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Sigmar Benedikt genoss den Tag. Gerade erst hatte er sich von seinen neuen Bekannten verabschiedet, nachdem sie jede Menge Erinnerungen ausgetauscht hatten. Wobei Hans und Marga natürlich die Entwicklung des Lebens auf der Insel genau begleitet hatten. Sie hatten nicht ein Urlaubsjahr ausgelassen, nachdem sie Anfang der 70er das erste Mal hier gewesen waren. Die beiden kannten jeden Strauch und jeden Stein. Keine Familiengeschichte war ihnen fremd, und sie erzählten gerne. Sigmar musste innerlich lachen, als er am Schwimmbad vorbeikam.

Hans und Marga waren damals zum Nacktbaden ins Wellenbad gegangen. »Die Vorhänge wurden zugezogen vor den großen Fenstern«, beschrieben sie. »Da war immer gut was los.«

Die Zeiten waren vorbei. Aber das störte ihn nicht. Schwimmen war nicht seine Leidenschaft, ob nun mit Badehose oder ohne. Ganz im Gegensatz zu Ulf. Der hatte sich nur kurz im Strandcafé aufgehalten, dann seine Tasche genommen und war zum Strand gegangen. Sigmar war schnell klar gewesen, dass sich Ulf für die Erinnerungen aus früheren Zeiten nicht interessierte. Warum auch? Für ihn war die Insel Neuland. Es hatte sowieso größerer Überredungskunst seinerseits bedurft, Ulf mit auf die Insel zu bekommen. Aber letztendlich hatte er eingewilligt unter der Voraussetzung, dass er sich nicht ständig alte Geschichten anhören musste.

In Höhe des Hotels Seehof kam ihm Bernd, der Dritte im Bunde, entgegen. Auch er war der Runde ferngeblieben. Er begrüßte ihn freundlich, aber Bernd nickte nur kurz und ging weiter. Marga hatte erzählt, dass Bernd morgens immer etwas verschlafen auftrat, wobei Sigmar feststellte, dass es eigentlich bereits Mittag war. Er beschleunigte seine Schritte. Er musste sich ein wenig beeilen, wenn er den Auftritt der Gitarrengruppe miterleben wollte.

Tatsächlich hörte er bereits fröhlichen Gesang, als er das Heimatmuseum erreichte. Wie gut, dass Ulf nicht bei ihm war. Das wäre gar nichts für seinen Mann gewesen. Er holte sich ein Bier und setzte sich ins Gras. Die Gedanken sind frei. Waren sie das wirklich? Durfte man ihnen erlauben, frei zu sein? Was würde dann passieren? Dass sich zum Beispiel der Gedanke den Weg bahnte, ob er mit Ulf den Rest seines Lebens verbringen wollte. Nicht, dass er ihn nicht liebte. Aber er hatte in letzter Zeit immer häufiger das Gefühl, dass Ulf von ihm genervt war. Die Pflege des Terrariums, die Spaziergänge auf Harriersand, der Insel in der Weser, die Theaterbesuche in Bremen, all das, was ihnen einmal Spaß gemacht hatte, begleitete Ulf inzwischen mit einem müden Lächeln. Er hatte sich bis jetzt nicht getraut zu fragen, was Ulf am gemeinsamen Leben störte. Aber spätestens, wenn sie wieder zu Hause waren, dann … Er nahm es sich fest vor.

Unter kräftigem Beifall verneigten sich die Damen. War das schon das Ende? Nein.

Eine der Sängerinnen blickte freundlich in die Runde. »Meine Damen und Herren, danke für den Applaus. Zum Abschluss möchten wir ein Lied vortragen, das die Gitarrengruppe nie gesungen hat, obwohl es 1977 ein großer Erfolg war. Nämlich Himbeereis zum Frühstück von Hoffmann&Hoffmann. Gerne hätten wir einen Elvis-Song eingeübt, aber das haben wir uns auf die Schnelle nicht getraut. Außerdem werden Sie in den nächsten Tagen mehr von diesem begnadeten Sänger hören. Denn morgen treten die Emilys im Haus des Gastes auf. Und am Donnerstag um 18 Uhr treffen wir uns alle zum Singen im Dünental bei der Katholischen Kirche. Dass mir keiner fehlt! Und wenn Sie bis dahin nichts vorhaben, dann schauen Sie sich heute Abend bei uns den Film Baltrum in alten Zeiten an. Sie werden staunen, wie sehr sich das Leben auf der Insel in den letzten Jahren verändert hat.« Schon setzten die Gitarren ein.

