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Die Schriftprobe als Ganzes

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Die Ebene der Formqualität

Die ästhetische Qualität einer gegebenen Handschriftenprobe gibt den Bezugsrahmen für die eigentliche Interpretation aller Befunde in den einzelnen Dimensionen ab und ist deshalb eines der leitenden Kriterien der graphologischen Arbeit. Der Begriff hat wenig mit den kalligraphischen Vorstellungen von Schriftkunst zu tun, wie sie die Handschriftenlehrer entsprechend den national variierenden schulischen Musterschriften vertreten: Außer bei Personen mit mangelhafter Schulbildung oder mangelhafter intellektueller Entwicklung und wenig Gelegenheit zu schriftlicher Kommunikation, für die die Aneignung der Schulschrift ein lebenslanger Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu bleiben scheint, wird diese in ihrer exakten Form individuell spätestens mit der Pubertät aufgegeben, und das Ausmaß, der schließliche Umfang und die spezifische Richtung dieses Aufgebens laufen genau parallel zu den entsprechenden Linien der Persönlichkeitsentwicklung selbst.

Die Gründe für dieses Aufgeben, besonders für das sehr große Ausmaß, in dem es in den Handschriften führender Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts und unserer Zeit zu beobachten ist, mag teilweise in den modernen Schulschriften selbst zu suchen sein, die im Vergleich mit denen aus der Zeit vor etwa 1830 unter ästhetischem Gesichtspunkt relativ unbefriedigend erscheinen. Das wird auch durch die im Vergleich weit größere durchschnittliche Nähe zu den Schulschriften ihrer Zeit unterstützt, die sich in den Briefen vieler herausragender Personen der Jahrhunderte vor dem genannten ungefähren Datum zeigt, eine Tatsache, die signifikant mit dem allgemeinen Niedergang des »Stils« in anderen Kulturbereichen koinzidiert. Der Unterschied in dieser Hinsicht zwischen jenen Zeiten und unserer eigenen ist ziemlich markant und zu allgemein, um Zufall zu sein; er könnte die größere Sicherheit widerspiegeln, die die stabileren Werte vergangener Zeiten dem Individuum bieten konnten, indem sie ihm eine größere persönliche Identifizierung mit der Kultur ermöglichten.

Das Kriterium der Formqualität steht mit dem Maß an genuinem geistigen Streben und Anspruch an sich selbst in Zusammenhang, das in der Persönlichkeitsentwicklung erreicht wurde; es bezeichnet den Grad an Ausgeprägtheit, in dem ein Wertesystem in das innere Leben einer Person integriert worden ist. Im Sinne graphischer Qualitäten kann sie als der relative Grad an Originalität der Form in Kombination mit dem an ästhetischem Ebenmaß definiert werden. Auch wenn ohne weiteres zuzugeben ist, daß, technisch gesprochen, Bewertungen in diesem Gebiet mit Notwendigkeit subjektiv sind, ist doch Vorsicht im Hinblick auf Schlußfolgerungen aus dieser Tatsache angesagt. Wenn die Gesetze der Ästhetik auch aufgrund der Natur der ästhetischen Situation selbst nur im Bereich persönlicher Erfahrung greifbar werden, gelten sie dennoch nicht für diesen Bereich, sondern für den der ästhetischen Objekte; sonst wäre keine Verständigung über ästhetische Erfahrungen und keine interpersonelle Übereinstimmung zwischen ihnen denkbar. Die Korrelationen unter persönlichen Entscheidungen für das ästhetisch mehr oder weniger Ebenmäßige aus einer Anzahl gegebener Objekte sind bekanntlich hoch, und dasselbe gilt, wie viele Versuche gezeigt haben, für die Urteile von Laien über die Niveaus der Formqualität in der Handschrift, sowohl untereinander verglichen als auch mit den Urteilen von Graphologen. Dies gilt natürlich hauptsächlich für die Bewertungen der gröberen Qualitätsunterschiede, und es scheint etwas mehr für Urteile über die ästhetische Integration als für solche über die Originalität zu gelten. Betrachtet man das letztere Unterkriterium, so scheint abermals viel von der Übung im Sehen und von einer Schärfung des allgemeinen Sinns für Qualitäten abzuhängen; die Funktion des kritischen Urteilsvermögens, die hier angesprochen ist, verlangt allerdings keine sehr außergewöhnlichen Fähigkeiten; im Kern ist es dasselbe, das zum Beispiel einen Beobachter befähigen würde, ohne allzu großes Zögern eine gotische Kirche von 1280 oder eine barocke von 1680 von ihren Imitationen von 1880 zu unterscheiden.

