Читать книгу Baltrumer Bärlauch - Ulrike Barow - Страница 6

Prolog

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Wenn Inga Tarmstedt gewusst hätte, dass ihrem Stöbern in alten Kunstbänden so viel Unheil folgen würde, wäre sie ganz gewiss im Cafe Scheibner sitzen geblieben und hätte sich ein weiteres ihrer heiß geliebten Buchweizentortenstückchen mit Blaubeeren genehmigt.

So aber saß sie an diesem warmen Tag wie angenagelt in einem der alten Sessel im Worpsweder Antiquariat und blätterte und blätterte. Der nette Antiquar hatte seine Brille auf die Stirn geschoben und einen Band nach dem anderen aus den hohen Regalen gesucht, als sie ihre Wünsche geäußert hatte. Wünsche, die für den Mann tägliches Brot waren. Hier, umgeben von endlos scheinenden Bücherreihen, würde sie mit Gewissheit Informationen über die berühmte Künstlergruppe finden, die vom Ende des vorletzten bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts das Bild dieses Ortes geprägt hatte. Wer sich in Worpswede befand, diesem beschaulichen Ort nahe Bremen, interessierte sich für Namen wie Mackensen, Vogeler, Hoetger, Rilke und Modersohn. Deren Schaffen begegnete man hier, wo Kunsthallen, Galerien und kleine Kunstgewerbegeschäfte auf engstem Raum vereint waren, an jeder Straßenecke.

Wieder nahm Inga einen Kunstband in die Hand. Ein Mädchen mit einem Blumenkranz leuchtete ihr vom Titel­bild entgegen, gezeichnet im Profil, mit ausgeprägten­ Gesichtszügen. Natürlich, Paula Modersohn-Becker, wer sonst konnte dieses Bild gemalt haben? Sie hatte viele Biografien dieser außergewöhnlichen Frau gelesen, die ihr Leben kompromisslos der Kunst untergeordnet hatte, zumindest wenn man den Schreibern glauben durfte. Und so manches Mal hatte Inga darüber nachgedacht, ob auch sie in der Lage wäre, ihren Weg für die Kunst so konsequent zu gehen. Bis jetzt hatte sie noch keine Antwort darauf gefunden.

Sie blätterte weiter bis zu dem Bild einer zwischen zwei Bäumen aufgehängten Leine, an der Wäsche flatterte, vom Wind in der Bewegung getrocknet. Das ist es, dachte sie, das Leben auf dem Dorf in seiner ganzen Einfachheit und zugleich Gesamtheit. Die Landschaft, die Menschen und … – Ihr Atem stockte. Sie hatte die nächste Seite aufgeschlagen, und ihr Blick fiel auf einen Himmel, durchzogen von weißen und grauen Wolkengebilden und widergespiegelt in den kurzen, unruhigen Wellen eines breiten Flusses. In der Mitte des Stromes zwei Segelboote.

Sie las den Namen unter dem Bild. Walter Bertelsmann. Dieser Name war ihr unter den berühmten Worps­wedern noch nie aufgefallen.

Lange betrachtete sie das Bild und plötzlich hatte sie das Gefühl, Teil dieser Landschaft zu sein. Sie sah sich am Ufer des Flusses stehen und den Schiffen nachschauen. Kleine Wellen umspielten ihre Füße, und sie spürte den Wind auf ihren Armen.

Inga war beeindruckt. Wenn schon ein kleiner Abdruck in einem Buch so tiefe Gefühle bei ihr hervorrief, wie müsste es dann erst sein, vor einem echten Bertelsmann zu stehen?

»Haben Sie über diesen Maler noch mehr Bücher?«, fragte sie den Antiquar.

»Walter Bertelsmann, warten Sie, ich schau mal eben nach. Soviel ich weiß, gibt es über ihn nicht viel Material, obwohl er in seinem Leben wohl mehr als tausend Bilder gemalt hat.« Nach einem Blick in seinen Computer stand er auf. »Wir haben Glück, ich habe eine Biografie über ihn da, von Thomas Felgendreher. Es ist der einzige ausführliche Band, der über ihn erschienen ist.« Nach kurzem Suchen reichte er Inga das Buch über die Ladentheke.

