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Exkurs: „Eine holocaustische Zeit“?
Die problematische Verknüpfung von Aids und Holocaust

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Der Slogan „Silence = Death“ in Kombination mit dem Rosa Winkel stellte unübersehbar einen Bezug zwischen der Verfolgung homosexueller Männer im Nationalsozialismus und der Situation der Schwulen in der Aidskrise her. Das Schweigen angesichts des massenhaften Sterbens von Schwulen, damals in der NS-Zeit wie in der Aidskrise, müsse durchbrochen werden, um überleben zu können, so die These.

Eine Verbindung herzustellen zwischen der Verfolgung der Schwulen in der NS-Diktatur und ihrer Situation in der beginnenden Aidskrise war in den 1980er-Jahren in den USA ein weit verbreiteter Gedanke. Erstmals tauchte diese Denkfigur im März 1983 in einem Artikel von Arnie Krantowitz im Schwulenmagazin „The Advocate“ auf:

„Instead of sympathizing with us as the victims of a disease, those who wish us dead will accuse us of having invented AIDS and will … accuse us of being unclean. 'Unclean' is what they called the Jews of Germany before the racial purity laws made it illegal to have sex with them.“

(Advocate 1983; auf Deutsch etwa „Statt mit uns als Opfern der Krankheit zu sympathisieren, werden diejenigen, die uns den Tod wünschen, uns beschuldigen, AIDS erfunden zu haben … und unrein zu sein. ‚Unrein‘ nannten sie die Juden in Deutschland, bevor die Rassereinheits-Gesetze es für illegal erklärten, mit ihnen Sex zu haben“; U. W.)

Verdichtet wird der Gedanke bald in Formulierungen wie „Aids is the gay holocaust“, die insbesondere Larry Kramer, selbst Jude, immer wieder benutzte. In seinem 1985 erschienenen Buch „The normal heart“ zum Beispiel, mit dem er für den Kampf gegen Aids motivieren wollte, forderte er, Schwule sollten nicht die gleichen Fehler wie damals die Juden machen. Und einer 1989 veröffentlichten Sammlung nichtfiktionaler Texte gab er den programmatischen Titel „Reports from the Holocaust: The Story of an AIDS Activist“. Kramer schrieb darin:

„Aids is our holocaust and Reagan is our Hitler. New York City is our Auschwitz.“

(Kramer 1989, S. 120; „Aids ist unser Holocaust und Reagan ist unser Hitler. New York City ist unser Auschwitz“; U. W.)

Kramer, der noch 2015 mit Blick auf HIV von „Genozid“ sprach, war jedoch bei Weitem nicht der Einzige, der immer wieder Aids und Holocaust in Verbindung setzte – bis mindestens zum Jahr 2000 ist diese Verknüpfung zu finden. Im Folgenden einige Beispiele:

Der konservative US-Publizist David Horowitz gab einem Kapitel über Aids in seinem 1998 erschienen Buch „The Politics of Bad Faith“ den Titel „A radical holocaust“. Horowitz warf darin den von ihm so genannten „homosexuellen Radikalen“ vor, durch ihre Ablehnung der normativen Institutionen Amerikas „ihren eigenen sozialen Frankenstein“ in Form der Aids-Epidemie erschaffen zu haben:

„In rejecting America’s normative institutions, while radically inventing the social future, however, they invite just those retributions that have historically attended the systematic violation of natural order. In so doing, they have created their own social Frankenstein, even without achieving state power, in the contemporary epidemic of AIDS.“

(Horowitz 1998; auf Deutsch etwa: „Indem sie Amerikas normative Institutionen ablehnen und zugleich radikal die gesellschaftliche Zukunft erfinden, ziehen sie genau jene Vergeltung auf sich, die historisch immer auf eine systematische Verletzung der natürlichen Ordnung gefolgt ist. Dadurch haben sie, sogar ohne staatliche Gewalt erlangt zu haben, ihren eigenen sozialen Frankenstein in Form der gegenwärtigen Aids-Epidemie erschaffen“; U. W.)

Der 1993 an den Folgen von Aids verstorbene Filmemacher Stuart Marshal stellte in seiner 1986 erschienenen Dokumentation „Bright Eyes“ Aids und den Holocaust in einen Zusammenhang, auch wenn er später häufiger, so auch 1989 bei der Konferenz „How do I look?“, dementierte, er habe eine direkte Parallele zwischen dem Holocaust und der Aids-Epidemie ziehen wollen (vgl. Hallas 2009).