Ein verbleibender Rest an »Subjektivität« beim Bestimmen von Formniveaus könnte durch noch feinere Abstufungen bei der Aufstellung der Punkteskalen durch unterschiedliche Bewerter ausgeschlossen werden. Die Abstufungen spiegeln indes nicht die Willkür der persönlichen Wahl wider, sondern die Natur des hier erforschten Gegenstands selbst. Vor verschiedenen Wertetabellen fügt sich das Phänomen der Persönlichkeit seinerseits einer Vielfalt möglicher Bewertungen. Jenseits eines bestimmten Grenzwerts an übergreifender Konsistenz können diese Wertungen mehr oder weniger divergieren. Persönlichkeit unterscheidet sich somit von den Gegenständen der medizinischen Wissenschaft durch die Tatsache, daß jenseits dieses Grenzpunkts die Perspektive des Erkennens nicht bloß ein Mittel der Wahrnehmung objektiver Eigenschaften, sondern ein Bezugsrahmen wird, von dem losgelöst diese Eigenschaften keinerlei Bedeutung haben. Der Unterschied zwischen den Begabungen und Veranlagungen von A und B kann »objektiv« festgestellt werden; jegliche Feststellung aber, welcher der beiden der »bessere« Mann ist, wird notwendig »subjektiv« sein. Das besagt nicht, daß sie irgendwie willkürlich oder unter epistemologischem Gesichtspunkt bedeutungslos sein muß; es meint schlicht, daß die Kriterien »gut«, »besser« usw. selbst menschliche Werte implizieren; jede Anwendung dieser Kriterien ist deshalb »objektiv« oder »nicht-objektiv« nur im Hinblick auf ein bestimmtes Wertesystem, dessen Vorannahme der Feststellung zugrundeliegt. Nach der Erfahrung des Verfassers läßt sich die Situation leicht mit Hilfe genauer differenzierender Versuche mit verschieden abgestuften Punkteskalen zu graphischen Formniveaus, die von verschiedenen Gutachtern durchgeführt werden, demonstrieren. Wenn nach der – »blinden« – Skalierung der Handschriften der Probanden I bis X derselbe Gutachter die Gelegenheit zur persönlichen Begegnung und zum Gespräch mit ihnen selbst erhält und dann aufgefordert wird, sie auf der Grundlage dieses »direkten« Zugangs zu den jeweiligen Personen zu skalieren, wird seine Einordnung auf der Punkteskala in fast allen Fällen mit seiner vorausgehenden – graphologischen – nahezu übereinstimmen. Welche Abweichungen es dabei auch geben mag, sie werden im ganzen weit geringer sein als diejenigen zwischen seiner vorausgehenden graphologischen Einstufung der zehn Schriftproben und denjenigen derselben Proben durch andere Gutachter. Diese Konstellation weist deutlich auf die »Objektivität« des Formniveau-Kriteriums in dem einzigen Sinne hin, in dem in dieser Hinsicht der Begriff »Objektivität« überhaupt sinnvoll sein kann, nämlich insofern das gegebene Wertesystem der Gutachter als der unvermeidliche –»objektiv« nicht austauschbare – Bezugsrahmen dient. Daraus folgt, daß man von einem bewußteren und ausdrücklicheren Innesein ihrer unterschiedlichen Wertestandards auf seiten der unterschiedlich ausgebildeten Forscher – soweit es zu erreichen wäre – erwarten könnte, daß es die Felder interpretativer Nichtübereinstimmung zwischen ihnen auf einen minimalen und klinisch unbedeutenden Punkt reduziert (Abb. 2 – 15).

