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Donnerstag

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Fynn fuhr Inga mit dem Auto von Worpswede zum Bremer Hauptbahnhof. Nicht, um ihr einen Gefallen zu tun, das war ihr klar, sondern weil er dem Paula-Modersohn-Becker-Museum in der Böttcherstraße einen Besuch abstatten wollte.

Er versuchte allerdings, ihr noch einmal ernsthaft ins Gewissen zu reden. »Du hast wohl vergessen, dass unsere Abschlussarbeiten in der nächsten Woche abgegeben werden müssen.« Süffisant grinste er sie von der Seite an. »Aber so sind meine Chancen, ausgezeichnet zu werden, natürlich noch etwas höher. Tak for det.«

Sie hatte ihm nicht erzählt, dass ihre Lieblingsskulptur, der Leopard mit den wachen Augen, bereits auf dem Tisch der Juroren lag. Sie war glücklich über ihre letzte Arbeit, denn sie hatte genau das aus dem Holz herausarbeiten können, was ihr wichtig erschien. Das Spiel der Muskeln beim Absprung – fast meinte sie, die Bewegung spüren zu können, wenn sie über das warme Holz strich.

Inga machte es sich im Regionalexpress gemütlich. In Norden würde der Bus der Reederei Baltrum-Linie auf sie warten und sie nach Neßmersiel bringen. Und dann noch eine Schifffahrt, dachte sie, so habe ich an einem Vormittag fast alle gängigen Verkehrsmittel durch.

Es war ruhig im Zug. Inga lehnte sich entspannt zurück und dachte an den Mann mit dem mächtigen Schnurrbart und dem ausladenden Künstlerhut.

Sie hatte viel unternommen in den letzten Tagen, um ihrem neu erkorenen Lieblingsmaler näher zu kommen. Sie hatte sich im Internet bei Artprice seine Bilder angesehen, die Biografie gelesen und sich in den Worpsweder Museen und Galerien umgeschaut. In der Käseglocke, einem kleinen, runden, wunderschönen Museum mit außergewöhnlicher Architektur mitten im Wald, hatte sie in einer gläsernen Vitrine Geschirr entdeckt, das von seiner Frau Erna bemalt worden war. Auch vor dem ehemaligen Wohnhaus Bertelsmanns, einem der ältesten Bauernhäuser in Worpswede, hatte sie gestanden, aber nicht den Mut gefunden, die Klingel zu drücken.

Inga hatte auch versucht, etwas über das Baltrum im Jahre 1905 zu erfahren, dem Jahr, in dem Walter Bertelsmann die Insel besucht hatte. Allerdings waren da die Informationen eher mager gewesen. Sie hoffte, direkt auf der Insel mehr herauszufinden.

*

Es war November, als er sich auf den Weg nach Baltrum machte. Ein aufregender Entschluss, denn um diese Jahreszeit gab es die Annehmlichkeiten des gerade erblühenden Tourismus auf der Insel nicht, und die Verbindung dorthin war recht langwierig. Aber er wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er stieg in Bremen in den Schnellzug, der ihn in die kleine Stadt Norden brachte. Von dort nahm er die ostfriesische Küstenbahn für eine halbstündige Fahrt nach Dornum. Unterkunft fand er im Hof von Ostfriesland.

»Wohin soll Ihr Weg gehen?«, fragte ihn der Hotelbesitzer­ Wilhelm Fokken.

»Ich möchte nach Baltrum, obwohl das Wetter nicht gerade zum Baden einlädt.« Er zeigte auf seinen großen Reisekoffer. »Aber ich habe genügend wetterfeste Sachen dabei. Als Norddeutscher ist man mit Sturm und Kälte vertraut, nicht wahr? Außerdem stecken hier noch viele Mal-Utensilien drin. Sagen Sie, wie komme ich morgen nach Neßmersiel? Von dort fährt doch das Schiff, wenn ich mich richtig informiert habe?«

Fokken nickte. »Ich bin nicht nur Hotelier, sondern auch Fuhrunternehmer hier im Ort. Ein Landauer und eine offene Chaise stehen bei mir im Stall. Damit könnte ich Sie morgen nach Neßmersiel bringen. Ob das Schiff fährt, kommt auf die Wetterlage an. Haben wir Sturm, besonders starken Ostwind, müssen Sie noch ein wenig länger meine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen.«

Walter Bertelsmann versprach, am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück reisebereit in der kleinen Hotelhalle zu warten.

Er nutzte die Zeit und schaute sich in dem beschaulichen­ ostfriesischen Ort das Schloss und die alte Kirche mit ihrer prächtigen Orgel an.

Am nächsten Tag wartete er bereits ungeduldig auf seine Kutsche, als Wilhelm Fokken hereinkam. »Sie haben Glück, heute fährt der Postbus nach Neßmersiel, so ersparen Sie es sich, in der kalten Kutsche zu sitzen. Sehen Sie«, er zeigte nach draußen, »dort steht er schon. Er fährt zwei Stunden vor Ablegen des Schiffes los, denn es kann immer sein, dass das Schiff wegen schwankender Wasserverhältnisse etwas früher als im Fahrplan ausgedruckt die Leinen lösen muss. Nun kommen Sie. Ich trage Ihren Koffer.«

Am kleinen Hafen unterhalb des Fährhauses lag das Schiff bereit zur Abfahrt. Er sah, dass außer ihm noch ein paar andere Gäste die Überfahrt antreten wollten. Auch ein wenig Fracht wurde noch geladen. Dann ging es unter Segeln durch einen gewundenen Priel Richtung Wattenmeer. Das Wetter war klar, und bald schon konnte er die Silhouette der Insel mit den kleinen Insulanerhäuschen in der Ferne liegen sehen. Kapitän Eilts, so hatte der Schiffsführer sich vorgestellt, hatte ihm erzählt, dass das Schiff bis zur Buhne M des Schutzwerkes fahren würde, von dort könne man ganz bequem in einem kurzen Fußmarsch die Insel erreichen.

Bertelsmann hatte vor der Reise einen Brief von seinem Vermieter erhalten, der seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht hatte, dass jemand mitten im Winter­ Baltrum besuchen wolle. Dennoch hatte der Mann versprochen, ihn an der Buhne abzuholen, und ihm ein Zimmer in seinem kleinen Hotel zur Verfügung zu stellen. Frühstück, Mittagessen und Abendessen wird in der geheizten Küche bereitgestellt, hatte er am Schluss seines Briefes geschrieben. Und mit Hinrich Janssen Küper, Hotelier unterschrieben.

Inga schlug verschlafen die Augen auf. Der Zug fuhr gerade langsam in den Emder Bahnhof ein. Glück gehabt, dachte sie, hätte ich nur ein wenig länger geträumt, wäre ich womöglich erst in Norddeich aufgewacht, und das wäre für meine Reise nach Baltrum ganz bestimmt nicht günstig gewesen.

Den Rest der Fahrt verbrachte sie damit, die Felder und Wiesen zu bewundern, die sich rechts und links des Schienenstranges bis zum Horizont erstreckten. Ab und zu fuhren sie durch einen der kleinen ostfriesischen Orte. Marienhafe las sie. Hatte hier nicht der berühmte Pirat Klaus Störtebeker im Kirchturm gehaust und zusammen mit den Ostfriesen der Hanse die Stirn geboten?

In Norden am Bahnhof stand der Bus schon bereit. Inga machte es sich auf einem Fensterplatz gemütlich. Am Marktplatz stiegen noch einige Leute ein, beladen mit Einkaufstaschen und voll bepackten Rollwagen. Bald entspann sich unter den Zugestiegenen eine angeregte Unterhaltung. Das müssen Insulaner sein, kombinierte Inga messerscharf, denn sie verstand nicht ein einziges Wort. Sie stammte zwar aus Schleswig-Holstein, konnte aber kein Plattdeutsch. Das kann ja heiter werden, dachte sie. Hoffentlich verstehen die mich auf der Insel überhaupt!