Barbra Streisand bezeichnete das jahrelange Schweigen des US-Präsidenten Ronald Reagan zu Aids noch 1992 als „genocidal“:

„I will never forgive my fellow actor Ronald Reagan for his genocidal denial of the illness' existence, for his refusal to even utter the word AIDS for seven years, and for blocking adequate funding for research and education which could have saved hundreds of thousands of lives.“

(Zitiert nach Wockner 2004; auf Deutsch etwa „Ich werde meinem Schauspielerkollegen Ronald Reagan niemals seine genozidale Leugnung der Existenz der Krankheit vergeben, seine Weigerung, das Wort Aids sieben Jahre lang auch nur auszusprechen, seine Blockade einer angemessenen Finanzierung von Forschung und Aufklärung, die hunderttausenden Menschen das Leben hätte retten können“; U. W.)

Der 1996 an den Folgen von Aids verstorbene Schriftsteller Harold Brodkey stellte Analogien zu den Todeslagern der Nazis her:

„The separation from society, the political marginalization and the financial thefts, the attacks to see what can be stolen from you, and the indignity – including social indignity – of AIDS suggest a partial, sometimes fluorescent and linoleumed version of the death camps.“

(Brodkey 1996; auf Deutsch etwa „Die Abtrennung von der Gesellschaft, die politische Marginalisierung und die finanziellen Diebstähle, die Attacken, um zu sehen, was man von dir stehlen kann, und die Würdelosigkeit – einschließlich der sozialen Würdelosigkeit – von Aids beschwören eine partielle, manchmal fluoreszierende und mit Linoleum ausgelegte Version der Todeslager herauf“; U. W.)

Auch außerhalb der USA wurde der problematische Genozid-Bezug verwendet. So formulierte Simon Watney in seinem Klassiker „Policing Desire“ im Jahr 1989:

„The British media cares as much about our health as Der Sturm cared about that of the Jews in the 1930s.“

(Watney 1989; auf Deutsch etwa „Die britischen Medien sorgen sich so viel um unsere Gesundheit, wie sich Der Sturm in den 1930er-Jahren um die Gesundheit der Juden sorgte; U. W.)

Einige US-amerikanische Aidsaktivist_innen verwendeten ebenfalls Begriffe aus dem Kontext des Holocaust wie Genozid, KZ oder Lager. ACT UP New York zum Beispiel kritisierte den US-Präsidenten George Bush mit folgendem Sprechchor:

„George Bush, you can't hide – We charge you with genocide!“

(Vgl. ACT UP Chants, auf Deutsch etwa: George Bush, du kannst dich nicht verstecken – Wir klagen dich des Genozids an“; U. W.)

Auch in Publikationen verwendete ACT UP New York bis zu Beginn der 1990er-Jahre Wörter aus dem Begriffsfeld „Genozid“. Zu einer „Ashes Action“ am 11. Oktober 1992 in Washington D.C. rief die Organisation unter anderem mit dem Slogan

„Join us to protest twelve years of genocidal AIDS policy“

(etwa „Mach mit beim Protest gegen zwölf Jahre genozidaler Aidspolitik“; U. W.)

auf, und bei einer „Funeral procession“ im November 1992 sagte Mark L. Fisher:

„And we are dying of a disease maintained by a degree of criminal neglect so enormous that it amounts to genocide.“

(http://www.actupny.org/diva/polfunsyn.html, etwa „Und wir sterben an einer Krankheit, die durch ein solch enormes Maß an krimineller Vernachlässigung aufrechterhalten wird, dass dies einem Genozid gleichkommt“; U. W.)

Und noch 1996 formulierte Eric Sawyer auf der XI. Internationalen Aids-Konferenz in Vancouver:

„Human Rights Violations and Genocide continue to kill millions of impoverished people with AIDS“

(Sawyer 1996, „Menschenrechtsverletzungen und Genozid töten auch weiterhin Millionen verarmter Menschen mit Aids“; U. W.).