Abb. 2 – 15 Niveaus der Formqualität


Abb. 2 (31 %*) Außergewöhnliches Formniveau


Abb. 3 (7 %) Höheres Formniveau


Abb. 4 (7 %) Höheres Formniveau


Abb. 5 (3 %) Gutes Formniveau


Abb. 6 (7 %) Gutes Formniveau


Abb. 7 (17 %) Ansehnliches Formniveau


Abb. 8 (17 %) Ansehnliches Formniveau


Abb. 9 (7 %) Mittelmäßiges Formniveau


Abb. 10 (7 %) Mittelmäßiges Formniveau


Abb. 11 (26 %) Im wesentlichen niedriges Formniveau


Abb. 12 (26 %) Im wesentlichen niedriges Formniveau


Abb. 13 (7 %) Eindeutig niedriges Formniveau


Abb. 14 (7 %) Eindeutig niedriges Formniveau


Abb. 15 (7 %) Sehr niedriges Formniveau

Rhythmus und Regelmaß, Integration und Fluktuation

Wie alle Lebensprozesse folgen die wechselnden Phasen von Kontraktion und Entspannung nicht mit mechanischer Präzision aufeinander, sondern in einer komplexer geordneten Abfolge, die aus der gleichzeitigen Wirksamkeit der zwei einander entgegengesetzten Prinzipien von Wiederholung und Wechsel resultiert: Ähnliche, nicht identische Intervalle folgen aufeinander; ihre Variationen zeigen wiederum eine mehr oder weniger starke Tendenz, sich in gleichen Intervallen zu wiederholen; diese Wiederholung unterliegt einer Gegentendenz, die sie in Einheiten mehr oder weniger schwankender Länge auftreten läßt, und so weiter. Diese Eigenart der Kontraktions-Entspannungs-Zyklen verbindet sie mit allen Phänomenen, die sich in der Dimension der Zeit mittels eher einer ihnen eigenen strukturellen Ordnung als eines ihnen bloß auferlegten abstrakten und starren Prinzips der Zeiteinteilung ausprägen. Indem sie die divergierenden Prinzipien von Periodizität und Fluktuation wieder miteinander in Einklang bringt, ist diese strukturelle Ausprägung im wesentlichen identisch mit dem, was in der Musik »Rhythmus«, in Abgrenzung zu ihrer »Zeit« oder ihrem »Taktmaß«, genannt wird: Das »Taktmaß«, an sich nur ein abstraktes und statisches Prinzip, das identische Unterteilungen der zeitlichen Bahn markiert, in der ein Musikstück vorangeht, korrespondiert nichtsdestoweniger mit einem der beiden Prinzipien des Rhythmus, dem der Wiederholung; doch es ist nicht identisch mit dem Rhythmus der Musik an sich, der mit wechselnden Mitteln, wie etwa der Synkopierung, ihrem zweiten Prinzip, dem des Wechsels, folgt, um der Gleichförmigkeit als dem Element des ersten Prinzips gegenzusteuern. Indem so das Taktmaß das sich Wiederholende identischer Unterteilungen zur Variation innerhalb jedes wiederholten Zeitmaßes benutzt, ist es integriert in den und zugleich der belebende Effekt des hervorgebrachten »Rhythmus’«.

