Читать книгу Baltrumer Bärlauch - Ulrike Barow - Страница 7
Mittwoch
ОглавлениеGerdjedine Claassen zuckte zusammen. Ein scharfer Pfiff hatte sie in die Wirklichkeit zurückgeholt. »Mensch, Gerdje, bist du vor deiner Wäscheleine eingeschlafen oder was?« Auf dem Nachbargrundstück stand ihre beste Freundin Heidi und schüttete sich aus vor Lachen.
Gerdje war überhaupt nicht nach Lachen zumute. Sie steckte immer noch halb in Gedanken, und es waren keine guten Gedanken, die sie hier beim Abnehmen der Wäsche eingeholt hatten. »Entschuldige, war ganz weggetreten«, murmelte sie und begann, die restlichen Laken und Bettbezüge von der Leine zu holen. Zu ihrem Leidwesen hatte wieder einmal eine Möwe große schwarz-braune Flecken darauf hinterlassen. Immer dasselbe Spiel, dachte sie, die Hälfte muss wieder in die Waschmaschine. Und wieder aufgehängt werden. Und von wem? Natürlich von mir! Wäre das schön, wenn ich die Sachen einfach in einen Trockner stecken könnte, so wie Heidi.
Ihre beste Freundin hatte es da ein ganzes Stück leichter. Aber Hinnerk, ihr Hinnerk, wollte einfach nicht. ›Das war immer so, und das bleibt immer so.‹ Unter diesem Motto stand sein ganzes Leben.
Dabei waren sie beide nicht mehr die Jüngsten. Über fünfzig Jahre vermieteten sie schon ihr Haus. Ihre Eltern hatten es kurz nach dem Krieg gebaut, als der Tourismus wieder erwachte. Als sie bald darauf starben, hatten Gerdje und Hinnerk es mit einem großen Schuldenberg übernommen.
Ihre Kinder Enno und Ingrid lebten längst am Festland. Die Zeit verging in stetig gleichem Rhythmus. Im Winter warteten sie auf die Buchungen der Gäste, im Sommer wurde vermietet. Mal waren die Zeiten gut, mal schlechter, und bis vor drei Jahren hatte ihnen der Kredit für das große Haus im Nacken gelegen. Da war für andere Dinge nichts übrig gewesen. Erst jetzt, wo die Bankschulden endlich abbezahlt waren, konnten sie etwas aufatmen.
»Jetzt können wir auch mal richtig renovieren«, hatte sie zu Hinnerk gesagt.
Aber der hatte abgewinkt. »Bisher hat sich keiner beschwert. Unsere Stammgäste kennen und lieben es so. Das Geld bleibt auf der Bank!«
Das Dumme war nur, dass die Stammgäste aus den letzten Jahrzehnten mit ihnen älter wurden und langsam wegstarben. In der letzten Zeit kam öfter mal eine Karte im schwarz umrandeten Umschlag, und das bedeutete: wieder eine Buchung weniger.
Neue Gäste kamen kaum, und Heidi lag ihr seit Jahren in den Ohren, Zimmer mit Frühstück seien ›out‹. »Fast jeder auf der Insel hat doch sein Haus in Ferienwohnungen umgebaut! Wer will denn heute noch Zimmer mit Toilette auf dem Flur?«
Aber was sollte Gerdje machen, wenn Hinnerk partout nicht wollte? »Kommst du mit rein, Heidi? Ich setz’ eben Teewasser auf.«
»Nee, lass man, ich hab gleich Sitzung vom Heimatverein. Außerdem hockt dein Grummelkopp von Ehemann bestimmt wieder in der Küche.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin ja nur froh, dass der immer noch seine langen Strandrunden dreht. So ist er wenigstens mal ein paar Stunden vor der Tür und ich habe meine Ruhe. Weißt du eigentlich, dass der Mann schon seit einem Jahr nicht ein einziges Mal ans Festland gefahren ist? Ach, was sage ich, du kennst ihn ja.« Gerdjedine nahm den Korb mit der weißen Leinenbettwäsche hoch. Zwei Stunden langweiligen Mangelns lagen vor ihr. Bei der spätsommerlichen Wärme keine angenehme Arbeit.
»Dem müsste man mal so richtig auf die Füße treten. So, dass er’s merkt«, rief Heidi hinter ihr her.
»Nun is’ aber gut, Heidi, er ist immer noch mein Mann, auch wenn er manchmal wirklich nicht einfach ist.« Gerdje stieß die alte Holztür des Anbaus auf und stellte in der Waschküche den schweren Korb neben die vorsintflutliche Mangel.
