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Geleitwort

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Auf Ulrich Sonnemanns nachgerade magische Kräfte als Graphologe wurde ich in den frühen neunzehnhundertfünfziger Jahren aufmerksam, als ich am College of the City of New York (das sich heute City University of New York nennt) an einem Seminar über projektive Techniken des Master of Arts-Programms im Fach Psychologie teilnahm. Geleitet wurde das Seminar von einem Psychiater, Bela Mittelmann, der uns als erstes eine Fallgeschichte eines seiner Patienten präsentierte und anschließend, einmal die Woche, mit dem Protokoll eines projektiven Tests bekanntmachte, dessen blind analysis von einem zuständigen Experten durchgeführt wurde. Den ›Thematischen Apperzeptions-Test‹ analysierte Leopold Bellak, der dafür der erste Fachmann war; den Szondi-Test kommentierte Susan Deri, die über ihn das maßgebliche amerikanische Buch geschrieben hatte; den ›Zeichne eine Person‹-Test betreute Karen Machover, Nummer eins auf diesem Gebiet; usw. Die Handschriftenanalyse war Ulrich Sonnemanns Domäne. Von all den graduierten Psychologie-Studenten des Seminars hatte zuvor noch keiner davon gehört, daß es sich bei der Handschriftenanalyse etwa um eine seriöse Angelegenheit handeln könnte; wir waren überrascht, daß sie es überhaupt unter die projektiven Tests geschafft hatte.

Die Analyse der Testprotokolle nun war durchaus bemerkenswert, mal war das Ergebnis mehr, mal weniger erhellend, keine aber erschloß das Wesen des Klienten, wie Mittelmann es vorab skizziert hatte. Als Sonnemann seine Interpretation der Handschriftenproben vortrug, war die Klasse baß erstaunt, niemand wollte ihm so recht glauben, daß er keine Vorkenntnisse über den betreffenden Klienten gehabt habe. Über seine außergewöhnlich weitreichende, lebendige Beschreibung der Persönlichkeit des Klienten hinaus ging Sonnemann ins genaue Detail, was die Belastungen auf dessen beruflicher Laufbahn und was dessen physische Kondition betraf. Beispiels- und korrekterweise hob er auf die Musikalität eines Klienten ab, bezeichnete ihn als »ausübenden Musiker«, verbesserte sich dann aber und sagte: »Nein, er ist zwar ausübender Musiker, in Wirklichkeit aber will er komponieren, er ist nur blockiert, er hat sich zum Trost aufs Instrumentale verlegt.« Sie werden es sich bereits gedacht haben, daß genau das der Konflikt war, unter dem dieser Klient litt. Ein anderes erstaunliches Detail, das Sonnemann aus einer Handschriftenprobe herauslas, kam in der Bemerkung zum Ausdruck, der Klient habe ein Geschwür im Verdauungstrakt, doch schon verbesserte er sich wieder: »Nein, ein Magengeschwür«, und erneut hatte er den Finger auf ein Hauptproblem gelegt.

Fasziniert von Ulrich Sonnemanns glänzenden Einsichten, folgte ich ihm an seine Unterrichtsstätte, die Graduate Faculty der New Yorker New School for Social Research (der heutigen New School University), wo ich mehr über Graphologie lernen und mein Graduiertenstudium unter seiner Mentorschaft fortsetzen konnte. Sonnemann hielt an der New School ein einjähriges Graphologie-Seminar ab, bei welchem er seinen Studenten durchaus eine gewisse Befähigung zum Handschriftenlesen vermitteln konnte, wenn auch keiner von uns seinem Genie auch nur nahekam. Das Unterrichtsmaterial bestand aus Schriftproben, die die Studenten aus ihrem Bekanntenkreis mitbrachten: die Klasse analysierte sie, Sonnemann verbesserte und erweiterte unsere Ergebnisse, und regelmäßig wurde das, was er herauslas, von denjenigen bestätigt, die uns die entsprechenden Handschriftenproben zur Verfügung gestellt hatten. Als Sonnemann die New School verließ, organisierte eine kleine Gruppe von Studenten ein privates Seminar mit ihm, um unsere Graphologie-Studien weiterzutreiben. Es traf sich gut, daß wir eine Mitstudentin hatten, deren Ehemann als Henry James-Biograph angesehen und überhaupt ein Homme de lettre war. Er versorgte uns mit Handschriftenproben etlicher literarischer Tagesgrößen, ohne deren Identität zu enthüllen, ehe wir mit unseren Analysen fertig waren. Stets wieder – wir erwarteten es längst nicht mehr anders – zeigte Sonnemann sich zielsicher in der Lage, eine Beschreibung sowohl der offensichtlichen wie versteckten Persönlichkeitszüge des Schreibers als auch von dessen Lebenskonflikten und gesundheitlichen Problemen zu liefern.