Am bekanntesten für die Gleichsetzung von Aids und Holocaust aber wurde der Autor und ACT-UP-Gründer Larry Kramer. Zu den möglichen Gründen schrieb der US-amerikanische Schriftsteller Tony Kushner, der für sein Stück „Angels in America“ den Pulitzer-Preis erhielt:

„In a way, like a lot of Jewish men of Larry's generation, the Holocaust is a defining historical moment, and what happened in the early 1980s with AIDS felt, and was in fact, holocaustal to Larry.“

(Zitiert nach Vargas 2005, S. 3, etwa „In gewisser Weise ist der Holocaust, wie für viele jüdische Männer aus Larrys Generation, ein entscheidendes historisches Ereignis, und was in den frühen 1980er-Jahren rund um Aids geschah, stellte sich für Larry holocaustisch dar und war es de facto auch“; U. W.).

Doch so traumatisch die Erfahrungen schwuler Männer besonders in den ersten zehn bis 15 Jahren der Aidskrise gewesen sind – kann man die Situation schwuler Männern zu Beginn der Aidskrise wirklich mit der Verfolgung der Juden durch die NS-Diktatur gleichsetzen? Kann das Bemühen, in einem durch Schweigen und Ignoranz gekennzeichneten Alltag und Politikbetrieb Aufmerksamkeit zu erzielen, dies rechtfertigen?

Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich Parallelen zu geben. HIV-Positive und Aidskranke wurden (und werden) in manchen Gegenden der Welt mit dem Strafrecht bedroht, allein weil sie HIV-positiv sind. Auch Quarantäne aufgrund der HIV-Infektion war eine Drohung für Menschen mit HIV und Aids, in manchen Gegenden eher als abstrakte politische Forderung, in anderen als konkrete Realität. Der massiv von ACT UP kritisierte US-Politiker Jesse Helms zum Beispiel forderte Ende der 1980er-Jahre eine „quarantine of those infected“ (Chicago Tribune 1987), Kuba sonderte von 1986 bis 1993 Aidskranke in einem abgelegenen Sanatorium ab (Adesky 2003), in Frankfurt am Main forderte der Oberbürgermeister noch 1988 eine „Quarantäne für Uneinsichtige“ (Schock 2013), und in Schweden konnten HIV-Positive zwangsweise zur Quarantäne in ein Krankenhaus eingewiesen werden (Rath 2005).

Dennoch sprechen viele Argumente gegen diese hochproblematische Gleichsetzung von Aidskrise und Holocaust. Der Holocaust basierte auf bewussten Handlungen, auf Diskussionen und Entscheidungen über eine sogenannte Endlösung. Er hatte konkrete Täter und Opfer. Er wurde in monströsem Umfang, mit härtester Rücksichtslosigkeit und Unmenschlichkeit bewusst und absichtlich betrieben. Der Holocaust war und bleibt in jeder Hinsicht ein singuläres Ereignis.

Aids hingegen beruht auf einem Virus als Agens. Es gab keine Aids-Konzentrationslager für Schwule, und keine Regierung benutzte Aids zur Ermordung von Homosexuellen.

So sehr der Holocaust auf den ersten Blick als Matrize auch geeignet erscheinen mag, die Verantwortungslosigkeit des Nichtstuns, die Bestürzung beim Erleben massenhaften Sterbens, das Gefühl der Apokalypse und die Angst vor der Auslöschung einer ganzen Gruppe zu veranschaulichen – die Gleichsetzung ist in jeder Hinsicht maßlos und bestürzend. Einen einzigen Zweck mag sie im Rückblick erfüllen, einen historischen: Sie illustriert, wie tief der Schock in den ersten Jahren der Aidskrise saß – besonders in den USA und besonders in den Schwulenszenen.

ACT UP Deutschland hat das Signet „Schweigen = Tod“ nach Diskussionen auch über US-amerikanische Holocaust-Analogien übernommen. Hierfür sprach unter anderem, dass der Rosa Winkel gerade in Deutschland als Zeichen der 1970er-Schwulenbewegung sehr bekannt war und so auf ein „eingeführtes“ Zeichen zurückgegriffen werden konnte, das sofort verstanden wurde. Vergleiche der Aidskrise mit dem Holocaust und Genozid-Formulierungen hingegen hat es bei ACT UP in Deutschland meines Wissens nicht gegeben – aus guten Gründen.

Schweigen = Tod, Aktion = Leben

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