Sigmar blieb sitzen, bis das Lied zu Ende war, trank den Rest Bier und beschloss, den Ausstellungsräumen einen Besuch abzustatten.

»Sigmar? Bist du das?«

Vor ihm stand eine der Sängerinnen. Es dauerte ein paar wackelige Momente, bis er aufrecht stand. Seine Beine weigerten sich, die gemütliche Ruheposition aufzugeben. Aufmerksam schaute er die Frau an, dann lächelte er. »Inselkeller?«

»Genau. Meta. Ich habe damals hinter der Theke gestanden und euch mit Bier versorgt. Dich und unseren DJ Freddy. Und das den ganzen Sommer lang.«

Langsam kam die Erinnerung. Aber konnte es wirklich sein, dass das blonde schlanke Mädchen mit dem Dauerlachen im Gesicht jetzt hier als ältere Dame mit in Tracht gehülltem kräftig gebautem Körper vor ihm stand? Schmerzhaft erkannte er, dass auch an ihm 40 Jahre nicht spurlos vorübergegangen waren. Damals hatte er beim Kauf einer Hose nicht nach Größe 56 fragen müssen.

»Aber wieso weißt du nach so langer Zeit meinen Namen?«, fragte er verblüfft. »Und dass du mich wiedererkannt hast, finde ich auch bemerkenswert.«

»Na, immerhin hast du mich auch gleich in den Inselkeller verortet. Ich denke, es ist deine blonde Locke. Ich habe später nie wieder einen Menschen gesehen, dem eine blonde Locke fast bis in die Augen fällt. Heute wie damals.«

Klar. Die Locke war sein Markenzeichen. Er war genaugenommen sogar ziemlich stolz darauf. Ulf hatte einige Male schon vorgeschlagen, sie abzuschneiden. Aber er hatte sich strikt geweigert.

»Außerdem habe ich in den ganzen Jahren, glaub es oder nicht, kaum jemanden getroffen, der Sigmar heißt. Ein seltener Name.«

Das war ihm nie aufgefallen, aber sie mochte wohl recht haben. »Was machst du, wenn du nicht gerade singst? Vermietest du?«

»Ich betreibe die Galerie Eiland. Schau mal rein. Der Künstler, den ich momentan ausstelle, ist im Laden. Meine Schwester Änne, an die du dich vielleicht auch erinnerst, betreibt das Haus. Wo wohnst du?«

»Bei Flegels im Haus Emma. Mein Mann und ich bleiben eine Woche«, erklärte er.

»Dann sehen wir uns bestimmt. Ich muss zurück zu meinem Stand.«

Ehe er etwas fragen konnte, war Meta verschwunden. Er brachte sein Glas zurück und schlenderte durch die Ausstellung.

Immer wieder blieb er stehen, wenn bei dem Anblick der Exponate Erinnerungen wach wurden. Er musste unbedingt in Erfahrung bringen, ob Freddy auf der Insel geblieben war. Aber das würde er schon herausfinden.

Er verließ den Bummert. Das Wetter zeigte sich an diesem Tag von seiner besten Seite. Ein kleiner Spaziergang würde jetzt guttun. Er ging am Nationalparkhaus vorbei und hinter dem Restaurant Witthus wieder ins Dorf. Da waren die Inselglocke und gleich daneben die alte Kirche. Nur die Feuerwehr schien den Standort gewechselt zu haben. Das Haus neben der Kirche hieß jetzt Alte Schule. Er folgte der Straße, wich einem Pferdewagen aus und bog mal links und mal rechts ab. Dann sah er hinter einer großen Schaufensterscheibe mehrere Bilder. Ob das Metas Galerie war? Ein Bild fiel ihm besonders auf. Es erinnerte ihn an den Blick, den er erst vor ein paar Wochen wieder erlebt hatte, als er mit Ulf an den Weserdeich gefahren war. Damals war Ulf sogar gerne mitgekommen. Er öffnete die Tür und grüßte mit einem freundlichen »Moin«. Doch eine Antwort blieb aus.