Es hatte damals an ein Wunder gegrenzt, dass sie sich diese Mangel hatte kaufen dürfen. Vorher hatte sie die gesamte Bettwäsche mit dem Bügeleisen bearbeiten müssen. Bis ihre Tochter eingeschritten war und ihrem Vater angedroht hatte, dass ihre Mutter nie wieder ein Stück Wäsche in die Hand nehmen würde. »Um die Gäste kannst du dich dann höchstpersönlich kümmern!«, hatte Ingrid ihn angeschrien.
Sie hatte Gerdje gehörig ins Gebet genommen, bevor sie die Insel verlassen hatte, um am Festland mit ihrem Mann und den Kindern ein eigenes Leben zu beginnen. »So geht das nicht weiter, du musst dich endlich durchsetzen!«
Gerdje hatte ihr im Stillen zugestimmt. Aber dann war Ingrid weg und sie war geblieben. Genau wie die Schulden und ihr Mann und die Arbeit.
Ein Laken nach dem anderen schob sie in jahrelang eingeübtem Rhythmus durch die Maschine. Eigentlich war Mangeln doch ganz schön. So fürs Nachdenken. Wenn sie was Schönes zum Nachdenken gehabt hätte.
Ingrid hatte sie zum Weihnachtsfest nach Celle eingeladen. »Bei euch ist dann doch nichts los«, hatte sie bei ihrem letzten Anruf gesagt. »Hier wird ein wunderschöner Weihnachtsmarkt aufgebaut. Überall stehen beleuchtete Buden, und es duftet nach Zimt und Mandeln. Viele vorweihnachtliche Veranstaltungen wird es auch geben. Deine Enkel werden da sein, und wir würden uns wirklich freuen, wenn ihr auch kommt. Na ja, zumindest auf dich. Papa, der große Stimmungstöter, steht bei Lena und Jan auf der Prioritätenliste nicht gerade ganz oben.«
Aus Gewohnheit, nicht aus Überzeugung hatte Gerdjedine widersprochen. Sie wusste genau, dass ihre Enkel es irgendwann aufgegeben hatten, die Liebe ihres Großvaters zu erringen. Inzwischen waren beide erwachsen. Gerdje glaubte nicht mehr, dass sich das Verhältnis der beiden zu ihrem Opa noch ändern würde.
»Keine Ahnung, warum du den Kerl immer noch in Schutz nimmst«, hatte Ingrid gesagt und gleich darauf das Gespräch beendet.
Seitdem kreisten Gerdjedines Gedanken um das Thema Weihnachten. Gut, es war noch genug Zeit zum Überlegen, aber in ihrem Alter … Quatsch, Alter, dachte sie und lächelte fast ein bisschen, weil sie sich wieder mal dabei ertappt hatte, wie sie sich selbst belog. Sicher, sie war gerade über siebzig, aber wer eine ganze Frühstückspension bewirtschaften konnte, war auch in der Lage, nach Celle zu fahren. Zumal Lena versprochen hatte, sie mit dem Auto in Neßmersiel abzuholen.
Nein, es ging nicht um ihr Alter, sondern wieder einmal um Hinnerk. Ihr war völlig klar, wie seine Reaktion ausfallen würde. ›Wenn die was wollen, sollen sie herkommen. Und du bleibst auch hier. Kostet alles bloß Geld. Die Preise auf dem Weihnachtsmarkt sind sowieso Wucher. Was hat dieser ganze Heckmeck überhaupt mit Jesus zu tun? Glühwein und Bratwurst, dass ich nicht lache. Können wir auch zu Hause haben.‹
Natürlich könnte sie trotzdem fahren. Aber sie wusste genau, dass sie tief in ihrem Inneren keine ruhige Minute hätte. Das ständige Nachgeben und Stillhalten war in den vielen Jahren ein Teil ihrer selbst geworden. Das schüttelte man nicht mal eben so ab.
Der letzte Kopfkissenbezug wanderte durch die Hitze und kam frisch geplättet wieder heraus.
Immerhin, dachte sie, habe ich noch die Erinnerung an bessere Zeiten, meinen heiß geliebten Garten, und … Sie nahm den Korb mit der gelegten Wäsche und ging ins Haus.