Nach einer knappen halben Stunde sah sie den Hafen vor sich. Eine große Fähre legte gerade an, und ein kräftiger Wind wehte ihr beim Aussteigen um die Nase. Inga bestieg das Schiff und schaute sich auf dem Oberdeck um. Die meisten der blauen Bänke waren noch leer, obwohl herrlicher Sonnenschein dazu einlud, die Überfahrt draußen zu genießen.

Auf einer der Bänke saß eine junge Frau, die viele bunte Schleifchen in ihre knallrote Mähne geflochten hatte, und lächelte Inga an. Sie machte einen so offenen und freundlichen Eindruck, dass Inga das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich heiße Inga Tarmstedt.«

»Ich bin Lena Schirrmacher. Sie wollen sicher Urlaub machen.«

Inga nickte. »Ja, und ein bisschen Recherche betreiben. Ich folge den Spuren eines Künstler, der hier gewesen sein soll.«

»Ich besuche meine Großeltern«, erklärte Lena Schirr­macher. »Habe zwei Wochen Urlaub und spontan beschlossen, die Insel könnte mir mal wieder ganz gut tun. Wir vermieten auch. Zimmer mit Frühstück. Oma hat bestimmt was frei. Haben Sie schon ein Zimmer?«

»Ja, ich habe im Ostdorf eine kleine Ferienwohnung gemietet. Im Haus Seegras.«

»Ach, das ist ja super. Das Haus von meinen Großeltern liegt gleich gegenüber. Dann können wir uns morgens beim Zähneputzen zuwinken.« Lena lachte. »Lassen wir doch das blöde ›Sie‹. Ich bin Lena. Sollen wir uns mal auf ’nen Kaffee treffen? Wie wär’s morgen um drei im Kluntje?«

Inga war froh, gleich so eine nette Bekanntschaft gemacht zu haben. »Wenn du mir nun auch noch erklären würdest, wo das Kluntje ist? Bin neu hier.«

»Klar doch, du läufst einfach Richtung Osten, am Friedhof vorbei und dann links über den Deich. Gleich dahinter ist das Café.« Lenas ausgestreckter Arm zeigte eine für Inga undefinierbare Richtung an. Trotzdem versprach Inga: »Ich werde pünktlich da sein.«

Als das Schiff auf Baltrum anlegte, fragte Lena: »Wirst du abgeholt, oder willst du deine Sachen mit bei uns auf die Wippe stellen, ich meine natürlich unsere kleine Transportkarre?«

»Frau Meyer hat gesagt, sie stände mit einer Wippe« – Inga lachte und betonte das Wort ›Wippe‹ deutlich, »und einem Namensschild vor der Brust am Hafen. Lasse mich also überraschen. Bis bald.«

*

Schon als sie die hintere Gangway der Baltrum I herabstieg, sah Lena ihre Großmutter aus der Ferne winken. Sie winkte zurück, und eine große Freude erfasste sie bei dem Gedanken, ihre Oma gleich in die Arme schließen zu können. Opa war natürlich nicht mit zum Hafen gekommen. War wohl zu viel verlangt. Aber er würde schon früh genug ihre neue Frisur missbilligend in Augenschein nehmen, mit seinem typischen verständnis­losen Kopfschütteln wieder zum Strand latschen und nach drei Stunden mit einer Karre voll zusammengesuchtem Strandgut wieder auf der Matte stehen.

»Oma, Oma!« Mit ausgebreiteten Armen lief sie auf die wartende Frau zu, sobald sie festen Boden unter den Füßen spürte.

»Mensch, Lena, ist das schön, dass du da bist.«

Lena sah Tränen in den Augen ihrer Großmutter. »Was ist denn mit dir los? So nah am Wasser gebaut kenne ich dich gar nicht. Ist irgendwas? Du siehst müde aus.«

»Ach was, gar nichts ist los. Ich bin nur froh, dass du da bist. Und ein bisschen geschafft von der Saison. Die vielen Monate ohne einen freien Tag, das geht an die Nieren. Aber reden wir nicht davon. Komm, pack deine Sachen in die Wippe. Du weißt ja: Der Weg ins Ostdorf ist lang, aber schön.«

Lena nahm ihren Koffer aus dem Container, schaute sich nach ihrer neuen Freundin um und sah, dass deren Vermieterin zur Stelle war. »Wir können los. Wie geht es meinem muffeligen Großvater?«

»Ach, gut. Wie immer.«

Lena betrachtete sie argwöhnisch. »Oma, was ist los? Du hast doch was.«

»Es ist alles in Ordnung, mein Kind, glaube mir. Hast du gehört, dass neulich ein Film hier gedreht worden ist? Über die Theatergruppe?«

»Nein, erzähl mal.«

Und Gerdje erzählte alles, was sie über die Filmaufnahmen wusste. Trotzdem wurde Lena das Gefühl nicht los, dass ihre Oma ganz andere Dinge auf dem Herzen hatte als das, was sie ihrer Enkelin als aufregende Neuigkeit verkaufen wollte.

*

Inga hatte ihrer Vermieterin kurzerhand das Fahrrad mit der Wippe aus der Hand genommen und gesagt: »Sie zeigen mir den Weg und ich schiebe das Rad. Sind schließlich meine Koffer hintendrauf.«

Frau Meyer hatte daraufhin erfreut genickt. »Manche Gäste kämen gar nicht auf den Gedanken, mir die Arbeit abzunehmen. Aber ich will mich nicht beklagen«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Die meisten sind nett und zuvorkommend. Wie Sie.«

Im Haus wurde Inga gleich von der hellen und freundlichen Atmosphäre gefangen genommen. Alles war so dekoriert, wie Inga sich immer ›nordischen Stil‹ vorgestellt hatte. Auf den Kiefernmöbeln lagen blaue Deckchen und neben einigen typischen maritimen Holzschnitzereien fanden sich ein paar außergewöhnliche Arbeiten, die Ingas Aufmerksamkeit fesselten.

»Mein Mann«, erklärte Frau Meyer. »Er macht solche Dinge. In seiner Freizeit. Sie können ihn nachher ruhig in seiner Laube besuchen. Er wird sich freuen. Aber erst zeige ich Ihnen Ihre Wohnung.«

Inga nickte erfreut. Das ging ja gut los. Kaum auf der Insel und schon ein Gleichgesinnter. Wenn die Chemie stimmte, würde daraus sicher die eine oder andere Fachsimpelei entstehen. Möglicherweise konnte der Mann ihr einige Türen öffnen.

Von ihrer neuen Bleibe war Inga begeistert. Große Fenster gaben auf der einen Seite die Aussicht auf die Dünen und auf der anderen Seite zu den Häusern und Gärten des Ostdorfes frei. Als Frau Meyer die Tür zum Schlafzimmer öffnete, fiel Ingas Blick auf eine riesige bunte Patchworkdecke, die das große Bett einhüllte. »Was für eine großartige Arbeit«, sagte sie beeindruckt.

