig komplexen Buchstabenformen zu erzeugen; hinsichtlich letzterer aufgrund der Notwendigkeit, die Wörter voneinander zu trennen. Beide Notwendigkeiten beeinflussen die kontinuierliche Entbindung motorischer Energie nicht nur über ihre eigenen direkten Erfordernisse an Diskontinuität, sondern auch über die Unfähigkeit des Organismus, diese Erfordernisse in genau dem von ihnen implizierten Maße zu erfüllen: Die richtungsmäßige Komplexität von Buchstaben macht es nicht nur schwieriger als bei einer einfachen horizontalen Bewegung, eine übergeordnete Richtungskontinuität aufrechtzuerhalten, sondern betrifft ebenso zentrifugale wie zentripetale Bewegungsanteile, die bei der Ausführung dazu tendieren, ihre von den schulischen Ausgangsschriften beabsichtigte richtungsmäßige Komplexität noch zu übertreffen; die dynamische Komplexität der Worttrennung umfaßt nicht nur die Notwendigkeit, zu unterbrechen und neu anzufangen, sondern auch die, zu verlangsamen und wieder zu beschleunigen; im Endeffekt erhöht die richtungsmäßige Diskontinuität tendenziell die dynamische, und zwar aus genau dem gleichen Grund, nämlich der Involvierung von zentrifugalen und zentripetalen Anteilen und der Notwendigkeit, sie zu kontrollieren. Als diskontinuierliche ist die Schreibtätigkeit durch den Wechsel von Kontraktion und Entspannung der beteiligten Fingermuskeln differenziert, ein Wechsel, den die unterschiedlichen Erfordernisse von Richtung und Geschwindigkeit notwendig machen.

Die erste und allgemeinste Aufgliederung aller Bestandteile der graphischen Bewegung unterteilt sie somit in Bewegungen der Kontraktion und solche der Entspannung, und mit Ausnahme einzig der Ebene der Formqualität gibt es kein graphisches Merkmal innerhalb irgendeiner Bewertungsdimension, das nicht einer der beiden Gruppen zugeordnet werden kann. Da die Gesamtbewegungsrichtung in allen abendländischen Handschriftensystemen eine horizontale ist, kann man von dem dafür geltenden Differenzierungsprinzip erwarten, daß es in vertikaler Richtung wirkt und sich am eindeutigsten in jenen Bewegungen manifestiert, die das strukturale Skelett jeder Handschrift ausmachen, den Auf- und Abstrichen: In der normalen, nicht von emotionalen Blockaden beeinträchtigten Handschrift repräsentieren die ersteren die grundlegendsten Entspannungs-, die letzteren die Kontraktionsbewegungen. Psychologisch hängt die Betonung der Kontraktion mit einer des Ich samt ihrer möglichen Implikationen einer relativen Steigerung der willentlichen, emotionalen und begrifflichen Kontrolle zusammen; die Betonung der Entspannung mit einer des Objekts samt möglicherweise implizierten relativen Steigerungen der Spontaneität, der Impulsivität und des Phantasie-Lebens. Eine unterschiedliche Bestimmtheit von Betonungsarten, wie sie durch gesteigerte Kontraktion oder Entspannung angezeigt wird, hängt in erster Linie von der Bewertungsdimension ab, innerhalb derer man auf diese Steigerungen stößt; eine Klassifizierung dimensionaler Bewertungen nach ihrer Position entweder auf seiten der Kontraktion oder auf der der Entspannung, wie es eine Diskussion der Bewertungsdimensionen selbst nahelegt, wird später in diesem Buch folgen.

Der symbolische Aspekt des Ganzen:

Die quasi-räumliche Erfahrung des Schreibfelds

Aus dem Blickwinkel der Realität betrachtet findet Handschrift auf einer zweidimensionalen Ebene statt und stößt nur in unbedeutendem Umfang in die dritte Dimension vor, und zwar so, daß dieser Vorstoß nicht wesentlich an ihrer visuellen Erscheinung teilhat. Aus dem der unmittelbaren Erfahrung sowohl des Schreibers als auch des Lesers hingegen ist die Handschrift ein räumliches Phänomen. Das ist nicht in einem irgendwie übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinne gemeint. Das Schreibfeld wird so erfahren, als verwandele es sich in die Projektion eines Raumes auf eine zweidimensionale Fläche, ganz so wie die räumlichen Projektionen in Gemälden und Zeichnungen: Wir sprechen von einer schrägen oder senkrechten Handschrift, von fallenden Zeilen, geräumigen Schleifen, vom »Raum«, der für Randbemerkungen gelassen wird, von Auf- und Abstrichen, auch wenn diese Striche angesichts der gewöhnlichen Lage des Schreibpapiers in der Realität gar nicht auf- und abwärts, sondern vom Körper weg und zu ihm hin ausgeführt werden; schließlich neigen die Strichqualitäten selbst im besonderen dazu, eine Illusion der Tiefe zu schaffen, und der Wort»körper« als Ganzes wird erfahren als von seinem weißen »Hinter«grund unterschieden und plastisch abgesetzt: Für unsere unmittelbare Erfahrung ist die Handschrift vom Papier abgehoben, sie wird als im Raum stehend gesehen; sie »schafft Platz«, den, der sie umgibt, und so spiegelt sich ihre quasi-räumliche Natur in den spontanen Bezeichnungen wider, mit denen ihre Bewegungen gewöhnlich belegt werden.

