Читать книгу Baltrumer Dünensingen - Ulrike Barow - Страница 5
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ОглавлениеAndrea Burgat atmete tief durch, schlug die Mappe zu und warf einen letzten Blick auf das Plakat. »Was jetzt nicht klappt, klappt gar nicht.«
Ihre Kollegin lachte. »Es wird alles funktionieren. Schließlich sind Profis am Werk.«
»Na dann. Die Partys können steigen.« Aber nun war erst einmal Feierabend. Am Montag begann die Woche 77. Die Idee war am Stammtisch entstanden, wie Karsten gerne zugab. Karsten – ihr Freund seit Anfang des Jahres. Er hatte ihr den Job bei der Kurverwaltung beschafft, und ihre erste große Aufgabe war es tatsächlich gewesen, den Rückblick zu organisieren. Es war intensive Recherche ihrerseits vorausgegangen. Schließlich war sie erst seit einem Dreivierteljahr auf der Insel und hatte Ende der 70er noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt. Stunden hatte sie im Zollhaus, dem Sitz des Heimatvereins, verbracht, auf der Suche nach dem Leben auf der Insel vor mehr als 40 Jahren. Dann hatte sie alte Insulaner befragt und festgestellt, wie viel Spaß ihr diese Aufgabe machte.
Eine völlig andere Welt – in vielen Dingen. Und doch war diese Zeit eigentlich gar nicht so lange her.
Sie verließ ihr Büro im Rathaus und fuhr nach Hause. Auf halber Strecke fiel ihr ein, dass sie im Hotel Sonnenstrand eine Frage loswerden musste. Sie bremste, stellte ihr Fahrrad am Zaun ab und sah Henning Ahlers auf der Terrasse. Prima, so brauchte sie nicht lange in dem großen Haus nach ihm suchen. Sie winkte ihm zu. »Herr Ahlers. Haben Sie einen Moment?«
Er versorgte seine Gäste mit Kaffee und Kuchen, wechselte ein kurzes Wort mit ihnen und kam zu ihr. »Was gibt es?«, fragte er lächelnd. »Fällt unsere Retrowoche aus?«
Beruhigend schüttelte sie den Kopf. »Ich wollte nur wissen, ob mit den Emilys alles klar geht. Einer der Jungs hatte sich bei mir gemeldet und mich vorgewarnt wegen eines Erkältungsanfluges.«
»Die Jungs sind fit. Max hat mir eine Nachricht geschickt. Darin stand auch, dass, wenn er nicht kann, sein Bruder einspringt. Auch der ist begeisterter Elvis-Fan«, erklärte Henning Ahlers. »Singen kann er ebenfalls.«
»Dann ist alles klar. Der Auftritt der Band wird Dienstag im Haus des Gastes sein. Die Leute vom Bauhof nehmen morgens die Bestuhlung raus. War gar nicht so einfach, die davon zu überzeugen, aber das Volk braucht Platz zum Tanzen. Und die Zelte stehen uns erst ab Freitag zur Verfügung.«
»Bei mir im Gartenhaus können die Jungs wieder üben. Das hat im letzten Jahr wunderbar geklappt. Und am Mittwoch ist bei mir im Clubraum noch einmal Elvis-Gedächtnisparty. Schließlich ist das der Todestag des großen Meisters.«
Andrea zögerte. »Sie meinen wirklich, dass das keine Konkurrenz zum Theaterstück ist?«
Für den Abend hatte die Baltrumer Theatergruppe kurzfristig, mit großem Einsatz, ein plattdeutsches Stück einstudiert. Wenn de Hahn kreiht von August Hinrichs.
Der Hotelbesitzer schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht. Das ist ein ganz anders Publikum, und so viele passen in den Klubraum gar nicht rein. Es werden wohl überwiegend Hotelgäste sein.« Er lachte. »Denen bleibt gar nichts anderes übrig, so laut, wie die Jungs spielen werden. Aber da müssen die Gäste durch.«
»Super. Dann passt alles. Wir bleiben in Kontakt.« Sie sah, dass einer der Gäste nach dem Chef des Hotels verlangte, und nahm ihr Rad. Jetzt gemütlich ein Tässchen Tee mit Karsten hier auf der Terrasse, dazu ein leckeres Stück Kuchen, damit könnte sie leben. Aber Karsten hatte bereits morgens beim Frühstück angekündigt, dass er sie dringend im Garten brauchte. Seit zwei Monaten wohnten sie zusammen. Also fast. Sie hatte das Zimmer, das ihr die Gemeinde zur Verfügung gestellt hatte, nicht aufgegeben, obwohl man sie schon eindringlich darum gebeten hatte. Wenn sie sich kaum darin aufhielt, könnte sie es auch anderen zur Verfügung stellen, hatte ihr Chef gesagt. Aber sie war sich nicht sicher, brauchte ab und zu einen Ort zum Luftholen, wenn Karsten mal wieder über die Stränge schlug. Nein, sie bezahlte ihre Miete pünktlich, und alles andere war ihre Sache. Karsten musste auch an diesem Nachmittag ein wenig warten. Bevor sie zu ihm fuhr, wollte sie in Ruhe mit ihrer Freundin telefonieren. Die nächste Woche war voll mit Terminen, da war ein längeres Gespräch nicht drin.