»Die habe ich geschneidert. An langen dunklen Winter­abenden«, erklärte ihre Vermieterin. »Ich sitze an der Nähmaschine, wenn mein Mann sein Schnitzmesser schwingt.«

Auch die blitzblanke Küche und das von einer gemütlich aussehenden blauen Couchgarnitur dominierte Wohnzimmer überzeugten Inga. »Hier werde ich es problemlos die erste Woche aushalten, und vielleicht bleibe ich noch länger. Mal sehen.«

Frau Meyer nickte. »Die Wohnung ist frei. Sagen Sie nur Bescheid.«

Inga ließ sich den Weg zu den Einkaufsmöglichkeiten beschreiben und packte dann ihre wie immer viel zu reichlich mitgenommene Kleidung in den Schrank. Schließlich weiß man nie, was an der Nordsee für ein Wetter herrscht, versuchte sie sich einzureden. Das wechselt doch ständig.

Im Moment brauchte sie für einen Strandspaziergang nur ein T-Shirt und eine leichte Hose. Der Spätsommer­ zeigte sich von seiner schönsten Seite. Aber zuerst musste sie einkaufen. Sie wusste nur zu gut, dass ein leerer Kühlschrank bei ihr das Gefühl von Verlorenheit wachrief. Ein guter Tag begann für Inga immer mit einem ausgedehnten Frühstück.

Als sie aus dem Haus trat, sah sie in der Tür gegenüber Lena mit ihrer Oma. Sie winkte fröhlich, erhielt aber keine Antwort. Dann eben nicht, dachte sie, und hatte das Gefühl, dass die beiden sich gerade in einer nicht angenehmen Unterhaltung befanden.

Sie lief an der Aussichtsdüne vorbei und sah links einen kleinen Park, versteckt in einem Dünental. Sie bog ab, um einen Blick hineinzuwerfen. Die schwere Tür quietschte beim Öffnen. Sie wunderte sich, dass dieser hübsche Garten mit den muschelbedeckten Wegen so hoch eingezäunt war. Ein kleines, blaues Schild wies sogar darauf hin, dass die Tür wieder zu schließen sei. Seltsam.

»Das ist wegen der Karnickel und der Rehe«, hörte sie plötzlich eine Stimme. Auf einer der Bänke saß ein Mann in den Fünfzigern, neben sich ein aufgeschlagenes Buch und eine Flasche Wasser. »Entschuldigung, aber Sie sahen so ratlos aus. Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu nahe getreten.«

»Nein, genau diese Frage habe ich mir gerade gestellt. Gibt es denn auf der Insel so viele davon?«

»Jede Menge. Darum ist auch das Friedhofstor so stabil angelegt. Müssen Sie mal drauf achten, wenn Sie dort einen Besuch abstatten sollten.«

Inga bedankte sich und ging weiter, am Kinderspielhaus und am Schwimmbad vorbei. Rund um den Marktplatz herrschte reges Treiben. Kleine Kinder spielten auf einem blauen Ungetüm, das Inga nach langer Betrachtung als einen Wal erkennen konnte. Sie fragte sich, ob aus dem Loch im Kopf des Monstrums ab und zu Wasserfontänen zur Belustigung der Gäste austraten. In diesem Moment tat sich allerdings gar nichts. Das Becken war ausgetrocknet, der blaue Verputz blätterte ab. Ein Gitter, das in guten Zeiten wohl das gewaltige Gebiss des Wals hatte darstellen sollen, war seltsam achtlos neben seinem vorgesehenen Platz abgestellt worden. Der Freude der Kinder tat der Verfall des Kunstwerkes allerdings keinen Abbruch. Sie tobten herum, während die Eltern auf den Bänken saßen und sich von der Sonne bescheinen ließen oder vielleicht in den Geschäften rundherum ihre Einkäufe erledigten.

»Hallo, junge Frau, dürfen wir dich zu einem kühlen Getränk einladen?«

Erstaunt blickte Inga sich um. Vor einem Lokal saßen vier junge Männer, jeder mit einem gefüllten Glas Weizenbier in der Hand. Einer von ihnen, braun gebrannt und mit einem blonden Wuschelkopf, winkte ihr fröhlich zu.

Inga lachte. »Grundsätzlich schon, aber im Moment gerade nicht.«

»Du stehst deinem Glück aber mächtig im Wege«, antwortete der Blonde, und ein anderer fiel zaghaft ein: »Und unserem erst …!«

»Kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete sie. »Ihr seht doch aus wie das Urlaubsglück pur. Zumindest du.« Sie nickte dem Blonden zu, bevor sie sich den anderen zuwandte, die missmutig in ihre Gläser starrten. »Ihr drei solltet allerdings etwas an eurer Laune arbeiten. Bis dahin: Macht’s gut.«

Hoffentlich bin ich denen nicht zu nahe getreten, dachte sie, als in Richtung Insel-Markt weiterging, aber eigentlich war es ihr egal. Ingas Programm hieß Lebensmittel besorgen, schwimmen gehen und dem Schöpfer der skurrilen Skulpturen in ihrem Ferienhaus einen Besuch abstatten.

Lena kam ihr mit wehenden Haaren auf dem Fahrrad entgegen und brachte es mit einem waghalsigen Bremsmanöver genau vor ihr zum Stehen.

»So trifft man sich wieder.« Inga lächelte. »Ich hab euch vorhin zugewinkt, aber ihr wart wohl ins Gespräch vertieft, du und deine Oma.«

»Ach Mensch, hör bloß auf«, winkte Lena ab. »Mir könnte schlecht werden, wenn ich sehe, wie Oma sich duckt und windet, wenn das Gespräch auf Opa kommt. Dabei hat sie immer die Karre am Laufen gehalten mit der Pension, während der alte Knabe zeitlebens seine Rückenschmerzen gepflegt hat. Nichts kann er mehr, aber jeden Tag Fahrrad und Wippe durch den tiefen Strandsand schieben, das geht. Und seine alten, verrotteten und salzwassergetränkten Holzbalken auf die Wippe laden, das geht auch! Und sie will es einfach nicht einsehen. Da kann ich reden wie ’ne Blöde.«

Inga schaute ihre neue Freundin nachdenklich an. »Ich kenne deine Großmutter nicht, aber vielleicht hat sie sich in all den Jahren in diesem Zustand eingerichtet und möchte da gar nicht rausgeholt werden?«

Lena nickte. »Genau das ist der springende Punkt. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Dabei will ich Oma natürlich auf keinen Fall unter Druck setzen. Also, wenn überhaupt, dann vielleicht ein bisschen. Sie soll wissen, dass wir auf ihrer Seite sind, wenn sie endlich anfängt, Opa zu zeigen, wer der Herr im Hause ist.« Lena lächelte. »Aber wie auch immer, wir sehen uns morgen beim Kluntje? Ach was, wir können genauso gut zusammen hingehen. Also um drei Uhr auf der Straße? Noch besser, ich hole dich ab. Basta.«

Inga nickte. »Dann bis morgen. Mach’s gut.«

*

»Wie schade, nun ist sie fort«, seufzte Bernd und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas.

»Nun fahr mal wieder runter, Bernd.« Karsten schaute sein Gegenüber mürrisch an. »Du weißt genau, wie die Aufgabe lautet: Kontakte knüpfen, aber nicht auffallen.«

Leonard schloss die Augen. Hörte der denn nie auf zu meckern? Er wünschte sich Ruhe, nichts als Ruhe, aber Karsten gab unerbittlich seine Anweisungen.