Dieser Umstand bedeutet, daß in die graphische Bewegung ein Bereich innerer Erfahrung projiziert wird, innerhalb dessen der Projizierende sich in unbewußter symbolischer Analogie zu seiner Orientierung im Raum orientiert, wobei diese Orientierung umgekehrt denselben Richtungen raumanaloger Symbole folgt, wie es mehr oder weniger alles begriffliche Denken tut. Allein, wenn wir die gebräuchlichen sprachlichen Begriffe aufführen sollten, die – kraft einer unmittelbaren inneren Erfahrung, die sich in allen Individuen, die diese Ausdrücke verwenden, und ohne irgendeine bewußte figurative Absicht ihrerseits wiederholt – die Analogie vertikaler Richtungen benutzen, so würde ihre Zahl in gleich welcher Sprache endlos erscheinen, und Beispiele wie »in seiner Wertschätzung steigen« oder »niedergeschlagen sein«, »überlagern« oder »unterschwellig« mögen an diesem Punkt genügen, denn es wird jedem Leser leichter fallen, die Reihe fortzusetzen, als sie zu beenden. In symbolischem Sinne müssen wir nun, wenn wir uns die Handschrift als durch ein Koordinatensystem mit der Schreiblinie als Abszisse unterteilt vorstellen, alle unterhalb dieser Linie fallenden Bewegungen für auf solche Erfahrungen bezogen halten, wie sie im System innerer Orientierung des Schreibers der allgemeine Begriff von »unten«, alle oberhalb dieser Linie fallenden Bewegungen auf solche, wie sie der von »oben« impliziert. Die zuletzt genannte Regel bedarf allerdings der Erläuterung: Da der Großteil der zusammenhängenden horizontalen Bewegung, der seinerseits aus den kurzen Buchstaben und denjenigen Teilen der langen besteht, die der vertikalen Ausdehnung der kurzen entspricht, nicht gleichmäßig auf beide Seiten der Schreiblinie, sondern nur auf deren obere fällt, soll »oben« alle über die Oberkante dieser kurzen Formen hinausragenden Bewegungen bezeichnen. Die letzteren Formen bilden die sogenannte »Mittelzone« der Handschrift; die über oder unter ihr liegenden Bewegungen jeweils die »Ober-« bzw. »Unterzone«. In dem, soweit bekannt, ausnahmslos allen menschlichen Kulturen zugrunde liegenden symbolischen Denken verweisen die Erfahrungen, die auf den statischen Begriff »oben« oder den dynamischen »aufwärts« bezogen sind, durchweg auf diejenigen von Gott, Himmel, Tag, auf das Licht, den Geist, Schwerelosigkeit, Freiheit von physischen Bindungen, die Welt der Ideen, der Formen, der individuellen Vervollkommnung, des Bewußtseins; Erfahrungen hingegen, die auf den statischen Begriff »unten« oder den dynamischen »abwärts« bezogen sind, auf diejenigen von Tier, Erde, Dunkel, Dämonischem, Nacht, Materie, Schwere, Fleisch, von der Welt kollektiver und vegetativer Lebenskräfte, des Triebhaften, des Formlosen und der Träume; in paternalistischen Kulturen werden überdies die Vorstellungen von »Vater« und »Mann« als auf die erstere dieser Gruppen, diejenigen von »Mutter« und »Frau« als auf die zweite bezogen erfahren. Die relative Betonung einer der beiden Randzonen der Handschrift ist dementsprechend ein Beleg für die relative Betonung der entsprechenden Erfahrungssphäre in der inneren Orientierung und Haltung; wohingegen die relative Betonung der Mittelzone, da sie eine der tatsächlichen und kontinuierlichen graphischen Vorwärtsbewegung darstellt, eine relative Betonung von Aktivität an sich im Unterschied zu jedweden in erster Linie »erfahrenden« Haltungen belegt. Eine Ausarbeitung dieser Feststellungen erfordert einmal mehr sowohl hinsichtlich der möglichen Arten der Bewegungsverteilung als auch ihrer psychologischen Deutung eine Erörterung der entsprechenden Bewertungsdimensionen.