Am Donnerstag stand die Wahl der Miss Baltrum an, und Freitag war Party im Festzelt. Natürlich hätte sie gerne in der Kajüte, im Inselkeller oder im Kiek Rin gefeiert. Alles Kneipen, in denen viele Jahre der Bär losgewesen war. Aber sie waren nicht mehr für den Publikumsverkehr geöffnet. So hatten sie sich auf eine Zeltfete geeinigt. Am Freitag und Samstag würde DJ Freddy auflegen. Als das Programm veröffentlicht worden war, hatten unendlich viele Insulaner sie darauf mit einem Leuchten in den Augen angesprochen. »Noch einmal so wie früher«, war der häufigste Satz gewesen. Aber nicht nur Insulaner, auch Gäste, die die Ankündigung im Veranstaltungskalender gelesen hatten, hatten sich gemeldet und ihr so manches Erlebnis aus der Zeit Ende der 70er erzählt.
Natürlich wurde auch für die Kinder etwas geboten. Ein Lampionumzug war für Freitagnachmittag vorgesehen und am Samstag ein Kinderfest mit Sackhüpfen am Strand. Nicht zu vergessen das Dünensingen für Große und Kleine. Das war damals beliebt und eine der wenigen Veranstaltungen, die bis heute großen Zuspruch fand. Wie immer wurde dazu die Mundorgel benötigt, das kleine rote Liederbuch, das es bereits seit über 50 Jahren gab, aber das sie zum ersten Mal gesehen hatte, als sie ihren Job auf der Insel antrat.
»Na, Feierabend?«, hörte sie eine kratzige Stimme vom Nachbargrundstück, als sie die Gartenpforte öffnete.
Es war Hilko Tebben, ihr Nachbar, der sein Haus schon vor Jahren seinem Sohn übergeben hatte und nun gerne neben der Haustür auf der Bank saß und die vorbeiziehenden Menschen in eine Unterhaltung verwickelte. So gerne, dass ihr inzwischen bereits etwas fehlte, wenn er sie nicht nach der Arbeit begrüßte. Sie winkte rüber und nickte freundlich. »Alles geschafft«, war ihre beinahe stereotype Antwort.
»Geht es mit der Elvis-Woche voran?«, rief er herüber.
Andrea atmete tief durch. Zu Anfang hatte sie es für eine gute Idee gehalten, sein Wissen um die 70er anzuzapfen. Inzwischen bereute sie fast, ihn eingebunden zu haben. Er ließ einfach nicht locker, wollte jeden Abend einen Zustandsbericht. »Es läuft. Auch die anderen Veranstaltungen. Die Gäste können anreisen«, rief sie.
»Da muss ich dir noch was erzählen. Komm mal rüber.«
Das hatte ihr gerade gefehlt. Sie wollte duschen und sich dann auf die Couch kuscheln. Oder höchstens mit Karsten im Garten arbeiten. Was sie auf gar keinen Fall anstrebte, war ein nicht enden wollendes Gespräch mit Hilko Tebben. Aber was blieb ihr übrig als gute Nachbarin? Außerdem hatte sie ihn gebeten, an einem der Tage im Kinderspielhaus einen Vortrag über die Zeit damals zu halten. Sie war sicher, dass sich eine Menge Gäste dafür interessierten. Und erzählen konnte der Mann. Ausführlich. Sie ging zu ihm.
»Nur ganz kurz«, begann er.
Sie musste grinsen. Das wäre das erste Mal, dass dieser Mann sich kurzfasste.
»Als du eben sagtest, die Gäste könnten kommen, fiel mir etwas ein, was ich den Leuten über die Vermietung damals erzählen könnte.«
»Hilko! Hilko! Abendessen ist fertig!«
Andrea atmete auf. Peteda Tebben war aufgetaucht, mit kurzen hellgrauen Locken, die Hände in der Kittelschürze. »Hältst du die arme Frau wieder auf?«
Hilko Tebben drehte sich um. »Was du immer hast. Andrea hatte eine Frage, und ich habe sie beantwortet.« Er zwinkerte Andrea zu, was auch Peteda nicht entging.
»Dann gehe ich mal.« Andrea stand auf. »Lasst es euch schmecken.«
»Bis morgen«, rief Hilko hinter ihr her. »Und mit meinem Vortrag, das geht klar.«
Eines war sicher: Was auch immer der nächste Tag und alle folgenden brachten, ihrem Nachbarn würde sie nicht entkommen können. Vielleicht sollte sie doch zu Karsten ziehen.