Er schaute sich die anderen Bilder an. Es waren überwiegend Aquarelle, aber auch einige Kohlezeichnungen, die ihm jedoch ziemlich nichtssagend erschienen. Nach ein paar Minuten hatte er alles gesehen und überlegte, ob er einfach wieder gehen und den Laden allein lassen konnte. Aber letztendlich ging es ihn nichts an, wenn der Künstler meinte, mal eben auf ein Mittagessen zu verschwinden. Oder war er unterwegs, um einen Besen zu holen? Mitten im Raum lagen Pappröhrchen und drumherum war der Boden mit schwarzem Staub bedeckt. Ein weiteres Mal machte er sich bemerkbar, doch vergebens. Er warf einen letzten Blick auf das Bild mit dem Blick über die Weser. Ulf hatte in drei Wochen Geburtstag. Er konnte sich gut vorstellen, das Bild als Geschenk über der Anrichte im Esszimmer aufzuhängen. Gab es eine Signatur? Er schaute genauer und erstarrte. Ausgerechnet Peter Wurzellage? Dieser vollblöde Idiot, mit dem er vor einiger Zeit heftig aneinandergeraten war? Der Mann, der sich selbst als den besten Künstler der Gegenwart bezeichnete? Der Mann wohnte in Brake, dem gleichen Ort, in dem auch Ulf und er lebten. Er, Sigmar, hatte bis zur Rente bei der Stadtverwaltung gearbeitet. Eines Tages war Wurzellage dort mit wehendem Mantel, ohne zu klopfen, in sein Büro gerauscht und hatte sich beschwert, dass man seinem Auto einen Strafzettel unter die Scheibenwischer geklemmt hatte. Sigmar wusste mit der Situation nichts anzufangen, war er doch beim Einwohnermeldeamt beschäftigt. Das war Wurzellage jedoch völlig egal. Der Mann hatte einfach die erste Tür im Rathausflur geöffnet, und das war dummerweise seine gewesen. Wurzellage baute sich vor dem Schreibtisch auf und hielt eine flammende Rede über die Freiheit der Kunst und die Beugung des Rechts. Er bestand darauf, dass genau dort, wo er sein Fahrzeug abgestellt hatte, nirgendwo ein Hinweisschild auf ein Park- oder Halteverbot hinwies. Er wetterte so lange, bis Sigmar einen Anruf tätigte und zwei seiner Kollegen erschienen, die sich mit solchen Fällen auskannten. Sie hatten den Mann ohne große Umstände vor die Tür gesetzt. Beim Abendessen mit Ulf hatte Sigmar erst einmal seinen Ärger rausgelassen. Es geschah immer häufiger, dass er sich Konfrontationen ausgesetzt sah und hatte kaum sein Leben als Rentner erwarten können. Er war froh, als er endlich morgens nicht mehr ins Büro fahren musste. Der Name Wurzellage verfolgte ihn jedoch immer wieder, brachte die Heimatzeitung doch gerne Berichte über ihn. Mal positiv, meist negativ. Besonders, wenn er wieder einmal zig Fotos von Nummernschildern bei der Polizei abgegeben hatte, um Falschparker anzuzeigen. Dieses Hobby hatte er sich offensichtlich ausgesucht, nachdem er selbst bei dieser von ihm bestrittenen Ordnungswidrigkeit erwischt worden war. Aber das war Geschichte. Das Aquarell gefiel ihm trotzdem. Ein letzter Versuch. Im hinteren Teil des Ladens bemerkte er eine halbgeöffnete Tür. Ob sich der Künstler dort verschanzt hatte?

Vorsichtig schob er die Tür auf. Er erkannte ihn sofort. Es war Wurzellage, der in dem Bürosessel saß, nein, eher lag, den Kopf nach hinten geklappt und mit offenen Augen an die Decke starrend. Was war mit dem Mann los? »Herr Wurzellage, hören Sie mich?« Er reagierte nicht. Er ging zu ihm, sprach ihn eindringlich ein weiteres Mal an und griff nach seinem Arm. Im gleichen Moment kippte der Kopf des Mannes nach vorne und der Körper rutschte, ohne dass Sigmar ihn halten konnte, vom Sessel. Mit einem hellen Knacken schlug das Gesicht auf den Fußboden.