Während die vertikale Dimension der Handschrift von daher auf die Selbst-Orientierung der Person auf vorhandene Werte verweist, bezieht die horizontale Dimension sich auf ihre Realitätsorientierung, die die Wahl von Zielvorstellungen und eines auf sie gerichteten Verhaltens, kurz, den Prozeß der Externalisierung umfaßt. In den westlichen Kulturen ist das Schreiben als Gesamttätigkeit nach rechts gerichtet, und diese Modalität scheint mit der Betonung von absichtsvoller und zielgerichteter Tätigkeit, kurz, von Zukunft zusammenzustimmen – ein Umstand, der im Unterschied zu den orientalischen Kulturen, die richtungsmäßig davon abweichende Schreibsysteme verwenden, charakteristisch für das Abendland ist. Die Verwendung der rechten Hand vorausgesetzt – die für Linkshänder anzulegenden speziellen Kriterien werden gesondert diskutiert –, macht jede Bewegung des Arm-Hand-Systems, die in einer natürlichen und unangespannten Art und Weise vom Körper weg schwingt, das Nachfolgen einer Rechtsausrichtung notwendig, die graphologisch mithin als die Bewegung des Kontakts und der Externalisierung an sich bestimmt wird, während die Betonung der linksgerichteten Bewegung als signifikant für Kontaktvermeidung und Konzentration, gleich welcher Art, auf das Selbst verstanden wird. Darüber hinaus wird, da das tatsächliche zeitliche Fortschreiten der Schreibtätigkeit ihrem räumlichen Voranschreiten nach rechts folgt, die rechte Seite als ein symbolisches Korrelat der Vorstellung von »Zukunft« in der inneren Erfahrung des Schreibers selbst verstanden; und Betonung der Vergangenheit, wiederum gleich welcher Art und Absicht, würde dementsprechend durch eine Betonung von im Sinne der Verteilung der Schreibbewegung linksgerichteten Anteilen angezeigt. Weitere unterscheidende Untersuchungen der Verteilung graphischer Bewegung aber, in ihrer horizontalen mehr noch als in ihrer vertikalen Dimension, setzen einmal mehr eine Erforschung der Handschrift in einer beträchtlichen Zahl spezifischerer Bereiche voraus (Abb. 1).


Abb. 1 Das Schreibfeld und seine Richtungen

Der interpretative Aspekt des Ganzen:

Ambivalenz und Interdependenz der Indikatoren

Im vorigen wurde bereits auf die vorläufige Natur einzelner Indikatoren innerhalb jedweder Dimension des Schreibens hingewiesen. Ihre Funktion könnte definiert werden als Setzung der Grenzen, jenseits derer ihr positiver und spezifischer Wert erwartbarer Weise nicht fällt. Ihre tatsächliche Bestimmung hängt allerdings von der gesamten Konfiguration ab. Im graphoanalytischen Verfahren wird diese Abhängigkeit in zweifacher Hinsicht entscheidend.

Da das, was eine einzelne graphische Eigenschaft, wie etwa »Enge«, an psychologischer Bedeutung vermittelt, gleichzeitig auf eine große Anzahl spezifischer Linien des Funktionierens der Persönlichkeit anwendbar ist, von denen nur wenige und sehr allgemeine als unveränderlich, alle anderen hingegen als nur potentiell gültig anzusehen sind, können positive Schlüsse auf potentielle Anwendungen nur aus einer Kombination des psychologischen Tenors von »Enge« mit anderen möglicherweise auf dieselbe Linie des Funktionierens der Persönlichkeit anzuwendenden Indikatoren gezogen werden. Indikatoren sind, kurz gesagt, interdependent. Sie sind ambivalent, insofern umgekehrt jeder von ihnen die gesamte Spannweite von extrem positiven bis zu extrem negativen Bedeutungsschattierungen möglicher moralischer, sozialer und kultureller Werte umfaßt, die irgendwelchen allgemeinen Begriffen wie »Eigensinnigkeit« oder »Anpassungsfähigkeit«, »Impulsivität« oder »Selbstkontrolle« anhängen. Das allgemeine Persönlichkeitsmerkmal eines »hohen Selbstwertgefühls« zum Beispiel wäre nach dem Prinzip der Interdependenz in seinen möglichen Versionen sei es einer »verspielten Eitelkeit«, sei es einer »starren Eingebildetheit« zu unterscheiden; nach dem der Ambivalenz hinsichtlich des Grades, in dem es entweder »leer« oder aber durch tatsächliche Persönlichkeitswerte gestützt ist. Die Festlegung der genauen Bedeutung im Sinne des Persönlichkeitswerts, wie ihn entweder einzelne oder miteinander kombinierte graphologische Indikatoren vermitteln, hängt in erster Linie vom Sinn des Schreibers für Werte, die die Handschrift selbst mit sich bringt, d. h. von ihrer Ebene der Formqualität, ab.

Graphologie. Schriften 1

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