Wenn wir diesen Gedanken auf die entsprechenden Elemente der Schreibtätigkeit anwenden, begegnen wir dem starren Wiederholungsprinzip auf seiten der Kontraktions-, dem des Wechsels auf seiten der Entspannungsbewegungen. Visuell wird das schon durch die einfachste Form ihrer Abfolge schlagend nahegelegt, eine Reihe von Auf- und Abstrichen wie in kleinen ns und ms, wo die druckbetonten Abstriche die synästhetische Wirkung eines »Taktschlags« haben. Der Schreibprozeß ist um sie zentriert: Wenn wir alle Abstriche auslöschen, wird der Rest kaum mehr das Aussehen einer Handschrift aufweisen; löschen wir stattdessen alle Aufstriche, wird sich nicht nur der allgemeine »graphische« Charakter des Rests, sondern sogar seine Lesbarkeit im wesentlichen bewahrt finden (Abb. 16). Da sich die Kontraktionen so als die eigentlichen unmittelbaren Ansatzpunkte der Schreibbewegung in jedem ihrer Abschnitte erweisen, scheinen sie offenbar ein Prinzip der bewußten willentlichen Kontrolle darzustellen, von dem man sagen kann, daß es den Weg für die Schreibtätigkeit als Gesamtprozeß bahnt, und auf das sich die Entspannungsimpulse, um sich in die zusammenhängende Bewegung einzuordnen, »einzustellen« haben. Diese Konstellation zieht zwei Schlußfolgerungen nach sich. Erstens kann man annehmen, daß die Kontraktionsbewegungen die bewußt ausgeübten Funktionen der willentlichen Kontrolle, die Entspannungsbewegungen hingegen die Anpassungsfähigkeit des Lebensprozesses als ganzem hinsichtlich dieser Kontrolle zeigen; an den Entspannungsbewegungen erweist sich so die emotionale Reaktionsfähigkeit der Persönlichkeitsstruktur als durch seine unbewußten Schichten bestimmt. Je größer, zweitens, die Konstanz der der Bewegung auferlegten Kontrolle sowohl in ihren eigentlichen kontraktiven Anteilen als auch in ihren Intervallen ist, desto »regulierter« erscheint die Handschrift und als desto »kontrollierter« kann man den Schreiber erwarten; je geringer diese Konstanz und je freier fließend folglich die Handschrift ist, eine desto größere Spontaneität kann man entsprechend auf seiten des Schreibers gewärtigen.


Abb. 16 Beziehungen der Abstriche zur Grundstruktur

Klages’ Dichotomie von »regulierten« und »rhythmischen« Handschriften, die disharmonischen und harmonischen Persönlichkeiten entsprächen, vereinfacht diese Situation zu stark, und genau gegen diesen Bereich seines Systems fühlt sich der Verfasser genötigt, Einwände zu erheben, da die Differenz der Konzepte weder eine bloß technische noch eine terminologische, sondern eine höchst grundlegende ist. Die ganze »vitalistische« Denkschule, in Frankreich von Bergson, in Deutschland von Klages angeführt, interpretierte Bewußtsein an sich als eine störende Kraft im freien Spiel der Impulse, als eine gegen das Leben und den Lebensrhythmus selbst gerichtete Kraft. Entsprechend dieser Grundansicht verfiel Klages darauf, Ausdrucksbewegungen, die einen hohen Grad an bewußter Kontrolle aufweisen – wie z. B. »regulierte Handschriften« –, ohne Rücksicht auf die Art der aufgewiesenen bewußten Kontrolle als symptomatisch für mangelnde Integration anzusehen. Wie nunmehr offensichtlich, verallgemeinert Klages’ Bewußtseinsbegriff Beobachtungen, die nur für den spezifischen Typ oder Fall bewußter Kontrolle, wie er gewöhnlich mit dem Ausdruck »Selbstbewußtsein« angesprochen wird, gelten; die behindernden Wirkungen, die selbstreflexive und introspektiv-beobachtende Haltungen auf emotionale und motorische Impulse ausüben, sind allgemein anerkannt und wurden hinsichtlich ihres spezifischen Einflusses auf Ausdrucksbewegungen in einem früheren Kapitel diskutiert. »Bewußtsein« aber meint über diese Umkehrung seiner normalen Richtung hinaus in erster Linie das Gewahrsein eines und die Konzentration auf ein äußeres Erkenntnisobjekt oder einen Gegenstand des Willens; bei normalen Abläufen ist es einfach ein notwendiges Attribut der Ausgerichtetheit des menschlichen Organismus auf seine Ziele, und als solches qualifiziert und bedingt es einen spontanen Affektfluß eher als ihn zu behindern. »Bewußter Kontrolle« einen desintegrierenden Effekt zuzuschreiben sollte folglich auf solche Ausdrucksbewegungen beschränkt werden, die eine Affekt-unterdrückende Entfaltung solcher Kontrolle erkennen lassen; oder die, allgemeiner gesagt, einen Konflikt anzeigen, der einem Unvermögen der emotionalen Impulse geschuldet ist, bewußten Willen in seinen gewählten Richtungen auszuhalten. In der Schreibbewegung manifestiert sich eine Situation dieser Art nicht notwendig durch »Regelmäßigkeit«, die von sich aus nur die Konsistenz zeigt, mit der bewußte willentliche Kräfte sich entfalten; vielmehr äußert sie sich durch Schwierigkeiten der Koordination – in Form entweder übermäßig unvermittelter oder übermäßig verwickelter Striche –, die aus einer mehr oder weniger ausgeprägten Unfähigkeit des Organismus herrühren, sich diesen Kräften anzupassen. Solche Schwierigkeiten bringen es mit sich, daß der Organismus sein eigenes Element des bewußten Willens eher wie einen »Fremdkörper«, der Anforderungen an ihn stellt, statt, wie normalerweise, seine Beziehung zu diesem Element als eine der Identität erfährt.