Gerdje schaute auf die Uhr. Gleich würden die Zwillinge Benni und Eva an der Küchentür stehen. Das war so sicher, wie sie den Vanillepudding bereits aus dem Kühlschrank genommen hatte. Immer mittwochs, wenn Brigitte, die Mutter der Kinder, im Frischemarkt aushalf, kamen die beiden zu ihr zum Essen. Und ihr Lieblingsnachtisch war Vanillepudding. Mit Schokosoße. Viel Schokosoße! Aber zuerst gab es ein weiteres Lieblingsgericht der Kinder. Und das hieß nicht etwa Nudeln mit Tomatensoße, sondern Insett-Bohnen-Eintopf.
In einem tiefer gelegenen Teil von Gerdjes Garten wuchsen Erbsen, Spinat, Grünkohl, Kräuter und eben grüne Bohnen, die Gerdje nach traditioneller Art als Wintervorrat geschnippelt, in einen Püllpott geschichtet und eingesalzen hatte. Aber seit die Kinder im letzten Herbst ihre Vorliebe für den Eintopf aus Schnippelbohnen und Kartoffeln, gekocht mit Mettwürstchen und Speck, entdeckt hatten, war es mit der langen Einlagerung schnell vorbei. Allerdings konnte sie gut damit leben, denn auch Hinrich war ein überzeugter Anhänger der ostfriesischen Küche. Das Mittagessen würde vermutlich der einzige Teil des Tages sein, an dem ihr Mann ihr ohne mürrischen Gesichtsausdruck gegenüber saß.
Die Kinder kannten ohnehin keinerlei Respekt vor seiner Missgelauntheit. Es ging ständig ›Onkel Hinnerk‹ hier, ›Onkel Hinnerk‹ da … ›Kannst du uns mal was erklären?‹ Er spielte mit, vergaß für kurze Zeit, dass er sich im Laufe der Jahre zu einem übel gelaunten Miesepeter entwickelt hatte, und wirkte fast entspannt. Gerdje konnte sich dieses Verhalten nicht erklären, so oft sie auch darüber nachdachte.
Das Telefon klingelte auf dem alten schwarzen Eckschrank im Wohnzimmer. Ihre Enkelin Lena war dran. Sie hielt sich nicht lange mit den üblichen Begrüßungsfloskeln auf. »Oma, ich weiß ja, es ist noch fast vier Monate hin, aber kommt ihr nun zu Weihnachten?«
Gerdje zögerte. »Mädel, du weißt, wie es ist. Lass man eben.«
»Weißt du was, Oma? Ich habe jetzt vierzehn Tage Urlaub. Die werde ich auf einer wunderschönen kleinen Insel verbringen. Ich will stark hoffen, dass ihr für eure Lieblingsenkelin ein Bett frei habt. Und dann schau’n wir mal, ob wir das Ding nicht in trockene Tücher kriegen. Na, was hältst du davon?«
Gerdje schluckte. Ihre Lena. Vierzehn Tage bei ihr. Das wäre wunderschön. Andererseits erinnerte sie sich an Lenas letzten Besuch. Die konnte genau so ein Sturkopp sein wie ihr Großvater. Oft genug waren die beiden aneinander gerasselt, und Gerdje stand jedes Mal dazwischen mit ihren Vermittlungsversuchen.
»Oma, bist du noch dran? Hier spricht deine Verbindung zur Außenwelt!«
»Ja, Lena, wann kommst du denn?«
»Morgen mit der ersten Fähre. Mittags. Holst du mich ab? Bitte, bitte.«
»Natürlich bin ich mit der Wippe am Hafen. Ist doch klar.« Ihre Freude, morgen Lena in den Arm nehmen zu können, wog den Verzicht auf ihren heiß geliebten Mittagsschlaf auf.
Als sie aus dem Wohnzimmer zurück in die Küche kam, saßen Eva und Benni bereits auf der Eckbank und schauten sie erwartungsvoll an. »Tante Gerdje, guck mal, was wir dir mitgebracht haben.« Vier kleine Hände hielten ein Glas mit einer undefinierbaren grauen Masse darin fest umklammert.
»Was um alles in der Welt ist das?« fragte sie und beugte sich dicht darüber.