»Leonard und ich gehen heute Nachmittag zum Hafen und schauen, was läuft. Bernd, du und Manfred, ihr beide macht am Strand euren Job. Also schluckt nicht mehr so viel, damit ihr nicht mit besoffenem Kopp im Wasser landet. Wir sehen uns dann heute Abend. Und denkt alle dran: keine scharfen Weiber anbaggern.« Karsten strich im Aufstehen über sein sorgfältig gestyltes Haar. »Na ja, wenn ihr mir eure Herzis zeigt und ich sie für gut befinde, will ich mal nicht so sein. Tschüss dann, bis später.«

»Das war’s dann mit der Stimmung«, murmelte Manfred, als Karsten außer Hörweite war. »Die Kleine von eben ist weg. Und glaubt mir, das mit dem ›für gut befinden‹ hat der wörtlich gemeint. Erst will er selber drübersteigen und wenn er genug hat, dann dürfen wir mal.«

»Jus primae noctae«, sagte Bernd. »Da wäre er nicht der Erste, der auf dem Recht der ersten Nacht besteht. Na ja, eigentlich habe ich nichts gegen gebrauchte Ware. Bin schließlich im Second-Hand-Laden der Caritas groß geworden. Aber bei Mädels bin ich mir da nicht so sicher.« Er grinste schief. »Wie sagt man doch immer: Der größte Feind des Rechtes ist das Vorrecht.«

»Das ist alles zu hoch für mich.« Manfred reckte sich. »Lass uns jetzt zum Strand gehen, Bernd, sonst wird Kars­ten böse.«

»Ich für meinen Teil will noch ein Bier und dann ein Schnarchpäuschen.« Bernd schaute über den Marktplatz. »Ganz nett hier, aber wenn alles gut läuft, sind wir in drei Tagen schon auf Langeoog. Dann können wir dort den Bestand der Töchter aufmischen.«

»Meine Fresse«, sagte Leonard, »müsst ihr immer über Weiber reden? Gibt doch auch Wichtigeres im Leben. Ihr zahlt. Nicht vergessen, wir wollen uns nicht unbeliebt machen auf dieser schönen Insel.« Er wollte aufstehen, aber Bernd drückte ihn zurück auf den Stuhl.

»Schau mal, dort, der Süße, der die Folienkartoffel mit Krabben vor sich stehen hat. Ein echter Hingucker. Die Kartoffel meine ich natürlich«, flüsterte er Leonard ins Ohr.

Leonard stöhnte genervt auf. »Lasst mich doch in Ruhe«, sagte er leise. »Ist doch mein Ding, oder?«

»Da hat er recht, Bernd, und jetzt lass uns endlich zum Strand gehen«, sagte Manfred. »Wie sollen wir denn unseren Job machen, wenn wir das Zeug nicht haben?« Unbewusst fasste er sich an die Nase. Seine Finger fühlten den schlecht zusammengewachsenen Knochen, der seinem Gesicht seit einigen Monaten ein verwegenes Aussehen verlieh. Die grobporige Haut und die schlecht geschnittenen schwarzen Haare mit den tiefen Geheimratsecken taten ihr Übriges.

»Du wirst doch nicht schlapp machen, Manni? Ein Bierchen wirst du noch können, oder?« Bernd schaute sich nach der Bedienung um. »Soll Karsten doch selber an den Strand gehen. Schließlich ist das alles seinetwegen. Aber was soll’s. Letztendlich sind wir hier, weil wir eine Aufgabe zu erledigen haben. Aleae jactae sunt. Das war doch in dem Moment klar, als wir auf diese Insel gekommen sind, oder? Aber wie auch immer, wir trinken noch einen, bevor wir den Strand aufmischen. – Herr Ober, noch drei Weizenbiere für mich und meine Freunde.«

Leonard stand endgültig auf. »Ich nicht mehr. Bis später.« Sollten die man auf der Rechnung sitzen bleiben, wer weiß, wie lange die da noch den Platz warm hielten.

Er war mit den Jungs auf diese Insel geschickt worden, um einen Job zu erledigen. Der Boss hatte Karsten zum Anführer bestimmt, weil der am längsten dabei war. Das wäre auch okay gewesen, würde Karsten nur nicht ständig alle spüren lassen, dass er das Sagen hatte. War ja eben schon wieder das beste Beispiel gewesen. Obwohl er recht hatte, wenn er sagte, sie sollten nicht so viel saufen – Bernd schluckte ganz schön was weg. Und Manfred brauchte sowieso jemanden, der ihm sagte, wo’s langging.

Leonard hatte genug von Karsten, Bernd und Manfred, aber wie er es auch drehte und wendete, noch konnte er nicht ohne die anderen, so viel war ihm klar. Der Boss hatte es so gewollt. Er musste die Zähne zusammenbeißen­ und mit den Wölfen heulen. Sonst wurde das nix mit der großen Abfindung, die der Boss ihm versprochen hatte. Und die wollte er haben. Unbedingt.

Das Mädchen hatte ganz recht gehabt mit ihrem Spruch über die Stimmung. Komisch, wie gut sie diese Truppe eingeschätzt hatte. Musste wohl ziemlich einfühlsam sein.

*

Der Hinweg ohne die zwei Einkaufstaschen war entschieden gemütlicher gewesen, stellte Inga kurzatmig fest, als sie schwer bepackt wieder im Ostdorf ankam. Sie hätte Frau Meyers Angebot, eines der Fahrräder mitzunehmen, nicht so leichtfertig ausschlagen sollen. Beim nächsten Mal wäre sie schlauer.

Schnell verstaute sie Milch, Brot, Konfitüre und die anderen Sachen, dann warf sie einen Blick in den Veranstaltungskalender. Noch war Badezeit. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, sofort mit den Recherchen über ihren neuen Lieblingsmaler zu beginnen, aber der Wunsch nach einer Abkühlung war stärker. Sie zog ihren Bikini an und kurze Hose und T-Shirt darüber, packte Badelatschen und Handtuch ein, schnappte sich eines der Räder und nahm Kurs auf den nächstbesten Strandaufgang.

Im Schutz der Randdünen stand ein hellblau gestrichenes Holzhaus. Stark’s Strandladen stand über der Tür. Vor dem Blockhaus waren Menschen gut gelaunt damit beschäftigt, ihren Hunger mit großen Portionen Pommes und Bratwurst, Burgern und Pizzastücken zu stillen. Eine große Schar laut kreischender Möwen kreiste über der Idylle und wartete auf den richtigen Moment zum Her­ab­stürzen und Zupacken. Gerade als Inga den Imbiss hinter sich gelassen hatte, passierte es. Sie drehte sich um und konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. Kind schrie, Mutter schimpfte, Wurst war weg, Möwe auch!

Sie lehnte ihr Fahrrad an den Zaun, der die Randdünen eingrenzte, und lief auf dem von der Sonne aufgewärmten Holzbohlensteg zum Strand. Ihre Füße tauchten in den weichen, weißen Sand, und sie fühlte sich so gut wie lange nicht mehr. Inga atmete kräftig durch und empfand plötzlich ein tiefes Gefühl von Freiheit. Fynn, ihre Juroren in Worpswede und auch die Gedanken über die Zukunft hatten sich in den hintersten Winkel ihres Gehirns verkrochen.

Viele Strandkörbe waren besetzt und fröhliches Lachen­ schallte zu ihr herüber. Sie lief zu dem hölzernen Wachturm der DLRG, hängte ihre Tasche auf einen der Haken des Gestells daneben und legte sich ausgestreckt in den warmen, feinen Sand.

Doch schon nach kurzer Zeit richtete sie sich wieder auf und schaute aufs Wasser. Sie spürte große Lust, sich in die Fluten zu stürzen, aber sollte sie es wirklich wagen? Schließlich war das hier die freie und wahrscheinlich ziemlich kalte Nordsee und kein schnuckelig aufgewärmtes Freibad. Eine Informationstafel am Turm gab die Wassertemperatur mit 20 Grad an. Inga fragte sich, ob das stimmte und sie sich also gar nicht so zieren musste, oder ob in die Angabe ein satter Strandwächter­bonus eingearbeitet war, damit die Aufpasser in den orangenfarbigen Shirts wenigstens ein paar Schwimmer bewachen konnten. Da hörte sie eine Stimme, die ihr bekannt vorkam.