Ansonsten übernahm Sonnemann während seiner Zeit in den Vereinigten Staaten Handschriftenanalyse-Aufträge insbesondere für Vick Chemical Company und für die Metropolitan Life Insurance. Erstere wollte geklärt wissen, ob die Handschrift sinnvollerweise bei der Personalauswahl eingesetzt werden könnte. Obwohl die Untersuchungen rundum erfolgreich waren, indem sie den Beweis lieferten, daß auf diesem Wege präzise Angaben über künftige wie derzeitige Angestellte beizubringen sind, fügte Vick, meines Wissens, die Handschriftenanalyse ihrem Kriterienkatalog für die Personalauswahl nicht, jedenfalls nicht auf Dauer hinzu. Die Untersuchungen für die Metropolitan Life Insurance hatten mit dem Herauspicken von Leuten zu tun, die ein Versicherungs-Risiko darstellten, weil bei ihnen ein Herzleiden oder Krebs zu erwarten war. Sonnemanns Aufgabe bestand darin, Stöße von Handschriftenproben derzeit wie ehedem versicherter Personen mit nur ihm nicht bekannten Krankengeschichten in solche, die ernsthaft und lebensbedrohlich krank, und solche, die gesund waren, auseinander zu sortieren. Auch diese Untersuchungen blieben, wiewohl in hohem Maße erfolgreich, folgenlos für die praktische Anwendung der Graphologie. Da die Untersuchungen privatfinanziert waren, wurden die Berichte nie in vollem Umfang in den wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, sodaß sich am Negativ-Image der Handschriftenanalyse und ihres Nutzens in den Vereinigten Staaten bis heute so gut wie nichts geändert hat.

Mir war es möglich, etliche Personen für eine Diagnose an Ulrich Sonnemann zu verweisen, und immer gelang es ihm, in Auswertung der Handschriften aufsehenerregend genaue Personencharakterisierungen und im übrigen einschneidende Befunde zu liefern, derer die Schreiber nicht gewärtig gewesen waren. Einer der Fälle, die mir im Gedächtnis geblieben sind, war der eines Installateurs, der Hilfe suchte, weil er mit einem Male zu einem ängstlichen und deprimierten Menschen geworden war. Ohne über den Schreiber mehr zu wissen als wie alt, welchen Geschlechts und ob er Rechts- oder Linkshänder war, sagte Sonnemann, es treibe ihn eine große Sorge um seine, wörtlich, »interne Installation« um – was später als Störung im Magen-Darm-Trakt verifiziert wurde. Eine andere Handschriftenprobe identifizierte er zutreffend als die eines Architekten, der zwischen der Architektur und dem Wunsch nach einer Musikerlaufbahn hin- und hergerissen war. Überdies lehrte er mich, den Schriftzügen Hautstörungen abzulesen, wie sie sich in Form von Ausschlägen bemerkbar machten, bei Klienten, die buchstäblich zu dünnhäutig waren und übersensibel reagierten auf die Schwingungen der Personen in ihrer Umgebung. Einer derjenigen, die ich an Sonnemann für eine Handschriftenanalyse vermittelte, ein Unternehmensanwalt, war von den Ergebnissen derart beeindruckt, daß er, mit Sonnemann als Direktor, ein Graphologie-Institut errichten wollte, damit sich die Handschriftenanalyse in unserem Lande endlich weiter verbreiten könnte. Das Projekt gedieh immerhin bis zur Registrierung des Namens, unter dem das Institut an die Öffentlichkeit treten wollte, beim Staate New York, das war es dann aber auch schon.