»Das ist Schlick. Direkt aus dem Wattenmeer. Wir haben heute Morgen ganz früh mit der Schule eine Wattwanderung gemacht.« Ein kräftiger Geruch nach Fisch und Tang unterstrich ihre Aussage. »Und kuck mal, da unten drin, das ist ein Wattwurm. Toll, nicht?«
»Na ja«, sagte Gerdje nachdenklich. »Der Wattwurm ist schon toll. Habe ich ewig nicht mehr gesehen. Früher sind wir oft durchs Watt nach Neßmersiel gelaufen. Aber das macht kaum noch einer. Nur die Wattführer mit ihren Gästen. Aber mal ehrlich, glaubt ihr nicht, dass der Wurm in seiner natürlichen Umgebung besser aufgehoben ist als hier in diesem Glas?«
»Klar, Tante Gerdje. Wir wollen ihn nur Onkel Hinnerk zeigen, dann bringen wir ihn wieder zurück.« Ernsthaft nickten die beiden und schauten zu Hinnerk Claassen, der gerade zur Küchentür herein kam.
»Ihr wollt doch wohl nicht alleine ins Watt und den Wurm wieder aussetzen? Kommt gar nicht in Frage. Da gehe ich mit.« Hinnerk nahm das Glas in die Hand und schaute es sich von allen Seiten an.
Gerdje blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.Hinrich bot sich freiwillig für etwas an? Sie konnte sich nicht erinnern, dass er jemals mit seinen Enkeln etwas Ähnliches unternommen hatte. Und an noch etwas konnte sie sich nicht erinnern, nämlich dass sie ihren Mann in der langen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, jemals anders als ›Hinnerk‹ genannt hatte. So wie alle ihn riefen, die ihn kannten. Jetzt überraschte sie sich immer öfter damit, dass sie ›Hinrich‹ dachte und sagte, der Name, der in seinem Pass stand und der nur bei offiziellen Anlässen benutzt wurde. Hatte sie sich innerlich so weit von ihm entfernt? Nach all den Jahren?
In den Anfangsjahren ihrer Ehe, als Hinrich ein ganz anderer Mensch gewesen war, da war er mit seinen Kindern stundenlang draußen am Wasser gewesen, so oft es seine knapp bemessene Freizeit erlaubt hatte. Damals war er beim Amt für Küstenschutz für den Buhnenbau und die Inselsicherung zuständig gewesen. Hatte mit seinen Kollegen Strandhafer in den Randdünen angepflanzt und Sandschutzzäune aus Birkenreisern aufgestellt. Nach Feierabend hatte er all die Dinge erledigt, die rund ums eigene Haus zu tun waren. Eine Arbeit, die nie ein Ende zu nehmen schien. Bis zu dem Tag, als seine Bandscheibe das ewige Bücken nicht mehr mitmachen wollte. Eine Operation wurde fällig, dann die nächste und nach einem Jahr des Krankseins folgte der Status, den er nie verwunden hatte: Frührentner.
Das hat ihn kaputt gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Gerdje, aber andere stehen wieder auf. Machen das Beste draus. Er eben nicht. Hat seine ganze Familie verurteilt, sein Frührentnerselbstmitleid zu ertragen, und wundert sich, wenn die dagegen aufbegehrt.
Nur sie selbst hatte eigentlich noch nie so recht aufbegehrt. Mal ein paar Worte, das schon, aber die hatten alles nur schlimmer gemacht. So hatte sie wieder geschwiegen und sich um ihren Garten gekümmert. Dort hatte sie ihre Ruhe.
»Aber erst werden Hausaufgaben gemacht, dann könnt ihr ins Watt.« Gerdje versuchte, Fröhlichkeit in ihre Stimme zu legen, aber so ganz wollte es ihr nicht gelingen. »Das Wasser fällt langsam wieder. Also, was habt ihr auf?«
»Heute nur lesen«, sagte Benni. »Und ein Gedicht auswendig lernen. Die ersten sechs Strophen. Stell dir das mal vor, Tante Gerdje, sechs Strophen! Wenigstens ist es spannend, glaube ich. Es handelt von einem Schiff, das untergeht, mit Menschen drauf. Das heißt Nils Rannda oder so ähnlich.«
»Nis Randers«, verbesserte ihn Eva sofort. Sie war die Bessere in Deutsch, wogegen ihr Bruder in allen Mathefragen zu Hause war. »Krachen und Heulen und berstende Nacht, Dunkel und Flammen in rasender Jagd – ein Schrei durch die Brandung«, Eva hatte sich auf die Eckbank gestellt und deklamierte mit lauter Stimme.
»Aus, Schluss!« Benni hielt sich die Ohren zu. »Lass uns lieber in den Garten gehen und Tante Gerdje helfen«.