»Hallo, Mädel, wir hatten heute schon mal das Vergnügen, oder nicht?«

Genau zwischen ihr und der Sonne hatte sich der blonde Typ von vorhin mit einem seiner Kollegen breitbeinig aufgestellt. Und darauf hatte Inga überhaupt keine Lust. »Ob Vergnügen, weiß ich nicht. Hatte noch keine Gelegenheit, das rauszufinden. Und ich für meine Person gehe jetzt ins Wasser.«

»Lass uns doch erst mal ein bisschen miteinander reden«, sagte der Blonde. »Schwimmen kannst du gleich auch noch.«

Inga lachte und stand auf. »Dann ist das Wasser womöglich verschwunden. Vergesst nicht, hier gibt es Ebbe und Flut. Wahrscheinlich ist es ganz schön kalt, aber den Kick brauch ich jetzt. Ihr nicht?«

Sie rannte los, wich zwei Kindern aus, die auf einer grünen Luftmatratze in Richtung Strand paddelten und war plötzlich mitten in der Brandung. Eine Welle schlug über ihrem Kopf zusammen. Salzwasser lief ihr in Mund, Augen und Nase. Inga strampelte verzweifelt mit den Beinen auf der Suche nach Grund, aber vergebens. Ruhe bewahren und schwimmen, hämmerte ihr durch den Kopf. Immer wieder.

Und es gelang. Ihr Kopf stieß durch die Wasseroberfläche, und sie erspähte verschwommen den blauen Himmel. Langsam beruhigte sich ihr Atemrhythmus. Sie hatte gar nicht auf die Welle geachtet. Ist eben doch nicht das Worpsweder Hallenbad, dachte sie amüsiert. Und salziger als die Ostsee ist dieses Wasser allemal.

Kurz darauf hatte Inga die Wellenzone hinter sich gelassen. Sie ließ sich rücklings vom Wasser tragen und die Sonne an ihrer Nase kitzeln. Und schnell war sie sich sicher, dass dieses Gefühl von Leichtigkeit nur mit dem Wort ›Paradies‹ beschrieben werden konnte.

Nach einer guten halben Stunde radelte sie zurück zu ihrer Wohnung. Kräftig trat sie in die Pedalen, denn nichts war ihr jetzt wichtiger, als den nassen Bikini vom Leib zu bekommen, den sie unter ihrem T-Shirt trug.

Von den beiden, die ihr den Blick zur Sonne verstellt hatten, war nichts mehr zu sehen gewesen. Hätten ja nur ins Wasser nachzukommen brauchen, dachte sie, dann hätte das mit der Bekanntschaft schon geklappt. Und der Blonde, so beschloss sie, der war schon eine Überlegung wert.

*

Gerdje Claassen saß mit ihrer Enkelin am Küchentisch. Sie hatte Tee aufgegossen und wartete darauf, dass er die richtige Stärke annahm. »Na, wie wär’s? Ein Stück Stachelbeerkuchen?«

»Gerne, Oma. Stachelbeeren aus dem eigenen Garten, wie üblich?«

»Natürlich, giftfreie Inselaufzucht, wie sich das gehört. Und nach der Ernte sofort eingekocht.«

»Du und dein Garten. Aber schön, dass du so viel Spaß daran hast. Ist auch wichtig zum Abschalten. Wie viele Gäste hast eigentlich im Moment?«

»Ach, nur fünf. Aber ist vielleicht auch gut so. Bei der kleinen Zahl kommen die sich wenigstens auf dem Klo und in der Dusche nicht in die Quere.« Gerdje legte ein dickes Stück Kluntje in jede der dünnschaligen Teetassen und goss Tee darüber. Das Knacken der Zuckerstücke verbreitete Gemütlichkeit in der altmodischen Küche. »Heidi hat auch gesagt, wir sollten umbauen. In Ferien­wohnungen. Aber schließlich sind wir nicht mehr die Jüngsten. Alle anderen sind in unserem Alter schon drei Mal in Rente. Aber unsereins schuftet weiter und weiter, weil er es nicht anders gelernt hat. Vorruhestand, wenn ich das Wort schon höre …«

»Aber Opa hat das mit dem Vorruhestand doch prima hingekriegt, oder?«

Gerdje unternahm den mühsamen Versuch einer Erklärung, wohl wissend, dass sie bei ihrer Enkelin auf taube Ohren stieß. »Dein Opa hatte es im Kreuz, vergiss das nicht.«

»Klar, die letzten dreißig Jahre. Mensch, Oma, wach doch mal auf.«

Gerdje seufzte. »Womit wir wieder beim Thema wären, Lena. Bitte tu mir den Gefallen und lass Opa in Ruhe. Ich bin diejenige, die das ausbaden muss, wenn du wieder­ weg bist.« Gerdje strich auf der bunt gemusterten Plastik­decke unsichtbare Falten glatt. »Aber eines ist klar, ich muss bald wirklich mit der Arbeit aufhören. Ja, ja, ich weiß, ihr redet seit Jahren, und ich habe es mir selber aufgehalst, aber es ging immer noch ganz gut, und letztendlich hält der Umgang mit den Gästen jung und geistig rege. Und waschen, mangeln und bügeln ersetzt jedes Fitness-Center. Das glaub man.«

Noch immer waren Oma Gerdjes Hände unablässig in Bewegung. »Nur, kannst du mir sagen, wie das dann hier weitergehen soll? Habt ihr euch darüber schon mal Gedanken gemacht? Euren Opa kriegt ihr nicht von der Insel, das ist sicher. Das Haus verkaufen? Wo sollen wir dann hier hin? Nicht verkaufen und von unserer fast nicht vorhandenen Rente leben, ist aber auch nicht unbedingt ein Gedanke, der mich aufmuntert. Opa hat nicht viel zusammenbekommen, und ich hab immer nur den Mindestsatz eingezahlt. Aber wenigstens das habe ich gemacht. Gibt genug alte Insulaner, die das nicht für nötig gehalten haben. Schließlich sind wir selbständig­. Uns kann keiner. So war die Meinung damals. Hat sich Gott sei Dank heutzutage etwas geändert, dieser Standpunkt.«

Lena schaute ihre Oma betroffen an. »Ich muss mich echt entschuldigen, Oma. Es war mir bis jetzt überhaupt nicht klar, was du für Probleme an den Hacken hast.«

»Und noch eins, Lena. Früher haben wir unser Haus nur im Baltrum-Prospekt angeboten. Die Leute, die ihren Urlaub hier verbringen wollten, haben sich den angesehen und dann einen Brief an uns geschrieben. Später­ kamen die telefonischen Anfragen. Damit konnten­ wir leben, das hatten wir gelernt. Aber heute geht alles nur über den Computer. Wir haben seit bestimmt zehn Jahren keine schriftliche Anfrage mehr bekommen. Die Leute wollen alles schnell wissen, sich sofort ein Bild von ihrer Wohnung machen können. Das ist der Lauf der Zeit. Auch telefonisch tut sich kaum noch etwas. Wenn du keine Homepage hast, kannst du die Vermietung vergessen.«

Lena lächelte ihre Oma an. »Mensch, Oma, mit was für Worten du herumwirfst. Kompliment.«

»Jetzt ist es aber gut, Lena, erstens bin ich knapp über siebzig und nicht alt, und zweitens habe ich mir das auf Heidis Computer angesehen. Bei der laufen die Vermietungen prima. Bei ihr kann man sogar einen Rundgang durch die Wohnung machen, und alles sehen, bis in die hinterste Ecke. Also, per Kamera natürlich.«

»Virtuell nennt man das, Oma. Sag mal, was sollte dich eigentlich daran hindern, einen Computerkurs zu belegen?« Lenas Augen strahlten.