Übrigens war Sonnemanns in seiner amerikanischen Zeit geschriebenes Buch ›Handwriting Analysis‹ der Basistext unseres Kursus. Der amerikanischen Leserschaft geradezu entgegen kam Sonnemanns Art zu schreiben nicht, sodaß sich das Buch, trotz seiner mehreren Auflagen, allemal nicht weit genug verbreitete. Traurigerweise steht man in den Vereinigten Staaten der Handschriftenanalyse nach wie vor mit großer Skepsis gegenüber. Die meisten Psychologen betrachten sie abschätzig als Gesellschaftsspiel oder als projektive Technik ohne sonderlichen Wert. Sie tun gerade so, als hätte sich das jemand aus den Fingern gesogen, daß in der Handschrift als einer Ausdrucksbewegung der Person deren ganze Fülle eben zum Ausdruck kommt im Augenblick des Schreibens. Die meisten unserer grundlegenden Psychologielehrbücher halten es schlicht für nicht angebracht, die Handschriftenanalyse in ihre Darstellung projektiver Techniken oder diagnostischer Hilfsmittel einzubeziehen. Die den klinischen Tests gewidmeten Lehrbücher ignorieren oder verwerfen die Handschrift gleicherweise. Graphologie wird genauso behandelt wie alles andere mit paranormalen Erfahrungen in Zusammenhang Stehende – man betrachtet sie als ein Phänomen, das im Umkreis wissenschaftlichen Arbeitens nichts zu suchen hat. Und so bleibt das Schreiben über Graphologie – unwert einer jeglichen akademischen Bemühung – denen überlassen, welche die bunten Seiten der Tagespresse beliefern.

Einiges kommt da zusammen bei dieser Blindheit seitens der amerikanischen Psychologen. Unberücksichtigt blieb bereits, daß, mit Sonnemann zu sprechen, die Aufmerksamkeit am Offensichtlichen immer schon vorbeischweift: so selbstverständlich, wie wir den Boden nehmen, auf dem wir stehen, interessiert uns an den Schriftzügen zuerst und zuletzt der mitgeteilte Inhalt, kaum aber die Person, die sich in ihnen offenbart. Unglücklicherweise waren die bei dem Versuch einer wissenschaftlichen Erforschung der Handschrift angewandten Methoden alles andere als wissenschaftlich. Immer – Sonnemann wurde nicht müde darauf hinzuweisen – müssen Untersuchung und Gegenstand aufeinander bezogen sein, nie darf sich die Untersuchung, wie in der Handschriftenforschung geschehen, von der in diesem Sinne wissenschaftlichen Methode entfernen. Die Handschrift aber, die ihre Bedeutung dann am besten zu erkennen gibt, wenn sie als Ganzes in den Blick genommen wird, zerfiel in ihre Bestandteile; soll heißen: die »Zeichen«-Methode wurde über die Handschriftenanalyse verhängt – man nahm t-Striche, i-Punkte, Neigung, Größe und derlei mehr unter die Lupe, ließ den Zusammenhang unter den Tisch fallen und die Zeichen damit bedeutungslos werden. So wenig ein »Aussenden und Empfangen« von Gedanken und Bildern in künstlich erzeugter Laborsituation mit spontaner telepathischer Erfahrung zu vergleichen ist, so untauglich ist der Versuch, bestimmte Zeichen in der Handschrift zu Persönlichkeitszügen in Beziehung zu setzen, gemessen am Vertiefen in die Person als ganzer, wie sie eine jede Handschriftenprobe uns vor Augen stellt. Wir sollten, Sonnemann folgend, »die Phänomene selber zum Sprechen bringen«, statt sie in bedeutungsleere Fragmente zu zersplittern. Im Namen von Rationalität und Wissenschaftlichkeit rückte die Psychologie in den Vereinigten Staaten irrationalerweise von menschlichen Erfahrungen ab, bloß weil sie ihr unbegreiflich waren.

Leider konnte Ulrich Sonnemann seine schier unheimliche Fähigkeit niemandem vererben, was womöglich auch der Schreibweise seines Buches geschuldet ist, gewiß aber und zuerst unserem Mangel an der in seiner Person lebendigen bemerkenswerten Einfühlsamkeit in die Nuancen der Schreibspur.

Miriam Ehrenberg New York, im Februar 2004

Aus dem Englischen von Paul Fiebig

Graphologie. Schriften 1

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