Inga begann, sich in das Leben des Malers einzulesen, und merkte nicht, wie die Zeit verging. Erst als der nette Herr hinter der mit Büchern vollgepackten Theke ein paarmal verstohlen auf seine Uhr schaute, klappte sie die Seiten zusammen und sagte fröhlich: »Das nehme ich mit. Danke für Ihre Geduld. Und einen schönen Feierabend wünsche ich Ihnen.«

Mit dem Buch unter dem Arm ging sie zurück zu dem Atelier, das ihr seit fünf Monaten als Zuhause auf Zeit diente.

*

Mit einem Ruck drehte sich Inga um.

»Ich werde hinfahren. Ob die Einwohner dort überhaupt wissen, dass ein begnadeter Künstler unter ihnen gelebt hat? Ich finde es hochinteressant, der Spur dieses Mannes zu folgen. Hier habe ich schon einige Bilder von ihm gefunden, aber ich möchte mehr sehen. Außerdem muss es eine aufregende Erfahrung für Walter Bertelsmann gewesen sein, mitten im Winter auf eine kleine Nordseeinsel zu reisen. Ich wette, er hat dort jede Menge gemalt. Da müssten noch Bilder von ihm zu finden sein. Du siehst, es gibt einen guten Grund, genau dorthin zu fahren. Von Sonnenschein, Strand und Wellen mal ganz zu schweigen.«

Außerdem musste sie sich dringend Gedanken über ihre Zukunft machen, aber das behielt sie für sich. Dieses Thema würde Fynn vermutlich nicht sonderlich interessieren.

Fynn hatte es sich auf ihrem Bett bequem gemacht und schaute sie mit einem ironischen Blinzeln an. »Du weißt, dass dein Stipendium hier noch einen Monat läuft?« Sein Deutsch war fast akzentfrei und so fließend, dass sich nur selten dänische Ausdrücke einschlichen. »Die sehen das nicht gerne, wenn einer ihrer Auserwählten den Ort für längere Zeit verlässt, das solltest du eigentlich wissen, und das Wort ›begnadet‹ könntest du vielleicht auch etwas vorsichtiger verwenden. Außerdem habe ich gerade das Gefühl, dass dein unberechenbares Temperament mal wieder mit dir durchgeht. Der Mann und seine Bilder sind morgen doch auch noch da.«

»Ach, Fynn, du hast ja recht, aber ob ich ein paar Tage mal nicht hier bin, das merken die anderen gar nicht, und mit meiner neuen Skulptur komme ich im Moment sowieso nicht recht voran. Nenne es schöpferische Pause, eine Suche nach unseren künstlerischen Vorgängern, oder einfach eine passende Gelegenheit zum … Ach egal, vergiss es.«

»Hör schon auf, ich kann dich doch nicht zurückhalten­.« Sie merkte an Fynns Stimme, wie ihn das Thema nervte. »Aber mecker nicht, wenn es schief geht und die hohen Herren vom Kunstverein dir den Stuhl für deinen schöpferischen Popo vor die Tür setzen.«

»Du kannst einfach sagen, ich wäre krank. Oder ich hätte dringend zu meiner Familie gemusst, falls dich jemand nach mir fragt«, schlug Inga vor, doch Fynn winkte ab. »Außerdem gehören wir zu den letzten Stipendiaten, die hier in diesen Ateliers wohnen. Da werden die sicher ein Auge zudrücken, falls die merken sollten, dass ich mich für kurze Zeit verdrückt habe.«

»Und wenn die ein Auge zudrücken, wird es genug andere Leute geben, die genau das der Tatsache zuschreiben­, dass dein Vater der Stiefbruder vom Direktor ist.«

Inga wurde es schlecht bei diesen Worten, die sie seit ihrer Ankunft verfolgten wie eine Herde Schafe. Nun auch noch Fynn. Hörte das denn nie auf? Sie war doch gut. Was konnte sie dafür, dass ihr die Begabung in die Wiege gelegt worden war, wie so vielen anderen Mitgliedern ihrer Familie? Sie hatte sich ganz normal beworben. Ohne Vitamin B oder geheime Absprachen. Sie konnte auch kaum glauben, dass die Juroren sich von etwas anderem als Talent oder Kreativität der Bewerber in ihrer Entscheidung leiten lassen würden. Selbst Hans Heffgen, eines der ältesten Stiftungsmitglieder, hatte vor ein paar Tagen bei der Betrachtung ihrer kleinen Katzen­skulptur beifällig mit dem Kopf genickt und ›weiter so‹ gemurmelt. In ihrem Inneren wusste sie genau, dass sie etwas konnte. Und dass sie nie mehr in ihrem Leben etwas anderes machen wollte, als an ihren Skulpturen aus Holz zu arbeiten. Allerdings wusste sie auch, dass zum Leben das Geldverdienen gehörte. Wann würde der Rest der Welt endlich ihr Talent erkennen und würdigen? Sie stöhnte laut auf, und Fynn zuckte zusammen.