»Erstens die Insellage. Wo soll ich denn hier wohl so ’n Kurs machen? Und zweitens, selbst wenn ich das schaffen sollte, müssten wir Hinrich noch überreden, dass wir uns einen Computer kaufen. Und was sollen wir denn anbieten auf unserem virtuellen Rundgang, Lena? Unsere altmodischen Zimmer mit den dunklen Möbeln, Klo und Badezimmer auf dem Flur mit braunen Fliesen bis zur Decke und Opa, wie er in unserer Fünfziger-Jahre-Küche rumhängt? Außerdem, ganz ehrlich, ich habe keine Lust mehr zu einem Neuanfang.« Gerdje ließ resigniert den Kopf hängen. »Wenn ich wüsste, dass einer von euch Interesse daran hätte, das Haus zu übernehmen, dann sähe das anders aus, aber ihr müsstet mit dem Klammerbeutel gepudert sein, eure guten Jobs aufzugeben, um hier für die Gäste die Klos zu putzen. Ganz abgesehen davon, was an dem Haus erst noch alles gemacht werden müsste. Schau dich doch um«, ihre weit ausholende Armbewegung umfasste das Küchenrund. »Nee, so einfach, wie du das gerne hättest, ist das alles nicht. Wir hätten Schritt halten müssen, investieren, immer alles auf den neuesten Stand bringen. Heute weiß ich, dass es mein größter Fehler war, ständig auf Hinrich Rücksicht zu nehmen. Aber nun ist es zu spät.«

Lena schaute ihre Großmutter an. »Weißt du, was ich glaube, Oma? Wenn Opa dir nicht als ewiger Hemmschuh an den Hacken kleben würde, dann würdest du glatt noch mal durchstarten. Aber so, das stimmt schon, da vergeht einem die Lust. Aber du kannst ihn schlecht ins Altersheim stecken, oder? Da würde das Personal ihn spätestens nach zwei Wochen zurückschicken.«

»Lena, jetzt halt aber mal den Rand.« In Gerdjedines Gesicht machten sich Lachfalten breit. »Aber ich sehe schon, ich muss mir was einfallen lassen.«

»Wenn du mich brauchst, ich bin da. Aber jetzt weihe ich erst mal die Liegewiese ein.«

Als Lena die Küche verlassen hatte, wurde Gerdje schlagartig wieder ernst. Es stimmte, sie musste sich etwas einfallen lassen. Sie musste Hinrich daran hindern, den Vertrag zu kündigen. Sie durfte sich nicht wieder durch seine schroffe Art abwimmeln lassen. Aber wie oft hatte sie es schon aufgegeben, ein Gespräch mit ihm zu Ende zu bringen. Wie oft hatte sie schon gegen die Fernbedienung ihres altersschwachen Fernsehers verloren.

*

Frisch geduscht stieg Inga die Treppe hinunter und ging in den Garten, neugierig, ob der Mann ihrer Vermieterin wohl schon an der Arbeit war.

»Kommen Sie man rein, junge Frau.« Eine Stimme im tiefsten Bass schallte ihr entgegen. »Hier bin ich, in meinem Atelier.«

Sie entdeckte eine kleine grüne Laube, die sich zwischen zwei mächtige Holunderbüsche zwängte. Die Zweige hingen schwer von beinahe schwarzen Beeren.

»Die können wir wahrscheinlich bereits in den nächsten­ Tagen ernten. Wenn Sie wollen, können Sie helfen. Als Dank gibt’s dafür eine Flasche Holunderlikör, wenn ich meiner Frau mal vorgreifen darf.« Eine mächtige Pranke streckte sich ihr aus der Holztür entgegen. »Meyer, mit E Ypsilon, Sie können auch Wolfgang zu mir sagen.«

Eine Antwort blieb ihr im Halse stecken, denn vor ihr stand der größte und stabilste Mann, den sie je gesehen hatte. Sein wuchtiger Oberkörper wurde von einem verschwitzten grünen Muskelshirt der Größe XXXL verhüllt, seine stämmigen Beine schauten aus zerfransten kurzen Hosen hervor. Sein Kopf reichte fast bis zur Decke des Schuppens und seine Breite nahm die Hälfte des Raumes ein. Wie kann solch ein Schlachtschiff derart filigrane Arbeiten herstellen, schoss es ihr durch den Kopf

»Äh … Sie … Wolfgang … Ich bin Inga«, stammelte sie, während aus seinem Bauch, der sich etwa in ihrer Kopfhöhe befand, ein Grummeln zu hören war, das sich langsam verdichtete, nach oben stieg und in einem dröhnenden Gelächter endete.

»Komm rein und setz dich. Ich mache Platz, soweit das möglich ist.« Er räumte ein paar Äste und Stücke von hölzernen Bohlen zur Seite. »Du willst also das Reich bestaunen, in dem meine Arbeiten entstehen?«

Inga nickte. Ihre Aufmerksamkeit war von zwei Objekten gefesselt, die auf einer alten Teekiste standen. Es waren zwei knorrige Holzstämme, die eine Hälfte unbearbeitet, die andere glatt poliert. Die Stämme neigten sich einander zu und Inga erwartete, dass sie sich jeden Moment umschlingen würden.

Vorsichtig nahm Wolfgang Meyer sie hoch und stellte sie direkt vor Inga auf der Arbeitsplatte wieder ab. »Es ist Strandholz. Ich bekomme es von dem alten Hinrich Claassen, unserem Nachbarn. Der ist jeden Tag an der Wasserkante und sammelt. Normalerweise betrachtet er seine Sammlerstücke als sein Heiligtum, aber wenn ich ein paar Taler springen lasse, darf ich mir die Stücke aussuchen, die ich brauche. Ich schaue sie mir immer genau an, und manchmal habe ich das Gefühl, so ein Stück Holz spricht zu mir, wenn es da auf der Wippe liegt. Und dann muss ich es einfach mitnehmen und bearbeiten.«

Aufgeregt nickte Inga. »Das kenne ich. So geht es mir auch. Ich hab zwar noch nie mit Strandholz gearbeitet, ich bearbeite meistens abgelagerte Obstgehölze aus dem Alten Land, aber es ist wirklich so. Man baut eine Beziehung zu dem Stück auf, oder?«

Strahlend schaute Inga Wolfgang Meyer an, und der strahlte zurück. Inga erzählte von dem Stipendium und dass sie die Skulpturen von Waldemar Otto zu ihren absoluten Favoriten zählte. »Für mich ist er der Größte unter den zeitgenössischen Bildhauern. Und stell dir vor, er wohnt auch in Worpswede. Wenn ich vor einer seiner großen Figuren stehe, habe ich das Gefühl, dass ich niemals, wirklich im ganzen Leben nicht ansatzweise so gut sein werde wie er. Seine Figuren leben, so versteht der zu modellieren. Und sag mal ehrlich, sollte man sich mit weniger zufriedengeben?« Versonnen starrte Inga Wolfgang Meyer an.

»Soll das heißen, dass du an dir zweifelst?«, fragte er behutsam.