Die aber schüttelte den Kopf. »Nichts da, ihr macht Hausaufgaben, ich klare die Küche auf, dann höre ich euch ab, und dann könnt ihr mit Onkel Hinnerk ins Watt. Mein Unkraut gehört mir, da hat kein anderer was dran zu zupfen.«
Benni lachte: »Ist doch klar, wir wollten dich auch nur ein bisschen ärgern. Jeder weiß, dass man in deinen Garten nicht rein darf.«
»Genau so ist das. Mein Garten – mein Heiligtum. Bis auf die Liegewiese. Die ist für alle da. Sogar für unsere Gäste.« Nun musste sie doch lachen, besonders wenn sie an ihre Lieblingswerbung im Baltrum-Prospekt dachte. ›Sonnige Liegewiese‹ stand da immer wieder, und stets fragte sie sich, was der Vermieter wohl machte, wenn die Sonne gar nicht schien, der Gast aber ebendiese ›sonnige Liegewiese‹ einforderte. Solarien aufstellen vielleicht?
»Aber erst einmal werde ich gleich eure Mutter besuchen. Ich muss noch eine Kleinigkeit einkaufen. Also dann, an die Arbeit.« Sie stand auf und räumte das Geschirr vom Tisch auf die dunkelbraune Arbeitsplatte, der man die vielen Jahre des Gebrauchs ansehen konnte. Immerhin hatte Hinrich trotz seines Geizes kapituliert, nachdem Gerdje das Abwaschen des morgendlich anfallenden Geschirrs der Frühstücksgäste von ihm verlangt hatte. »Falls es dein Rücken zulässt«, hatte sie sanft gesagt. Eine Woche später hatte er die Spülmaschine einbauen lassen und konnte wieder seine Rückenschmerzen pflegen.
Nachdem sie ihre Küche so gut es ging auf Hochglanz gebracht hatte, schnappte sich Gerdje ihr Fahrrad, um ihren Einkauf zu erledigen.
Auf der Höhe des Deichschartes beim Haus Oase kam ihr Olga Nammen entgegen. Gerdje stöhnte innerlich auf. Das konnte eine lange Viertelstunde werden.
»Hallo Gerdje, na wo geiht?«, tönte Olgas lautes Organ über den Hellerweg. »Willst einkaufen?«
»Nee, den Hund ausführen«, rief ihr Gerdje entgegen, was Olga abrupt vom Fahrrad springen ließ.
»Hund?«, rief sie und schaute sich verwirrt um. »Ich seh’ keinen Hund. Weiß Hinrich das?«
»Erstens: War’n Scherz. Zweitens: Is mir völlig egal. Sonst noch was?«
Olga Nammen atmete erleichtert aus. »Gott sei Dank, hatte schon Angst … Wieso, völlig egal? Dann ist dir wohl auch plötzlich egal, dass du deinen heiß geliebten Bunker wieder an die Gemeinde zurückgeben musst?«
Gerdje merkte förmlich, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Kurz meinte sie, ohnmächtig zu werden. Gleichzeitig sah sie ein hämisches Grinsen in Olgas Gesicht aufleuchten.
»Bunker? Was soll das? Außerdem ist das kein Bunker, sondern ein alter ausgedienter Flakstand aus dem letzten Krieg.«
»Nun tu man nicht so gelehrt, Gerdje, das weiß ich auch. Aber wir haben da ja immer Bunker zu gesagt. Und ändern tut das auch nichts an der Sache, oder?«
Gerdje bemühte sich verzweifelt um Fassung. Olga mochte eine Tratschtante sein, aber meistens steckte ein wahrer Kern in ihren Sprüchen. Jetzt nur keine Schwäche zeigen. Nur keine Neugier.
»Wenn du gar nicht wissen willst, wieso ich das weiß, dann ist es dir ja wohl wirklich egal, oder?« Olga Nammen schaukelte fröhlich mit ihrem Oberkörper hin und her.
Noch einmal ›oder‹ und ich brech ihr das Genick, dachte Gerdje.
»Also, das war so. Dein Hinrich war am Strand. Wie jeden Tag. Und mein Okko auch. Auch wie jeden Tag. Irgendwann kamen die beiden ins Gespräch – wie jeden Tag …«
Gerdje verdrehte die Augen.