»Was ist denn nun wieder los? Weißt du was? Komm du erst mal mit dir selbst klar. Dann kannste gerne Bescheid sagen. Bis dahin.« Er hob seine Beine, auf denen die Arbeit an einem großen Acrylgemälde bunte Spuren hinterlassen hatte, aus dem Bett, und im nächsten Moment war er verschwunden.

Versonnen schaute Inga auf die hinter ihm zugefallene Tür. Komisch, dachte sie, wenn man Fynns Bilder betrachtete, könnte man meinen, dass er trotz seiner jungen Jahre das Leben bis in die tiefsten Abgründe begriffen hätte, aber im wirklichen Leben geht sein Tiefgang nicht über nette Gespräche, Partys und coole Sprüche hinaus.

Er hatte mal wieder Reißaus genommen, wie immer, wenn etwas bei ihm unter das Stichwort ›Weibergezicke‹ fiel – und das war eine ziemliche Bandbreite. Sollte er doch gehen. Sie würde jedenfalls nach Baltrum reisen. Obwohl er recht hatte. Sie könnte die Sache auch ruhiger angehen. Aber so war sie nun mal. Bei der Arbeit an ihren Tierskulpturen bewies sie unendliche Geduld, wenn es aber ums tägliche Leben ging … Sie lächelte und öffnete die Tür ihres Ateliers. Ihr Blick fiel auf den Barkenhoff, den ehemaligen Wohnsitz des Malers Heinrich Vogeler. Heute war es ein Museum, und schon oft war sie durch die Räume gestreift mit dem Gefühl, die Anwesenheit der großen Maler der Jahrhundertwende dort noch immer spüren zu können.

Was gäbe ich dafür, hätte ich an einem der Sonntagstreffen oben im weißen Saal teilnehmen dürfen, sinnierte sie. Paula und ihre Freundin Clara Rilke-Westhoff hätten gesungen. Der Rilke seine Gedichte vorgelesen. Die Herren Vogeler und Modersohn ihr Pfeifchen geraucht und intelligent über Malerei gesprochen. Und Hoetger erst, der Mann meiner Skulpturenträume und große Architekt … Er hätte meine Arbeit kritisch und fachkundig begleitet.

Ob wohl auch Walter Bertelsmann manchmal an diesen Sonntagsvergnügen teilgenommen hatte? Immerhin, er war ein Schüler Hans am Endes gewesen, und der war nachweislich Teil dieser schöpferischen Runde.

Bertelsmann ließ sie nicht mehr los. Morgen würde sie noch einmal in den Worpsweder Galerien und Museen nach seinen Bildern suchen, die ihr bisher aus unerfindlichen Gründen nie so recht aufgefallen waren.

Sie schaute auf die Uhr. Halb sieben. Fynn hatte sich offensichtlich für den Rest des Tages beurlaubt. Schade, sie hätte gerne den Abend mit ihm verbracht. Fynn hatte zur gleichen Zeit wie sie sein Stipendium angetreten. Ausgewählt aus Hunderten von Bewerbern, war er aus Kokhave gekommen, einem kleinen Ort in Dänemark. Es hatte zwischen ihnen ziemlich schnell gefunkt. Das hatte sie zumindest am Beginn ihrer Beziehung geglaubt. Inzwischen dachte sie allerdings immer öfter darüber nach, ob er vielleicht nur versuchte, über sie an ihren Stiefonkel heranzukommen.

Schon wieder ein Grund mehr, Worpswede für ein paar Tage den Rücken zu kehren. Außerdem war sie sich sicher, dass ihre Zukunftsplanung viel einfacher sein würde, wenn ihr ein frischer Nordseewind den Kopf frei geweht hatte.

Hunger hatte sie noch nicht, also öffnete sie eine Flasche Rotwein und gab in ihren Laptop das Stichwort ›Baltrum‹ ein. Nach etwa zwei Stunden versunkenen Suchens und Lesens wusste sie es ganz sicher: Da wollte sie hin. Und zwar so schnell wie möglich.

Baltrumer Bärlauch

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