Zögernd sagte sie: »Ich weiß nicht. Ich glaube zwar fest daran, dass ich Talent habe. Aber wird das reichen? Bis jetzt haben mich meine Eltern mit ihrem Glauben an mich und auch mit Geld unterstützt. Dann kam das Stipendium. So lässt sich natürlich leicht sagen: Ich bin Künstlerin. Aber jetzt klopft der Ernst des Lebens an. Ohne Geld läuft nun mal leider nichts. Und ich glaube nicht, dass ich dafür geschaffen bin, als Eremit im Wald Kräuter und Würmer für mein tägliches Leben zu sammeln.«

Gedankenverloren nahm Inga einen der Stämme in die Hand und strich leicht darüber. »Ich spiele mit dem Gedanken, mich an der Düsseldorfer Kunstakademie einzuschreiben. Dort kann ich Kunst auf Lehramt studieren. Also etwas Handfestes. Andererseits träume ich natürlich davon, mich in meinem eigenen Atelier ganz und gar meinen Skulpturen widmen zu können. Damit ich mich immer weiterentwickeln kann. Bis ich irgendwann … Aber schau …« Inga zog ihr Handy aus der Tasche und öffnete es. »Ein paar Bilder meiner Arbeiten. Viel kannst du aber nicht darauf erkennen.«

Wolfgang Meyer schaute sich die Bilder eine ganze Zeit lang an, dann nickte er. »Du hast wirklich Talent. Besonders die Eule gefällt mir. Wenn man das Tier betrachtet, meint man, dass es aus seinen großen Augen intensiv zurückblickt. Und das, obwohl ich nur ein kleines Foto vor mir habe. Ich würde mir gerne mal deine Arbeiten im Original ansehen. Hast du Gelegenheit, deine Werke auszustellen?«

Inga freute sich. Wie immer, wenn da jemand war, der ihre Arbeiten verstand. »Ja, in Lübeck hat eine Freundin von mir einen kleinen Laden in der Fußgängerzone. Dort stehen meine Figuren. Sie hat schon ein paar verkauft, aber leben kann ich davon, wie gesagt, nicht. Noch nicht. Jetzt geht es aber erst einmal um deine Werke«, sagte sie fröhlich.

Als Frau Meyer ihren Mann zwei Stunden später zum Abendessen rief, blickten sich die beiden verwundert an.

»Schon so spät? Na, dann lass deine Frau nicht warten. Wir können unser Gespräch ein anderes Mal fortsetzen. Ich bin immerhin eine Woche hier.« Erst als Inga aufgestanden war, merkte sie, wie unbequem sie auf dem schmalen Hocker gesessen hatte. Sie rieb sich ihr schmerzendes Hinterteil und lachte. »Das nächste Mal bringe ich ein Kissen mit, wenn’s recht ist.«

»Das nächste Mal kannst du mir helfen. Ich komme mit dieser Skulptur nicht so richtig weiter.« Er zeigte auf einen knorrigen Ast, der auf der Erde in der Ecke lag.

»Mach ich gerne, aber nur mit Ideen. Schnitzen musst du schon selber. Wäre ja noch schöner, eine Figur aus vierer Hände Arbeit.«

»Warum nicht, könnte ganz spannend sein. Bestimmt fast eben so spannend wie der Gedanke, was heute auf dem Abendbrottisch steht.«

Die beiden gingen ins Haus, Wolfgang Meyer in die Küche zu seiner Frau und Inga auf ihr Zimmer. Ein unangenehmes, hohles Ziehen in ihrem Magen erinnerte sie daran, dass sie seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatte.

*

Leonard schrak auf. Manfred hatte sich an ihn herangeschoben und flüsterte ihm zu: »Heute Nachmittag war es viel erfolgreicher am Strand.«

»Was meinst du damit?«, flüsterte er überrascht zurück.

»Da haben Bernd und ich das Mädel getroffen, das wir vor dem Sturmeck kennengelernt haben. Die sieht echt gut aus, so im Bikini. Hat gemeint, sie braucht’n Kick, und dann hat sie …«

»Manfred, halt die Schnauze und konzentrier dich auf deine Arbeit«, tönte Karstens Stimme über den Strand.

Manfred zuckte zusammen und nahm schweigend seine Suche wieder auf. Auch Leonard schaute angestrengt nach unten, um Karsten keine Angriffsfläche zu bieten. Er hatte schon genug unter Karstens verbalen Attacken zu leiden. Da waren ›Schwuli‹ und ›rosa Unterhöschen‹ noch die harmlosesten Ausdrücke. Wenn Karsten nun auch noch das Gefühl bekäme, er, Leonard, stände nicht mehr hinter ihrer Aufgabe, wäre es überhaupt nicht mehr auszuhalten. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass diese Aktion ein voller Erfolg würde. Dann könnte er endlich Schluss machen. Denn der Wortwechsel hatte ihm wieder einmal klargemacht, dass ihre vom Boss aufgezwungene Gemeinschaft den Bach runterging. Immer und ewig würde sich jedenfalls keiner von ihnen Karstens Druck beugen. Zumal Karsten selbst den Auftrag von Anfang an vermasselt hatte.

Was hatte das Mädel wohl mit ›Kick‹ gemeint? Ihn beschlich ein diffuses Unwohlsein, wenn er an sie dachte. Sollte es gar nichts mit Einfühlungsvermögen zu tun gehabt haben, was sie vor dem Sturmeck über die Truppe gesagt hatte? Hatte sie Bernd und Manfred am Strand zu verstehen geben wollen, dass sie über ihren Auftrag Bescheid wusste?

Aber weshalb? In wessen Auftrag? Quatsch! Alles Blödsinn! Einbildung!

Er würde Manfred noch einmal fragen, was sie genau gesagt hatte. War sicher ganz harmlos. Oder doch nicht? Er wusste es nicht. Er reagierte im Moment auf nichts sonderlich souverän, was unvermutet in seinem Blickfeld auftauchte. Er wusste nur eines: Er würde sich von nichts und niemandem daran hindern lassen, diesen Job zu erledigen und dann abzuhauen.

»Worauf haben wir uns da nur eingelassen?«, stöhnte Bernd, der stehen geblieben war und mit den Füßen lustlos im Sand scharrte. »Die ganze Sache war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Und jetzt ist das Kind sowieso in den Brunnen gefallen.«

Manfred schaute ihn bewundernd an. »Bernd hat recht, wir sollten schleunigst sehen, dass wir hier wegkommen. Ehe der Inselbulle noch auf uns aufmerksam wird.«

»Halt du deine Klappe«, sagte Karsten. »Du hast es gerade nötig. Erst letzte Woche hast du deine Aufgabe versaubeutelt und jetzt Schiss in der Hose. Kommt gar nicht in Frage. Wir haben hier unseren Job zu machen, und sonst gar nichts.« Er blickte sie alle nacheinander auffordernd an. »Oder habt ihr eine andere Meinung? Ihr könnt es ruhig sagen. Ihr wisst, bei mir herrscht Demokratie. Solange ich bestimme, was abgeht, versteht sich. Und kommt mir ja nicht auf den Gedanken, hier abzuhauen. Noch sind wir nicht fertig, klar?«

Bernd grinste zynisch. »Venia verbo, wir sollen also jetzt weiterhin den ganzen Strand absuchen? Habe ich das richtig verstanden? Dürfen wir denn wenigstens aufhören, wenn es dunkel wird, großer Meister?«

»Sprich Deutsch, wenn du mit mir redest, das habe ich dir schon mehr als einmal gesagt.« Karstens Stimme wurde mit jedem Wort lauter. »Und was deine Frage betrifft, ja, wir suchen, bis es dunkel wird, und wenn wir nichts finden, suchen wir morgen weiter. Und zwar frühzeitig. Verstanden?«

Leonard sah Bernd und Manfred nicken und beeilte sich, es ihnen gleichzutun. Dann richteten sie ihre Blicke wieder nach unten.