»Regelmäßige« Handschriften können folglich auch zufriedenstellend rhythmisiert sein, vorausgesetzt, daß die regulierenden Kräfte des Bewußtseins graphisch integriert sind – in anderen Worten, daß ihr niedriger Schwankungsgrad nicht als die künstliche und den erkennbaren Entspannungsimpulsen eher widerstreitende denn mit ihnen harmonierende Wirkung irgendeiner Art von Selbst-Zwang erscheint; stark schwankende Handschriften hingegen können entsprechend ziemlich unrhythmisch sein: Die typische Schriftspur des Psychopathen zum Beispiel verbindet den Mangel an rhythmischer Integration mit auffälliger Unregelmäßigkeit.

Wir können also Klages’ einfache Dichotomie von Rhythmus und Regelmaß nicht akzeptieren, benötigen vielmehr zwei voneinander unabhängige Kriterien, den relativen Schwankungs- und den relativen Integrationsgrad. Unabhängig von ihrem Formniveau können alle graphischen Erzeugnisse nach diesen beiden Kriterien bestimmt werden, deren klinische Anwendung in beträchtlichem Maße dazu beiträgt, die bestehende Vielzahl an Typen sowohl normaler als auch pathologischer Persönlichkeiten zu erklären.

Klages’ Zweiteilung behält aber ihren Wert, insofern sie für den graphischen Rhythmus in mindestens einer dieser beiden Dimensionen Gültigkeit besitzt, nämlich der der Schwankung. Durch Anwendung des Ambivalenzprinzips entweder auf »regelmäßige« oder »entspannte« Handschriften und in einfachen Ausdrücken zur Charakterbeschreibung formuliert, ergibt sich die folgende erste Tabelle möglicher Persönlichkeitszüge.

Tabelle I Schwankungsgrad


Im grapho-analytischen Verfahren hängt eine richtige Wahrnehmung rhythmischer Eigenschaften, ganz ähnlich wie die des Niveaus der Formqualität, weitgehend von der Übung im Sehen und einem guten allgemeinen Sinn für visuelle Merkmale ab. Einige grundlegende Regeln können natürlich angegeben werden. Eine Handschrift wird als umso besser integriert in einem rhythmischen Sinne bezeichnet werden, je mehr in ihr das Element des Wiederholens der Kontraktions-Entspannungs-Phasen, ohne Ansehen der Stärke der Kontraktionen, als Wirkung eines spontanen Fließens der Bewegungsimpulse erscheint und je mehr in ihr die Elemente des Schwankens, ohne Ansehen des Schwankungsumfangs, eher graduelle als plötzliche Veränderungen darstellen. Für die Bestimmung des Grads an Regelmäßigkeit ergeben sich noch einfachere Regeln aus der zu Beginn dieses Abschnitts vorgenommenen allgemeinen Analyse der Kontraktions-Entspannungs-Zyklen. Auf der Grundlage dieser Analyse kann das Kriterium der Regelmäßigkeit definiert werden als die kombinierte relative Konstanz der Abstrichlänge in der Mittelzone, der Abstände zwischen ihren Basispunkten auf der Schreiblinie, ihren Richtungen und der Stärke des bei ihrer Ausführung ausgeübten Drucks (Abb. 17 – 21).