Sigmar kniete sich neben ihn, fühlte, ob die Halsschlagader pulsierte, doch er spürte nichts. Aufgeregt wollte er nach seinem Telefon greifen, doch schnell merkte er, dass er es nicht eingesteckt hatte. In der kurzen Sommerhose war für das Teil einfach kein Platz gewesen. Er blickte sich um und tatsächlich sah er auf dem Schreibtisch ein ganz altertümliches grünliches Gerät mit Wählscheibe stehen. Er griff nach dem Hörer und wählte die 112, doch es erfolgte keine Reaktion. Das Einzige, was er hörte, war, dass die Ladentür schlug. Er warf den Hörer zurück auf den Schreibtisch mit der Folge, dass das Telefon mit lautem Scheppern auf den Boden fiel. Er kniete sich erneut neben Wurzellage und versuchte, seinen Puls zu ertasten.

»Helfen Sie mir«, rief er angespannt, »hier ist ein Notfall!«

»Sigmar?« Ulf stand vor ihm, das Gesicht schlagartig weiß und angespannt.

»Ruf den Notdienst«, stieß Sigmar hervor.

Nervös zog Ulf sein Handy aus der Hosentasche und gab die Meldung durch, dann steckte er es mit zitternden Fingern wieder ein. »Die Ärztin kommt.« Er zögerte einen kurzen Moment, dann fragte er: »Hast du mir nichts zu sagen? Das ist doch dein Lieblingsfeind da unten.«

»Er saß auf dem Stuhl, dann ist er runtergerutscht.«

»Aber warum? Hast du dafür gesorgt, dass …?«

»Aber …« Er kam nicht dazu zu antworten, denn wieder öffnete sich die Tür, und gleich darauf stand ein Polizist im Raum.

»Was ist hier los?« Seine Stimme klang scharf. »Treten Sie zurück!«

Sigmar stolperte beinahe über das Telefon, als er der Anweisung des Polizisten Folge leistete. »Es ist nicht so, wie Sie denken«, stotterte er.

»Ich glaube nicht, dass Sie wissen, was ich denke«, antwortete der Polizist nachdrücklich. »Die Ärztin und mein Kollege werden gleich hier sein. Solange bleiben Sie stehen, wo Sie sind. Beide.«

Sigmar merkte eine kolossale Wut in sich aufsteigen. Wieso war er immer der Blödmann? Selbst jetzt, da Wurzellage tot war, wenn er denn tot war – er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, es genau festzustellen – gab es andere, die meinten, über ihn bestimmen zu können. »Wenn die Ärztin kommt, ist es gut. Dann kann ich gehen. Lassen Sie mich durch.«

»Sie bleiben, wo Sie sind. Wenn Sie das nicht verstehen, fixiere ich Sie auch gerne am Tischbein. Sie haben die Wahl!«

Was bildete sich dieser Kerl ein? Wie hieß der Kaugummi kauende Jungspund eigentlich? Er hätte sich zumindest mal vorstellen können. »Zeigen Sie mir bitte Ihren Dienstausweis!«

Der Polizist kam der Aufforderung sofort nach. »Daniel Gebert«, las Sigmar. Na gut. Wenigstens wusste er jetzt, wie er den Mann ansprechen konnte.

»Wie sind Ihre Namen?« Der Polizist nahm sein Handy aus der Tasche.

»Sigmar Benedikt. Und das ist mein Mann Ulf Martens.«

»Kennen Sie den Mann dort?« Gebert zeigte auf Wurzellage.

»Wir kennen ihn. Das heißt, mein Mann kennt ihn«, sagte Ulf. »Er kommt aus Brake, genau wie wir.«

Daniel Gebert horchte auf. »Die Ärztin ist da. Jetzt treten Sie zur Seite. Genau dorthin!« Er zeigte auf einen schmalen Flur, der vom Büro ausging. »Dort warten Sie auf meinen Kollegen.«

»Geht es auch etwas freundlicher?«, murmelte Ulf und schlurfte ganz langsam die drei Meter Richtung Flur, mit gesenktem Kopf an Sigmar vorbei. Der folgte ihm ohne Widerspruch.

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