*

Inga hatte beschlossen, während ihres Abendspazierganges eine kurze Pause auf der Strandmauer zu machen, um der Sonne Gelegenheit für einen traumhaften Abgang zu geben. Offensichtlich stand sie mit ihrem Wunsch nicht alleine da. Viele Urlauber warteten auf den großen Augenblick, wenn der gelbe Ball im Meer versinken würde. An der Wasserkante suchten ein paar Kinder nach Krebsen oder anderem Meeresgetier, und auf den Buhnen­ saßen Angler und hofften auf den großen­ Schwarm.

Welch eine Idylle. Ob Bertelsmann sich auch so wohl gefühlt hatte beim Blick auf die Brandung gegen die untergehende Sonne? Allerdings war der Maler im Winter hier gewesen und hatte sicher ganz andere Lichtverhältnisse vorgefunden. Sie war sehr gespannt darauf, ob sich noch Spuren von ihm finden ließen. Vielleicht hing das eine oder andere Bild von ihm im Rathaus oder einem der Hotelfoyers. Wolfgang Meyer hatte ihr geraten, ins Heimatmuseum zu gehen. Das wollte sie am nächsten Morgen in Angriff nehmen.

Am Spülsaum des Wassers erkannte sie die vier Jungs, die sie mittags zum Bier hatten einladen wollen. Inga musste lachen. Es sah sehr seltsam aus, wie sie hinter­einander wie eine Gänseschar den Strand entlang wanderten, jeder mit geneigtem Kopf auf den Sand starrend. Sieht aus, als ob die was suchen, dachte sie. Aber so sehen sie mich wenigstens nicht, und ich kann meinen Weg in Ruhe fortsetzen. Obwohl, wenn mir dieser Blonde mal ohne die anderen über den Weg laufen würde, damit könnte ich schon leben! Im gleichen Moment fiel ihr Fynn ein, und sie beschloss, ihn später anzurufen.

Als die Sonne fast im Meer verschwunden war, machte sie sich wieder auf den Weg und wollte gerade zum Ostdorf abbiegen, als sie aus dem Keller des Hotels Strandhof Musik hörte. Kiek rin, las sie auf dem Bogen, der den schmalen Pfad zur Kneipe umspannte. Das wäre der richtige Tagesabschluss, beschloss sie: ein Bierchen, ein wenig Musik und ab in die Heia.

Der Wirt hatte gerade aufgeschlossen und stand noch in der Tür. »Das ist ja ein netter Beginn des Abends, wenn als Erstes eine schöne Frau mein Lokal betritt.«

Inga grinste. »Nun mal halblang. Die schöne Frau möchte nur ein kaltes Getränk und dann nach Hause.« Sie setzte sich an die Theke, und es dauerte nicht lange, da stand ein sorgsam gezapftes Pils vor ihr. Schnell kam sie mit dem Wirt ins Gespräch und merkte daher kaum, dass sich die Tür abermals geöffnet hatte. Doch als sie die Stimmen hörte, hätte sie sich am liebsten hinter der Theke versteckt. Da waren sie wieder, die vier Jungs vom Sturmeck.

»Na, schöne Frau, so alleine hier?«

Sie verdrehte die Augen. Der dämlichste Spruch der Welt. Immerhin, es war der Blonde, der sie angesprochen und sich auf dem Hocker neben ihr niedergelassen hatte. Trotzdem, sie wollte jetzt nur das Bier schnell austrinken und gehen.

»Bernd, lass die Dame in Ruhe. Du siehst doch, sie möchte lieber alleine an der Theke sitzen«, hörte sie einen der anderen im Hintergrund.

»Vielleicht hast du recht, vielleicht ist sich die Dame aber ihrer Sache noch nicht ganz sicher. Vivere militare est! Gnädige Frau …«, er beugte sich zu ihr herüber. »Darf ich Sie zu einem Tequila einladen?«

Sie wollte gerade entnervt das Geld für das Bier auf den Tresen legen, als sie die andere Stimme wieder hörte. »Bernd, komm sofort zurück. Du siehst, sie will nicht. Hier spielt die Musik. Außerdem ist für dich gleich Schicht.«

Inga traute ihren Ohren nicht. So ließ sich der Blonde doch wohl nicht von seinem Kumpel abwatschen? Er war alt genug, um zu wissen, was er wollte. Sie drehte sich zu ihm um, schaute ihm tief in die Augen und stellte fest, dass ihr auch aus der Nähe gefiel, was ihr aus der Ferne bereits positiv aufgefallen war. Der Knabe war gut gebaut, alle Achtung. Wuschelige Haare umrahmten ein schmales, intelligentes Gesicht, aus dem ein blaues Augenpaar fröhlich leuchtete. Sie lächelte ihn an. »Wenn die Einladung auf einen Tequila noch steht, also, ich wäre bereit, und du?«

Er schielte vorsichtig zu seinen Kollegen, lächelte dann Inga an und bestellte mit hochgehobener Hand fünf Tequila. »Wie ich heiße, hast du ja schon mitbekommen. Und das hier sind Karsten, Manfred und Leonard. Und du?«

»Ich heiße Inga und bin heute angekommen.« Sie prosteten sich zu. Inga fühlte sich genötigt, ebenfalls eine Runde auszugeben, und bald merkte sie, dass sich nicht nur das Lokal in der Zwischenzeit gut gefüllt hatte. »Sagt mal, Jungs, kann man eigentlich am Strand was Besonderes finden, wenn man lange genug sucht? Ich hab euch heute Abend gesehen, wie ihr am Strand hintereinander hergelaufen seid. Was ist denn so inter­essant an der Wasserkante? Sollte ich mein Glück da auch mal versuchen?«

Sie sah, wie Leonard seine Schultern zusammenzog, und wie die gerade noch gute Laune der Männer einer kurzen, aber intensiven Sprachlosigkeit Platz machte. Karsten war der Erste, der sich wieder fing. »Wir haben Bernstein gesammelt. Zumindest wollten wir, für zu Hause. Haben aber leider nichts gefunden.«

Die anderen nickten eifrig, und Leonard fügte hinzu: »Ja, Bernstein. Okay, du hast recht, wenn du denkst, dass es peinlich ist, wenn Männer in unserem Alter Bernstein suchen. Aber wir haben es nun mal unseren Müttern versprochen. Schließlich haben die unseren Urlaub finanziert. Inklusive Surf-Lehrgang. Aber dazu sind wir noch gar nicht richtig gekommen. So, und nun trinken wir noch einen. Machst du Urlaub hier?«

Inga nickte. »Ja, aber eigentlich haben mich andere Dinge auf diese schöne Insel geführt.«

»Und die wären?«, fragte Leonard.

»Ach, hier gibt es jede Menge Aufregendes zu erforschen.« Sie hatte keine Lust, den Jungs von ihrem Maler zu erzählen. Das hätte die bestimmt nicht interessiert. Mechanisch griff Inga nach dem nächsten Tequila, der vor ihr auf der Theke stand, obwohl sie eigentlich keinen mehr wollte.

»Prost, meine Lieben, auf uns, das Surfen und den Bernstein. Dann ist Zapfenstreich. Urlaub ist anstrengend.« Bernd hatte seinen Arm um Ingas Schultern gelegt. »Und ich – nolens volens – bringe Inga nach Hause. Damit ihr in der Nachtstunde kein Unheil wider­fährt.«

Inga sah, dass Karsten Bernd einen durchdringenden Blick zuwarf, konnte ihn aber nicht deuten. »Keine Sorge Männer, ich hab’s nicht weit. Ich wünsche viel Erfolg bei eurer Suche. Sie schaute die Männer ernsthaft an, konnte sich aber ein Lachen kaum verkneifen, »Damit eure Mamis sich freuen und euch keiner den … Bernstein … vor der Nase wegschnappt!« Sie bezahlte, rutschte vom Barhocker und ging.

Baltrumer Bärlauch

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