Abb. 17 – 20 Rhythmus und Regelmaß


Abb. 17 (31 %) Rhythmisch und regelmäßig


Abb. 18 (31 %) Rhythmisch und unregelmäßig


Abb. 19 (31 %) Unrhythmisch und regelmäßig


Abb. 20 (31 %) Unrhythmisch und unregelmäßig


Abb. 21 (42 %) Rhythmische Störungen bei einem guten Niveau der Formqualität

Die Gesamtanlage

Neben den beiden leitenden Kriterien des Formniveaus und der rhythmischen Eigenschaften der Handschrift ist für den graphologisch Arbeitenden die Gesamtanlage des Textes wesentlich als Hilfe, sich auf sein Beobachtungsfeld hin zu orientieren, und als Anstoß auf seinem Weg zu einer näheren Erforschung graphischer Details, die wiederum unabdingbar ist für die folgenden Untersuchungen einzelner Dimensionen.

Die verbreitetsten dimensionssetzenden Eigenschaften der Anlage, wie Ordentlichkeit versus Unordnung oder Eleganz versus Schmierigkeit, suggerieren ihre eigenen allgemeinen Bedeutungen und dürften somit keinerlei ausgefeilte Analyse in diesem Punkt gewährleisten. Diese Eigenschaften wie auch die psychologisch komplexeren von Gedrängtheit versus Dispersion, Betonung versus Mißachtung der Ränder usw. stellen Abkömmlinge von spezifischeren Bestandteilen der Bewegung dar, die gesondert an geeignetem Ort diskutiert werden. Gedrängte Handschrift weist auf die möglichen Bedeutungen von – positiv – einer reichen und eher intensiv reflektierenden und durcharbeitenden denn weit ausgreifenden ideomotorischen Produktivität und – negativ – einer fehlenden Artikuliertheit von Ideen hin; disperse Handschrift positiv auf gute Fähigkeiten zur begrifflichen Erfassung eines großen Gegenstandsfelds, negativ auf mangelnde Sorgfalt und, bei beginnender Schizophrenie, eine Furcht vor logischer Entgleisung, die auf eine Isolierung von Wörtern hinarbeitet.

Schwankungen zwischen beiden Typen, gewöhnlich mit einem sehr hohen Formniveau und signifikant unregelmäßigen, zugleich aber hochrhythmischen Eigenschaften, finden sich besonders häufig in den Schriftstücken von unabhängigen, unkonventionellen und in einigen Fällen außergewöhnlich kreativen, aber auch disharmonischen Persönlichkeiten (Beethoven, Balzac) wie ebenso in denen der klinisch manisch-depressiven. Allgemeine Betonung der Ränder, besonders des oberen und des linken, verweist auf einen ästhetisch artikulierten Sinn für persönliche Distanz und Unterscheidung; eine ausführlichere Diskussion der Ränder folgt weiter unten. Ein Fehlen besonders des oberen Randes und eine mangelnder Abstand zwischen den Zeilen spiegelt mangelndes Selbstvertrauen, ein ängstliches Festhalten an bereits gesicherten Positionen der Umgebung wider; mehrere Linien möglicher graphologischer Interpretation – darunter wäre die einer mehr oder weniger entwickelten »Klebrigkeit«, d. h. Aufdringlichkeit, in interpersonellen Beziehungen zu erwähnen – weichen von diesem allgemeinen Konzept ab. Die Angewohnheit, Textteile einzufügen, ähnelt, wenn sie vorherrscht und besonders, wenn sie die Ränder nicht ausspart, der häufigen Neigung gewisser Leute, im Flur oder noch an der Tür des gastgebenden Hauses eine Unterhaltung erneut aufzunehmen, die bereits beendet war; in ihren weniger harmlosen interpretativen Versionen spiegelt sie einen Vollständigkeitswahn wider, der auf Kosten einer konsistenten Zeitplanung und eines geordneten Vorgehens wirksam ist.

Während die meisten der Merkmale, die die Gesamtanlage ausmachen, ihre richtige systematische Position an spezifischen Orten innerhalb der verschiedenen Bewertungsdimensionen finden, bilden sie zugleich Gesamteigenschaften des Beobachtungs- und Arbeitsfeldes des Graphologen und verdienen als solche seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Graphologie. Schriften 1

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