»Und dann hat dein Hinrich meinem Okko erzählt, dass er beschlossen hat, den Pachtvertrag mit der Gemeinde über den Flakstand« – das letzte Wort betonte Olga deutlich – »nicht mehr zu verlängern. ›Ihre drei Schaufeln kann Gerdje bei uns in den Keller stellen. Kostet all’ns bloot Geld.‹ Hat er zu Okko gesagt. Und dass er zum nächsten Ersten kündigen will. Da hab ich aber gleich zu Okko gesagt: ›Wenn das man Gerdje recht ist. Die hängt da doch so dran. An dem Flakstand und ihrem Garten, wo sie doch extra die Tür von dem Unterstand so bunt angemalt hat.‹«
Gerdje war wie vor den Kopf geschlagen. Kaum hörte sie noch die Worte, die unablässig aus Olgas Mund zu sprudeln schienen. »Gerdje, Gerdje, alles klar mit dir? Du süchst ja richtig krank ut. Mach doch wohl all’ns nicht stimmen. Vielleicht habe ich das auch nur verkehrt verstanden. Mensch, Gerdje, nun warte doch eben.«
Aber Gerdje hatte sich auf ihr Fahrrad gesetzt und sauste wie von Furien gehetzt los, immer die Hellerstraße entlang, am Spielteich vorbei bis kurz vor das Hotel Fresena. Im scharfen Bogen lenkte sie ihr Rad durch das Deichschart geradeaus bis zur Schule und ohne rechts oder links zu schauen direkt über die Kreuzung bis zum Insel-Markt. Dann weiter auf den Weg, der unterhalb der Randdünen entlang führte. Zwei Mal war sie knapp davor, einen der Fußgänger zu überfahren, die auf dem Weg zum Strand waren.
Plötzlich versagten ihr die Beine. Gerade schaffte sie es noch, das Fahrrad in die dichten Büsche zu werfen, die den Weg einrahmten, und zu Willys Utkiek hoch zu laufen. Schwer atmend fiel sie auf eine der hölzernen Bänke. Sie presste beide Hände zur Faust geballt auf ihre Brust. Seitenstiche drohten ihr den Atem zu nehmen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Würde er das wirklich tun? Ohne sie zu fragen? Er wusste es doch. So vernagelt konnte er nicht sein. Selbst wenn er sich die letzten Jahre für nichts mehr interessiert hatte, was seine Frau anging. Er konnte es einfach nicht vergessen haben. Er wusste, wie sehr sie ihren Garten unterhalb der großen Düne liebte. Ihr Garten, der genau an die hohe Düne grenzte, in die die Flakstation damals kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eingebaut worden war.
Nach dem Krieg hatte der Raum jahrelang leer gestanden, bis ihre Eltern ihn gepachtet hatten, um Gartengeräte unterzubringen und alles, was sie gerade nicht benötigten. Als dann an Stelle des alten Insulanerhauses das neue gebaut wurde und Gerdje und Hinrich es irgendwann mitsamt den Gästen übernahmen, war der Pachtvertrag einfach weitergelaufen. Jahr für Jahr hatte Gerdje zwischen dem Haus und der Düne an ihrem Garten gearbeitet. Geschuftet hatte sie. Mutterboden mit dem Sandboden gemischt. Sträucher und Stauden angepflanzt. Wege gezogen und alles mit einer Eibenhecke eingefasst. Sicher gab es Insulaner, die meinten, dass ein parkähnlicher Garten für Baltrum untypisch sei. Sie aber hatte sich davon nicht abbringen lassen. Gerdje hatte sich mit dem Garten einen Traum erfüllt. Und am Ende des Gartens lag unterhalb der Düne der Geräteschuppen, der nun nicht mehr ihrer sein sollte.
Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie merkte nicht einmal, dass zwei Gäste den Weg heraufkamen, sie neugierig und verwundert anschauten und dann auf der anderen Seite wieder verschwanden. Und dann war da noch … Nein, sie konnte es nicht zulassen. Sie würde es ihm verbieten. Schlichtweg verbieten. Immerhin hatte sie das ganze Anwesen mit in die Ehe gebracht. Er hatte sich in seinem ganzen Leben nicht um den Garten und den Flakstand gekümmert. Sie konnte die beiden Räume, die vor langer Zeit in den Fuß der Düne gegraben worden waren, nicht aufgeben. Sie konnte einfach nicht.
Langsam ließen ihre Seitenstiche nach und ihr Blick suchte das Wasser. Unaufhörlich rollten die Wellen an den Strand. Wie im richtigen Leben, dachte sie. Es geht immer weiter, mal oben, mal unten, und immer muss man rudern, um das Gleichgewicht zu halten, nicht unterzugehen. Und irgendwann kommt die letzte Welle und rollt im weichen Strandsand aus.
Langsam liefen ihr Tränen über die Wangen und tropften auf ihre Hose. So saß sie eine lange Zeit und dachte nicht mehr an ihren Einkauf.